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Gott ist kein Gentleman
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eBook124 Seiten1 Stunde

Gott ist kein Gentleman

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Über dieses E-Book

Die Welt ist, wie wir selbst, ein Paradoxon, sagt Lotte Ingrisch. Leben und Tod, Tag und Nacht, das Überirdische und das Unterirdische - geheimnisvolle Zwillinge mit einer gemeinsamen Seele. So stehen auch Doppelgänger, Licht-Phänomene und Parallel-Universen im Mittelpunkt dieses Buches, das sich auf namhafte Autoritäten wie Platon, Giordano Bruno,Teilhard de Chardin, Rupert Sheldrake, Erwin Schrödinger u. v. m. beruft. Ingrisch lädt uns ein, die Welt und uns selbst anders zu sehen. Als bunte Einheit, als fröhliches Durcheinander von Lebenden und Toten, Liedern und Formeln.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum3. Dez. 2019
ISBN9783904123136
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    Buchvorschau

    Gott ist kein Gentleman - Lotte Ingrisch

    Individuum

    1

    Die tote Schwester

    Es begann damit, dass eine Unbekannte mir ihre Geschichte erzählte. Sie hatte einen toten und einen lebendigen Zwilling geboren. Der lebendige, jetzt dreizehn, beklagt sich: »Warum schaust du mich nicht an? Warum sprichst du nicht mit mir? Nicht einmal einen Namen hast du mir gegeben!«

    Die Mutter ist irritiert. Ich nicht. Ich werde neugierig. Umso mehr, als der Lebendige behauptet, immerzu bei seinem Namen gerufen zu werden, obwohl gar niemand da ist. Ist gar niemand da? Mir passiert es nämlich auch. »Lotte! Lotte!« Ich schaue mich um und bin allein.

    Bin ich allein? Einmal war ich es nicht. Eine finstere Raunacht vor vielen Jahren. Auf einmal sitze ich mitten in einem Photonenschwarm, aus dem eine Stimme spricht: »Ich bin Isis, deine tote Schwester.«

    Ich habe keine Schwester. Weder lebendig noch tot. Und ist Isis nicht eine Totengöttin? Da war etwas mit Osiris. Während ich versuchte, mich zu erinnern, fiel mir etwas anderes ein. »Dich«, sagte meine Mutter immer, »haben sie vertauscht. Ich habe zwei Kinder geboren, und dann folgte das Spital mir nur eines aus.« War ich in Wirklichkeit vielleicht eine Prinzessin? Allerdings schaue ich meinem Vater ähnlich.

    Nein, keine Prinzessin. Aber wo blieb das zweite Kind? Wurde es entführt? Und dann, Jahrzehnte später, die fremde Stimme: »Ich bin Isis, deine tote Schwester.« Ich schrieb die Geschichte damals, um sie nicht zu vergessen, in eins meiner Bücher. Und vergaß sie. Bis die Unbekannte mir von ihrem Buben erzählte, aus dem der tote Bruder um ihre Aufmerksamkeit bettelte. Erst da keimte ein Verdacht in mir auf.

    2

    Lebt der Tote?

    Ich bin ein Sonntagskind. Sind Sonntagskinder etwas seltsam? Als ich siebzehn war, habe ich mich leidenschaftlich für Zwillingsforschung interessiert. Für ein Mädchen meines Alters ungewöhnlich. Ich ging gern auf Friedhöfen spazieren und machte drei Selbstmordversuche. Freuds Todestrieb?

    Mit fünfzehn erhängte ich mich auf einem Heuboden. Da ich zwei linke Hände habe, ging der Knoten auf, und ich landete, statt im Jenseits, auf dem Stroh. Mit zehn drehte ich den Gashahn auf. Das Telefon läutete. Neugierig auf mein letztes Gespräch, lief ich hin. Es war meine Mutter. Danach hab ich geweint und erbrochen. Mit neunzehn schnitt ich mir die Pulsadern auf, aber falsch. Von links nach rechts – und war immer noch da. Seither ließ ich es bleiben. Selbstmord ist auch eine Frage der Geschicklichkeit. Ich bin total ungeschickt.

    Aber woher kommt meine lebenslange Todessehnsucht? Mit zwanzig hatte ich drei Totenköpfe, einer stand sogar auf meinem Schreibtisch, und verzehrte mich nach einem Gerippe. Verzehrte ich mich nach mir selbst?

    Mit fünfundzwanzig begann ich, Bücher zu schreiben, Tragikomödien, Hör- und Fernsehspiele. Von Anfang an war das Thema meiner Arbeit wie meines Lebens der Tod. Mit ihm wollte ich die Menschen versöhnen, denn es gibt ihn nicht. Der Tod ist ein Märchen. Glaubt es nicht!

    Vor einem halben Jahrhundert schrieb ich den ersten »Reiseführer ins Jenseits« Schreibend betrieb ich weiter ­Bewusstseins-, Sterbe- und Jenseitsforschung. Gründete eine »Schule der Unsterblichkeit«, an der ich bis vor einigen Jahren Seminare hielt.

    Habe ich diese Bücher geschrieben? Die Seminare gehalten? Oder war es Isis, meine tote Schwester?

    3

    Isis

    Wir scheinen eineiige Zwillinge zu sein. Eineiige Zwillinge teilen sich eine Seele. Sind eine doppelte Person. Isis ist tot, und ich lebe.

    Bin ich gleichzeitig lebendig und tot? Ist Isis tot und lebt? Ich rede mit Toten, und die Leute halten mich für verrückt. Ist es Isis, die mit Toten spricht? Die Tote mit Toten. Ich gestehe, dass sie mir immer unheimlicher wird.

    Aber da ist noch etwas. Ich bin nämlich eine Doppelgängerin. Mit zwanzig fing es an. Mein Vater, meine beste Freundin, mein Liebhaber. Sie trafen mich an Orten, an denen ich gar nicht war. Redeten mit mir, ich reagierte nicht. Nahm sie nicht wahr.

    Ich stehe in fremden Schlafzimmern und Küchen. Von Wien bis Australien. Normalerweise allein, aber bei der Schauspielerin Brigitte Holzinger mit meinen sechs Katzen. Damals brannte die Hofburg, ich stand wirklich mit sechs Katzen, aber auf dem Michaelerplatz.

    Und wusste nicht einmal, wo sie – die einmal eine Komödie von mir inszeniert hat – überhaupt wohnt. Ich erscheine Bekannten und Unbekannten. Aber nicht in Jeans und Pullovern, die ich gewöhnlich trage, sondern in schönen langen Kleidern, die ich gar nicht besitze. Ich sitze in Autobussen, obwohl ich daheim bin. Mache Hausbesuche bei Fremden. Und weiß von nichts. Leute schreiben mir. Rufen an. Hunderte Male ist es schon passiert.

    Manchmal rede ich, manchmal nicht. Im Rathaus diskutierte ich über Gott. »Gescheit, was du gesagt hast«, lobt mich der Theaterwissenschaftler Greisenegger. Wolfgang Tuppy (damals unser Wissenschaftsminister) hat es auch gut gefallen.« – »Aber Wolfgang, ich war gar nicht im Rathaus! Wusste auch nichts von einem Kongress.« Er schüttelt den Kopf.

    Womöglich bin ich es gar nicht, die sich überall als ihre eigene Doppelgängerin herumtreibt? Sondern Isis, meine tote Schwester, die mir noch immer gleicht. Altern Tote?

    Ich oder Isis – über meinen Neocortex läuft es jedenfalls nicht. Schade. Ich hätte sonst jede Menge Schabernack getrieben.

    4

    Die doppelte Lotte

    Statt des unterbliebenen Schabernacks schrieb ich ein Buch über Doppelgänger und parallele Universen, dem der Verlag den Titel »Die doppelte Lotte« gab. Darin überlieferte ich alle Geschichten, die ich selbst nicht verstand, mit einem SOS an die Wissenschaft:

    »Gestatten, ich bin ein Riesenteilchen, das gleichzeitig an zwei Orten sein kann. Das heißt, ich bilokalisiere mich seit Jahrzehnten, ohne es allerdings selbst zu bemerken. Eine Verwechslung ist auszuschließen, denn zu den Personen, die mich im zweiten Zustand wahrnahmen, gehörten u. a. mein eigener Vater, Liebhaber, Ehemann. Freunde an verschiedenen Orten. Viel häufiger Fremde, die mich nur aus den Medien kennen und bei denen ich plötzlich im Wohnzimmer oder sonstwo stehe. Halten Sie es für möglich, dass wir a) in verschiedenen Zuständen (Doppelgänger) b) auf verschiedenen Ebenen (Paralleluniversen) existieren könnten?«

    Das schickte ich an berühmte Wissenschaftler, zwölf hielten es für möglich, wahrscheinlich, sicher.

    Ich zitiere nur Helmut Rauch, Univ.-Prof. der Experimentellen Kernphysik an der TU Wien, Atominstitut der Österreichischen Universitäten, Mitglied der Academia Europaea, Deutsche Akademie der Naturforscher, Leopoldura, Halle, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften:

    »Bilokalisation ist gemäß der Quantenphysik durchaus möglich. Wir sprechen von sogenannten ›Schrödinger-­Katzenzuständen‹, wo ein Objekt in zwei Zuständen (lebend oder tot) gleichzeitig sein kann. Wir haben derartige Experimente mit Neutronen durchgeführt und die Vorhersagen voll bestätigt gefunden. Neutronen sind an sich unteilbare Elementarteilchen, können aber in einem Interferometer über zwei weit voneinander getrennte Wege gehen …«

    5

    Ein SOS mit Folgen

    Ich war neugierig auf Professor Rauch. Wir trafen uns und redeten bei einem oder zwei Krügeln Bier über den Tod. Das heißt, ich fragte und fragte, und er antwortete mit einer Engelsgeduld. »Tod ist der stabile Grundzustand. Wird ihm Energie zugeführt, etwa durch ein Lichtquantum oder kosmische Strahlung, wird er zum Leben angeregt.«

    Ich war fasziniert. Wir redeten fünf Jahre lang über Leben und Tod. Und wie beide miteinander verschränkt sind.

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