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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887
eBook330 Seiten15 Stunden

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887

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Über dieses E-Book

Eines der einflussreichsten Bücher des 19. Jahrhunderts ist heute - völlig zu Unrecht - beinahe vergessen: Edward Bellamys "Looking Backward, Or: Life in the Year 2000". | Dutzende spätere Autoren ließen sich von dem Werk inspirieren und schrieben Fortsetzungsgeschichten und Rezensionen. Auch die heute bekanntesten Werke der Gattung utopischer Romane, Orwells 1984 und Huxleys Brave New World sind von Looking Backward deutlich beeinflusst. Genau wie der nur sieben Jahre später erschienene Science-Fiction Roman "Die Zeitmaschine" von H. G. Wells. |
Hier wie dort begibt sich der Protagonist auf Zeitreise - bei Bellamy allerdings nicht durch eine Maschine, sondern durch einen über hundert Jahre währenden Schlaf, in den er versehentlich während einer Hypnose-Sitzung versetzt wird. © Redaktion eClassica, 2017 |

Für die eBook-Ausgabe völlig neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung
SpracheDeutsch
HerausgeberEClassica
Erscheinungsdatum8. Nov. 2017
ISBN9783962559182
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887

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    Buchvorschau

    Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887 - Edward Bellamy

    Vorbemerkung des Herausgebers

    Eines der einflussreichsten Bücher des 19. Jahrhunderts ist heute – völlig zu Unrecht – beinahe vergessen: Edward Bellamys ›Looking Backward, Or: Life in the Year 2000‹.

    Dutzende spätere Autoren ließen sich von dem Werk inspirieren und schrieben Fortsetzungsgeschichten, Rezensionen oder Kommentare. Auch die heute bekanntesten Werke der Gattung utopischer Romane, Orwells ›1984‹ und Huxleys ›Brave New World‹ sind von ›Looking Backward‹ deutlich beeinflusst. Genau wie der nur sieben Jahre später erschienene Science-Fiction Roman ›Die Zeitmaschine‹ von H. G. Wells.

    Hier wie dort begibt sich der Protagonist (Julian West) auf Zeitreise – bei Bellamy allerdings nicht durch eine Maschine, sondern durch einen über hundert Jahre währenden Schlaf, in den er versehentlich während einer Hypnose-Sitzung versetzt wird. Bei seinem Erwachen findet sich West in einer völlig veränderten Welt wieder. Zunächst bemerkt er die klare und reine Luft Bostons – ganz im Gegensatz zur verpesteten Atmosphäre des Jahres 1887, als die industrielle Revolution ihren Zenit erreicht hatte. – Doch auch das politische System hat sich erneuert und erinnert wiederum stark an Thomas Morus’ bereits im Jahr 1516 erschienenen Roman ›Utopia‹: Alle Menschen sind tatsächlich gleichberechtigt, ihre Bildung wird – ob arm oder reich – gleichermaßen gefördert, das Staatswesen ist auf Frieden und Stabilität ausgerichtet, Aggressionen sind verpönt. Auf der andern Seite muss jeder Staatsbürger durch einen begrenzte Zeit dauernden Arbeitsdienst zum Wohle der Gemeinschaft beitragen.

    Erstaunlich sind die visionären technischen Vorgriffe, die Bellamy gelangen: So gibt es in seiner Welt bereits Kreditkarten (tatsächlich erst 1924 eingeführt), und eine Art Music-on-demand-Dienst, der über Telefonleitungen zu den Menschen übertragen wird, und aus dem sich jeder die Musikstücke nach Geschmack auswählen kann.

    Insgesamt strebt Bellamy die Überwindung der sozialen Frage durch Technik an, was sowohl in der sozialistischen Bewegung der damaligen Zeit Diskussionen auslöste (Bellamys Utopie sei nichts weiter als eine fortgeschrittenere Form des Kapitalismus), wie auch auf Seiten der Privilegierten, für die die Chancengleichheit der Menschen überhaupt kein erstrebenswertes Ziel war.

    © Redaktion eClassica, 2017

    Über den Autor: Edward Bellamy (1850–1898) war ein amerikanischer Journalist und Schriftsteller. Auf Wunsch seiner strenggläubigen Eltern hätte er in den Kirchendienst eintreten sollen, entschied sich jedoch für ein Jurastudium. Später wechselte er in den Journalismus und schrieb für diverse namhafte amerikanische Zeitungen und Magazine. Sein erster größeres Werk ›Looking Backward‹ wurde zu einem internationalen Bestseller und erlebte alleine in den USA mehrere Hundert Auflagen. Bei den Lesern stieß das Buch auf enorme Resonanz, so dass sich nach Verbreitung des Werkes mehr als 150 Bellamy-Clubs gründeten, die das Ziel verfolgten, die vom Autor entworfene utopische Gesellschaft zu verwirklichen.

    Vorwort

    Historische Sektion der Shawmut-Universität in Boston, am 26. Dezember 2000.

    Für uns, die wir im letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts leben und uns der Segnungen einer sozialen Ordnung erfreuen, die so einfach und zugleich so logisch ist, dass sie nur der Triumph des gesunden Menschenverstandes zu sein scheint, ist es sicherlich, sofern wir nicht ausgedehnte geschichtliche Studien getrieben haben, schwer uns vorzustellen, dass die gegenwärtige Ordnung der Gesellschaft in ihrer Vollkommenheit weniger als hundert Jahre alt ist. Keine geschichtliche Tatsache ist jedoch besser bewiesen als die, dass es noch bis fast zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts allgemeiner Glaube war, die alte industrielle Ordnung mit allen ihren schlimmen Folgen sei bestimmt, – möglicherweise mit einigen kleinen Ausbesserungen, – bis ans Ende der Tage zu dauern. Wie seltsam und beinahe unglaublich erscheint es, dass eine so wunderbare moralische und materielle Umwandlung wie die, welche seitdem stattgefunden hat, in einem so kurzen Zeitraum hat vollbracht werden können! Die Leichtigkeit, womit die Leute sich, als an etwas Selbstverständliches, an Verbesserungen ihrer Lage gewöhnen, welche, als man zuerst an sie dachte, nichts zu wünschen übrig zu lassen schienen, hätte nicht schlagender bewiesen werden können. Welche Betrachtung könnte besser geeignet sein als diese, den Enthusiasmus von Weltverbesserern zu dämpfen, welche auf die lebhafte Dankbarkeit künftiger Geschlechter rechnen?

    Der Zweck dieses Buches ist, solchen Personen beizustehen, die eine bestimmtere Vorstellung von den sozialen Gegensätzen zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert zu erlangen wünschen, jedoch vor dem trockenen Anblick der Geschichtsdarstellungen, welche den Gegenstand behandeln, erschrecken. Gewarnt durch seine Erfahrung als Lehrer, dass nüchternes Studium für gar ermüdend gilt, hat der Verfasser den belehrenden Ton des Buches dadurch zu mildern gesucht, dass er dasselbe in die Form eines Romans gebracht hat, welcher, wie er gern glauben möchte, auch an sich selbst nicht ohne jedes Interesse ist.

    Der Leser, dem unsere modernen sozialen Einrichtungen und deren zu Grunde liegende Prinzipien etwas so Selbstverständliches sind, mag zuweilen Dr. Leetes Erklärungen derselben ziemlich alltäglich finden; aber man muss dessen eingedenk bleiben, dass sie dem Gaste des Dr. Leete nicht selbstverständlich waren, und dass dieses Buch zu dem ausdrücklichen Zwecke geschrieben ist, den Leser für den Augenblick vergessen zu lassen, dass sie es für ihn sind. Noch ein Wort. Das fast allgemeine Thema der Schriftsteller und Redner, welche diese zweitausendjährige Epoche gefeiert haben, ist die Zukunft und nicht die Vergangenheit gewesen; nicht der Fortschritt, der gemacht worden ist, sondern der Fortschritt, der noch zu machen ist, immer vorwärts und aufwärts, bis das Menschengeschlecht seine unbeschreibbare Bestimmung erreicht hat. Das ist gut, ganz gut; aber es scheint mir, dass wir nirgends einen festeren Grund für kühne Ahnungen menschlicher Entwicklung während der nächsten tausend Jahre finden können, als indem wir auf den Fortschritt der letzten hundert einen »Rückblick« werfen.

    Dass dieses Buch so glücklich sein möchte, Leser zu finden, deren Interesse an dem Gegenstande sie die Mängel der Behandlung übersehen lassen wird, ist die Hoffnung, mit welcher der Verfasser beiseite tritt und Herrn Julian West überlässt, für sich selbst zu sprechen.

    Erstes Kapitel

    Ich erblickte das Licht der Welt in Boston im Jahre 1857. »Was!« sagt der geehrte Leser, »1857? Das ist ein sonderbarer Fehler, er meint natürlich 1957.« Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist kein Irrtum. Es war ungefähr vier Uhr nachmittags am 26. Dezember, einen Tag nach Weihnachten, im Jahre 1857, nicht 1957, als ich zum ersten Male den Ostwind Bostons einatmete, welcher, wie ich dem Leser versichern kann, in jener vergangenen Zeit sich durch die nämliche Ein- und Zudringlichkeit auszeichnete, wie im gegenwärtigen Jahre des Heils 2000.

    Diese Auskunft über meine Geburt wird augenscheinlich jedem so verkehrt vorkommen, zumal wenn ich hinzufüge, dass ich dem Anscheine nach ein Mann von ungefähr dreißig Jahren bin, dass niemand getadelt werden kann, wenn er ohne weiteres ein Buch beiseite legt, welches in so hohem Grade seine Leichtgläubigkeit auf die Probe zu stellen verspricht. Nichtsdestoweniger versichere ich dem Leser in vollem Ernste, dass es nicht in meiner Absicht liegt, ihn zu hintergehen, und ich werde versuchen, ihn davon vollständig zu überzeugen, wenn er mir nur noch eine kurze Weile Gehör gibt. Wenn es mir daher erlaubt ist, auf das Versprechen hin, dass ich meine Aussage rechtfertigen werde, anzunehmen, dass ich besser weiß als der Leser, wann ich geboren bin, so will ich meine Erzählung fortsetzen. Jeder Schulknabe weiß, dass gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts weder eine Zivilisation, wie sie heute vorhanden, noch irgend eine ihr ähnliche, existierte, obgleich die Elemente, durch welche sie entwickelt wurde, bereits in Gärung begriffen waren. Nichts jedoch hatte sich ereignet, die seit undenklichen Zeiten vorhandene Spaltung der Gesellschaft in die vier Klassen – oder Nationen, wie sie schicklicher genannt werden können – abzuändern. In der Tat, die Unterschiede zwischen denselben waren bei weitem größer als diejenigen, welche heut zwischen den Nationen bestehen, die Unterschiede nämlich zwischen den Reichen und den Armen, den Gebildeten und den Unwissenden. Ich selbst war reich und auch gebildet und besaß daher alle Vorbedingungen für das Glück, dessen sich die am meisten vom Schicksal Begünstigten in jenem Zeitalter erfreuten. Ich lebte im Luxus und beschäftigte mich nur mit den Vergnügungen und Annehmlichkeiten des Lebens. Die Mittel zu meinem Unterhalte empfing ich durch die Arbeit anderer, obgleich ich nicht den geringsten Dienst als Äquivalent dafür leistete. Meine Eltern und Großeltern hatten in derselben Weise gelebt, und ich erwartete, dass meine Nachkommen, wenn ich deren hätte, sich einer ähnlichen, leichten Existenz erfreuen würden.

    Der Leser fragt, wie ich denn leben konnte, ohne der Welt irgend einen Dienst zu leisten. Warum sollte die Welt jemanden im Nichtstun unterhalten, der fähig war, Dienste zu leisten? Die Antwort ist, dass mein Urgroßvater eine Summe Geldes aufgespeichert hatte, von welcher seine Nachkommen seitdem stets gelebt hatten. Man wird natürlich schließen, dass diese Summe sehr groß gewesen sein müsse, um nicht durch den Unterhalt dreier nichts tuender Generationen erschöpft worden zu sein. Dies jedoch war nicht der Fall. Die Summe war anfänglich nicht groß gewesen. Sie war tatsächlich viel größer jetzt, nachdem sie drei Geschlechter in Trägheit erhalten hatte, als sie zuerst gewesen war. Dieses Geheimnis eines Gebrauches ohne Verzehrung, einer Wärme ohne Verbrennung, erscheint fast wie Zauberei; aber es war nichts weiter als eine schlaue Anwendung der Kunst, welche glücklicherweise jetzt verloren gegangen ist, von unsern Vorfahren aber zu großer Vollkommenheit gebracht worden war: der Kunst, die Last des eigenen Unterhalts auf die Schultern anderer zu wälzen. Wer dies erreicht hatte, – und es war das Ziel, nach dem alle strebten, – der lebte, so sagte man, von den Zinsen seines Kapitals. Es würde uns zu sehr aufhalten, hier zu erklären, wie die alte Gesellschaftsordnung dies möglich machte; ich will nur bemerken, dass die Zinsen eines Kapitals eine Art beständiger Steuer waren, welche die Geld besitzenden Personen von der Produktion der gewerbetätigen Arbeiter erhoben. Es muss nicht vorausgesetzt werden, dass eine Einrichtung, die so unnatürlich und absurd nach unseren modernen Anschauungen ist, niemals von unseren Voreltern kritisiert worden sei; im Gegenteil, es war seit den ältesten Zeiten stets das Ziel von Gesetzgebern und Propheten gewesen, den Zins abzuschaffen, oder ihn wenigstens zu dem möglichst geringen Fuße herunterzubringen. Alle diese Bestrebungen waren jedoch ohne Erfolg geblieben, wie sie es natürlicherweise mussten, so lange die alte soziale Organisation herrschte. Zu der Zeit, über welche ich schreibe, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hatten die Regierungen meistens den Versuch aufgegeben, diesen Gegenstand überhaupt zu regeln.

    Um dem Leser einen allgemeinen Einblick in die Art und Weise zu geben, wie die Menschen in jenen Tagen zusammenlebten und wie im besonderen die Beziehungen der Reichen und der Armen zu einander waren, kann ich vielleicht nichts Besseres tun, als die Gesellschaft, wie sie damals war, mit einer riesenhaften Kutsche zu vergleichen, vor welche die Massen der Menschen gespannt waren, um sie mühselig auf einer sehr hügeligen und sandigen Straße dahin zu schleppen. Der Kutscher war der Hunger, und er gestattete keine Rast; dennoch kam man nur sehr langsam vorwärts. Ungeachtet der Schwierigkeiten, diese Kutsche auf einer so mühseligen Bahn vorwärts zu bringen, war das Verdeck des Wagens mit Passagieren gefüllt, die niemals abstiegen, selbst nicht an den steilsten Stellen. Die Decksitze waren sehr luftig und angenehm. Sie waren außer Bereich des Staubes, und die Inhaber konnten sich mit Musse der Szenerie erfreuen oder über die Verdienste des sich anstrengenden Vorspannes ihre kritischen Bemerkungen machen. Solche Plätze waren natürlicherweise sehr begehrt, und der Mitbewerb um dieselben war sehr hitzig, da jeder es als seine erste Lebensaufgabe betrachtete, einen Sitz auf dem Wagen für sich selbst zu erlangen und ihn seinem Kinde zu hinterlassen. Nach dem Kutschenreglement konnte jeder seinen Sitz überlassen, wem er wollte; aber andererseits gab es manche Zufälle, durch welche ein Sitz jederzeit völlig verloren werden konnte. Denn obschon diese Sitze sehr bequem waren, so waren sie doch sehr unsicher, und bei jedem plötzlichen Stoße der Kutsche flogen Personen aus ihnen und fielen zu Boden, Wo sie sogleich gezwungen wurden, den Strick zu ergreifen und die Kutsche, in welcher sie noch kurz zuvor so angenehm gefahren waren, fortziehen zu helfen. Es wurde natürlich für ein schreckliches Unglück gehalten, seinen Sitz zu verlieren, und die Besorgnis, dass dies ihnen oder den Ihrigen begegnen könnte, lastete stets wie eine Wolke auf dem Glücke derer, welche fuhren.

    Aber man fragt: Dachten diese Leute nur allein an sich? Wurde nicht gerade ihr Luxus ihnen dadurch unerträglich gemacht, dass sie ihn mit dem Lose ihrer Brüder und Schwestern verglichen, die an den Wagen gespannt waren, oder durch die Erkenntnis, dass ihr eigenes Gewicht zu deren Beschwerden beitrage? Hatten sie kein Mitleid mit ihren Mitgeschöpfen, von welchen nur der glückliche Zufall sie unterschied? O ja; Mitleid wurde oft gezeigt von denen, welche fuhren, für die, welche den Wagen zu ziehen hatten, besonders, wenn er, was immer wieder geschah, an eine schlimme Stelle in der Straße geriet, oder an einen besonders steilen Hügel gelangte. Zu solchen Zeiten boten die verzweifelten Anstrengungen des Vorspannes, das krampfhafte Springen und Zurückfallen der Ziehenden unter den unbarmherzigen Peitschenhieben des Hungers, die vielen, welche ohnmächtig am Stricke niederstürzten und in den Kot getreten wurden, einen sehr peinlichen Anblick, welcher oft höchst anerkennungswerte Gefühlsäußerungen auf dem Verdecke der Kutsche hervorrief. Zu solchen Zeiten pflegten die Passagiere von oben herab ermutigend den sich am Stricke Mühenden zuzurufen, sie zur Geduld zu ermahnen, ihnen Hoffnungen zu machen auf eine mögliche Entschädigung in einer andern Welt für die Mühsal ihres Loses, während andere zusammenschossen, um Salben und Einreibungen für die Verwundeten und Verstümmelten zu kaufen. Man kam darin überein, dass es sehr zu bedauern wäre, dass der Wagen so schwer zu ziehen sei, und ein Gefühl allgemeiner Erleichterung trat ein, wenn das besonders schlechte Stück Weges überwunden war. Dieses Gefühl der Erleichterung war freilich nicht ganz dem Mitgefühl mit den Ziehenden zuzuschreiben; denn es lag ja stets einige Gefahr vor, dass an solch schlimmen Plätzen der Wagen ganz und gar umgeworfen werden und sie alle ihre Sitze verlieren könnten.

    Es muss in Wahrheit zugestanden werden, dass die Hauptwirkung des Anblicks des Elendes der sich am Seile Abmühenden die war, die Passagiere den Wert ihrer Sitze auf dem Wagen noch stärker empfinden zu machen und sie zu veranlassen, sich an dieselben noch verzweifelter festzuklammern. Wenn die Passagiere nur sicher gewesen wären, dass weder sie noch die Ihrigen jemals herunterfallen würden, so ist es wahrscheinlich, dass sie, abgesehen von ihrer Beisteuer zu den Sammlungen für Salben und Bandagen, sich äußerst wenig um die gekümmert haben würden, die den Wagen schleppten.

    Ich weiß wohl, dass dies den Männern und Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts als eine unerhörte Unmenschlichkeit erscheinen muss; aber es gibt zwei Tatsachen, beide höchst merkwürdig, die diese Abgestumpftheit zum Teil erklären. Erstens wurde fest und aufrichtig geglaubt, dass es keine andere Weise gäbe, in welcher die menschliche Gesellschaft vorwärts kommen könne, als dass die Menge an dem Seile zöge und die Wenigen führen, und nicht nur dies, sondern auch, dass selbst keine sehr radikale Verbesserung möglich wäre, weder in Bezug auf das Geschirr, die Kutsche, die Straße, noch in der Verteilung der Arbeit. Es wäre immer so gewesen, wie es war, und es würde immer so bleiben. Es sei zu beklagen; aber es sei nicht zu ändern, und die Philosophie verbiete, Mitleid zu verschwenden an Dinge, für die es keine Abhilfe gibt.

    Die andere Tatsache ist noch merkwürdiger und bestand in einer sonderbaren Einbildung, welche die auf dem Verdecke des Wagens in der Regel hatten: nämlich, dass sie ihren Brüdern und Schwestern, welche an dem Stricke zogen, nicht genau glichen, sondern aus feinerem Ton wären und gewissermaßen zu einer höheren Klasse von Wesen gehörten, welche mit Recht erwarten durfte, gezogen zu werden. Dies erscheint unerklärlich, aber da ich einst selbst in dem nämlichen Wagen gefahren bin und jene Einbildung geteilt habe, so darf man mir schon Glauben schenken. Das sonderbarste bei dieser Einbildung war, dass diejenigen, welche soeben erst vom Boden zu einem Sitze hinaufgeklettert waren, davon ergriffen wurden, bevor noch die Schwielen, die das Seil an ihren Händen verursacht hatte, verschwunden waren. Die Überzeugung derjenigen, deren Eltern und Großeltern bereits so glücklich gewesen waren, ihre Sitze auf dem Wagen zu behaupten, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen ihrer Art des Menschentums und dem gemeinen Artikel bestände, war absolut. Es ist ersichtlich, dass das Resultat einer solchen Einbildung dies sein musste, das Mitgefühl für die Leiden der Masse in ein entferntes philosophisches Mitleid herunterzustimmen. Hierauf berufe ich mich als auf die einzige Entschuldigung, die ich für die Gleichgültigkeit anführen kann, welche in der Periode, über die ich schreibe, meine eigne Stellung zum Elende meiner Brüder kennzeichnete. –

    1887 erreichte ich mein dreißigstes Jahr. Ich war noch unverheiratet, jedoch mit Edith Bartlett verlobt. Sie fuhr, wie ich, auf dem Decke des Wagens, oder mit anderen Worten, – damit wir uns nicht länger mit dem Vergleiche aufzuhalten haben, der, wie ich hoffe, seinen Zweck erfüllt hat, dem Leser einen allgemeinen Eindruck zu geben, wie wir damals lebten, – ihre Familie war reich. In jenem Zeitalter, als Geld allein alles gewährte, was angenehm im Leben war und zur Kultur gehörte, war es genug, dass ein Mädchen reich war, um ihr Bewerber zu verschaffen; Edith Bartlett war aber auch zugleich schön und anmutig.

    Ich weiß, dass meine Leserinnen dagegen protestieren werden. »Hübsch mag sie wohl gewesen sein,« höre ich sie sagen, »aber anmutig nimmer, in der Kleidung, welche zur damaligen Zeit Mode war, als die Kopfbedeckung ein fußhohes schwindelndes Gebäude war und die beinahe unglaubliche Ausbauschung des Kleides hinten, hergestellt durch eine künstliche Vorrichtung, die Gestalt mehr verunmenschlichte als irgend eine frühere Erfindung der Schneiderinnen. Kann man sich jemanden in einem solchen Kostüm als anmutig vorstellen?« Der Einwand ist sehr gut, und ich kann nur erwidern, dass, während die Damen des zwanzigsten Jahrhunderts holde Beweise der Wirkung schicklicher Gewänder, die weibliche Anmut hervorzuheben, sind, mich dennoch meine Erinnerung an deren Urgroßmütter zu behaupten in den Stand setzt, dass keine Unförmigkeit der Kleidung das weibliche Geschlecht gänzlich zu entstellen vermag.

    Unsere Hochzeit sollte stattfinden, sobald das Haus fertig geworden, welches ich für unseren Gebrauch in einem der gesuchtesten Stadtteile baute, d. i. in einem Stadtteile, der hauptsächlich von reichen Leuten bewohnt war; denn man muss wissen, dass die verschiedenen Stadtteile Bostons damals nicht im Vergleiche zu ihrer natürlichen Umgebung, sondern zu dem Charakter der dort wohnenden Bevölkerung gesucht waren. Jede Klasse oder Nation wohnte für sich, in ihren eigenen Vierteln. Der Reiche, der zwischen den Armen wohnte, oder der Gebildete, der sich unter den Ungebildeten aufhielt, glich einem Menschen, der in Abgeschiedenheit unter einer neidischen und fremden Rasse lebt. Als ich den Bau des Hauses begann, erwartete ich, dass es im Winter 1886 vollendet sein würde; der Frühling des folgenden Jahres fand es jedoch noch unfertig und meine Hochzeit noch als eine Sache der Zukunft. Die Ursache des Verzuges, der einen feurigen Liebhaber besonders aufbringen musste, war eine Reihe von Streiks oder Ausständen, das heißt, eine vereinbarte Arbeitseinstellung der Maurer, Zimmerleute, Anstreicher, Klempner und anderer Handwerker, die am Bau des Hauses beschäftigt waren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was die Ursachen dieser Streiks waren. Ausstände waren zu jener Zeit so allgemein geworden, dass man sich gar nicht mehr um ihre besonderen Ursachen bekümmerte. In einem oder dem anderen Zweige der Industrie hatten sie seit der großen Geschäftskrisis im Jahre 1873 fast unausgesetzt stattgefunden. Es war in der Tat so weit gekommen, dass es eine Ausnahme schien, wenn irgend eine Arbeiterklasse ihren Beruf länger als einige wenige Monate hindurch ununterbrochen ausübte.

    Der Leser, welcher die angeführten Daten beachtet, wird natürlich in diesen industriellen Störungen die erste und zusammenhangslose Phase der großen Bewegung erkennen, die damit endete, dass das moderne gewerbliche System, mit all seinen sozialen Konsequenzen, hergestellt wurde. Dies ist im Rückblick alles so offenbar, dass ein Kind es verstehen kann; aber da wir keine Propheten waren, so hatten wir damals keine klare Idee von dem, was uns zustoßen würde. Wir sahen lediglich, dass hinsichtlich der Industrie das Land in einer höchst schiefen Lage war. Das Verhältnis zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer, zwischen der Arbeit und dem Kapital erschien in unerklärlicher Weise verrenkt zu sein. Die Arbeiterklassen waren ganz plötzlich und beinahe allgemein von einer tiefen Unzufriedenheit mit ihrer Lage angesteckt worden, sowie von der Idee, dass dieselbe verbessert werden könnte, wenn man nur wüsste, wie es recht anzufangen sei. Einstimmig wurde von allen Seiten das Verlangen höheren Lohnes, kürzerer Arbeitszeit, besserer Behausung, besserer Erziehung und eines Anteiles an den Bequemlichkeiten des Lebens gestellt: Forderungen, welche zu erfüllen unmöglich schien, wenn nicht die Welt um ein bedeutendes reicher würde, als sie es damals war. Obgleich sie einigermaßen wussten, was sie wollten, wussten sie doch nicht, wie es zu erreichen wäre, und der Enthusiasmus, mit welchem sie sich um jeden scharten, der ihnen irgendwelche Aufklärung darüber geben zu können schien, lieh manchem, der sich gern als Parteiführer aufspielen wollte, einen plötzlichen Ruf, ob er gleich wenig genug Licht zu geben hatte. Wie chimärisch auch die Bestrebungen des Arbeiterstandes erscheinen mochten, so ließ dennoch die Hingabe, mit welcher sie einander während der Streiks, die ihre Hauptwaffe waren, unterstützten, und die Opfer, die sie brachten, um sie auszuführen, keinen Zweifel an ihrem vollen Ernste aufkommen.

    Hinsichtlich des schließlichen Endes der Arbeiterunruhen – welches der Name war, womit man die Bewegung, die ich beschrieben habe, meistens bezeichnete – waren die Meinungen der Leute meiner Klasse sehr verschieden, je nach deren persönlichem Temperament. Der Sanguinische machte sehr kräftig geltend, dass es nach der Natur der Dinge unmöglich sei, dass die neuen Hoffnungen der Arbeiter befriedigt werden könnten, und zwar einfach darum, weil die Welt nicht den Stoff hätte, sie zufrieden zu stellen. Nur deshalb, weil die Massen so schwer arbeiteten und so kärglich lebten, verhungere das Menschengeschlecht nicht ganz und gar, und keine Verbesserung ihrer Lage sei möglich, so lange die Welt als Ganzes so arm bleibe. Es wären nicht die Kapitalisten, gegen welche die Arbeiter sich auflehnten, sagten diese Sanguiniker, sondern sie stritten gegen den eisernen Gürtel der Notwendigkeit, der die Menschheit umschlösse, und die Frage sei nur, wie lange noch ihre Dickköpfigkeit sie verhindern würde, diesen Sachbestand zu entdecken, um dann sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass man das Unabänderliche eben ertragen müsse.

    Diejenigen, welche weniger sanguinisch waren, gestanden alles dieses zu. Die Hoffnungen der Arbeiter könnten selbstverständlich aus natürlichen Gründen nicht verwirklicht werden; es sei jedoch zu befürchten, dass sie diese Tatsache nicht eher entdecken würden, als bis sie aus der Gesellschaft einen argen Mischmasch gemacht haben würden. Sie hätten das Stimmrecht und die Macht, es zu tun, wenn es ihnen gefiele, und ihre Führer meinten, sie sollten es tun. Einige dieser schwarzsehenden Beobachter gingen so weit, dass sie einen totalen Umsturz aller sozialen Zustände als nahe bevorstehend prophezeiten. Die Menschheit, sagten sie, wäre auf der höchsten Sprosse der Zivilisation angelangt und jetzt im Begriffe, Hals über Kopf sich ins Chaos hinabzustürzen; wonach sie sich dann zweifellos wieder erholen und aufs neue zu klettern anfangen würde. Wiederholte Versuche dieser Art in geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeiten erklärten möglicherweise die rätselhaften Beulen am menschlichen Schädel. Die Geschichte der Menschheit, wie alle großen Bewegungen, drehe sich im Kreise und kehre immer wieder zum Anfangspunkte zurück. Die Idee eines unendlichen Fortschrittes in gerader Linie sei ein Gespinst der Einbildung, durch keine Analogie in der Natur begründet. Die Bahn eines Kometen sei vielleicht eine bessere Illustration der menschlichen Laufbahn. Aufwärts und der Sonne entgegen strebend, steige das Menschengeschlecht von der Nacht der Barbarei zur Sonnenhöhe der Zivilisation, um alsdann wieder zum entgegengesetzten Ende, in die untersten Regionen des Chaos, niederzusteigen.

    Dieses war selbstverständlich eine extreme Ansicht; aber ich erinnere mich, dass ernste Männer meiner Bekanntschaft, wenn sie über die Zeichen der Zeit sprachen, einen ähnlichen Ton anschlugen. Ohne Zweifel war es die Meinung aller denkenden Leute, dass die Gesellschaft sich einer kritischen Periode nähere, welche zu großen Veränderungen führen könne. Die Arbeiterunruhen, ihre Ursachen, Richtung und Heilung waren der Hauptgegenstand der Erörterungen in der Presse wie der ernsthaften Unterredungen.

    Die nervöse Spannung der öffentlichen Meinung hätte durch nichts schlagender bewiesen werden können, als durch die Aufregung, welche durch das müssige Geschwätz einer kleinen Anzahl Leute, die sich Anarchisten nannten, entstand. Diese hatten es versucht, das amerikanische Volk zu terrorisieren und ihnen ihre Ideen durch Androhung von Gewalttätigkeiten aufzudrängen, –

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