1000 Jahre habe ich gelebt: Eine Jugend im Holocaust
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Nur ihr unbeugsamer Glaube an das Überleben half ihr, die Gräuel der Konzentrationslager zu überleben.
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Buchvorschau
1000 Jahre habe ich gelebt - Livia Bitton-Jackson
Die Stadt meiner Träume
Somorja, Sommer 1943–März 1944
Ich träume davon, die Schule in Budapest zu besuchen, der Hauptstadt. Budapest ist eine große, schöne Metropole mit breiten Straßen und großen Gebäuden und gelben Trambahnen, die um die Ecken flitzen. Alle Straßen in Budapest sind gepflastert. In unserer Stadt haben wir nur eine gepflasterte Straße, die Hauptstraße. Und die ist nicht breit. Wir haben weder hohe Gebäude noch Trambahnen, nur von Pferden gezogene Wagen und zwei Automobile. Eines davon gehört dem Vater meiner Freundin.
Unser Städtchen ist von der Landwirtschaft geprägt und liegt unweit der Kleinen Karpaten. Die lieblichen Hügel zeichnen sich in blauem Dunst im Westen ab. Im Süden pulsiert die Donau, der kühle, stetige Fluss, mit der Verheißung des Lebens. Wie sehr liebe ich es, in seiner klaren blauen und sich kräuselnden Strömung zu schwimmen und im Schatten des kleinen Wäldchens zu liegen, das sich an sein Ufer schmiegt.
Wir Kinder planschen den ganzen Sommer lang in der Donau. Familien picknicken im Gras, der Fußballverein der Stadt hat seinen Trainingsplatz in der Nähe, und die Schwimm-Mannschaft bereitet sich auf die jährlichen Meisterschaften vor. Und auch die Kaserne entleert ihren verschwitzten Inhalt, Hunderte von Rekruten, einmal pro Tag in die kühlen, reinigenden Fluten der Donau.
Wenn die Sonne hinter den Hügeln versinkt und der kleine Wald seinen langen Schatten über die Wiesen wirft, kommen Kuh- und Schafherden an den Fluss. Die Hirten treiben zuerst die Schafe, dann die Pferde und Kühe ins Wasser, fluchen dabei immer lauter, und jagen uns Kinder heraus. Mit der Dämmerung kommen auch die Stechmücken, und dann ist es Zeit zum Heimgehen.
Der Weg über die offenen Weiden ist angenehm und kühl, doch in der Stadt ist es heiß und staubig, wenn wir zu Hause ankommen. Die Schafe sind vor uns da, und sie sind es, die den Staub aufwirbeln. Aber bald senkt sich der Staub wieder, und das tut schließlich auch die Nacht. Eine dunkle, samtige Decke der Stille schirmt die Stadt behaglich von den Aufdringlichkeiten der Außenwelt ab. Ein Stern nach dem anderen scheint auf die staubigen Wege und die einzige gepflasterte Straße der Stadt. Gegen neun Uhr wird alles ruhig. Hier und da hört man das Bellen eines aufgeregten Hundes. Aber bald wird auch er schlafen.
Dann beginnt das Orchester von Insekten seine Ouvertüre, deren Einklang unterbrochen wird vom misstönenden Quaken eines Frosches, dem Bewohner eines kleinen Tümpels hinter dem letzten Haus in unserer Straße.
Ich liebe es, in der einbrechenden Nacht stundenlang wachzuliegen und meinen Gedanken nachzuhängen. Das Leben birgt ein aufregendes Rätsel, einen süßen, geheimnisvollen Zauber. In meiner Vorstellung bin ich eine gefeierte Dichterin, schön, elegant und sehr begabt. Meine Gedichte öffnen mir das Herz der Welt, und ich genieße das Gefühl, von der Welt umarmt zu werden.
Ich sehne mich danach, dass meine Mutter mich umarmt. Wenn am Schabbatmorgen meine Freundin Bonnie und ich unsere Mütter in der Synagoge treffen, nimmt Frau Adler Bonnie in ihre Arme und nennt sie meine Schönheit, auf Deutsch. Frau Adler gibt Bonnie immer deutsche Kosenamen. Mami begrüßt mich mit einem »Hallo« und einem Lächeln, ohne eine zärtliche Berührung oder ein Kosewort.
»Das ist doch alles Unsinn«, sagt meine Mutter, wenn ich mich beklage. »Willst du, dass ich dich ›meine Schönheit‹ nenne? Bonnies Mutter macht sich lächerlich. Jeder sieht doch, wie unscheinbar ihre Tochter ist!«
Was spielt es für eine Rolle, ob Bonnie nun hübsch ist oder nicht? Worauf es mir ankommt, ist, dass Bonnies Mutter denkt, sie ist schön. Und was ist mit der Umarmung?
»Ich halte nichts vom Schmusen«, erklärt Mami lächelnd. »Das Leben ist hart, und zuviel Zärtlichkeit macht dich weich. Wie willst du den Problemen im Leben begegnen, wenn ich dauernd mit dir schmuse? Du bist einfach zu sensibel. Wenn ich dich auf meinen Schoß nehmen würde, würdest du gar nicht mehr weg wollen … Du würdest weich wie Butter werden, unfähig, den Anforderungen des Lebens standzuhalten.«
Mamis Erklärungen sind nicht überzeugend. Ich glaube, sie umarmt mich nicht, weil ich nun einmal nicht zum Umarmen bin. Ich glaube, sie sagt nicht, ich sei schön, weil ich ihr nicht gefalle. Ich bin zu groß und schlaksig. Meine Arme und Beine sind zu lang, und dauernd werfe ich etwas um. Wenn ich ein Tablett mit Getränken trage, ruft Mami mir zu, ich soll nicht so tolpatschig gehen. Das ist der Grund, warum dann alles danebengeht. »Sieh dir Eva an. Sie ist ein Jahr jünger als du, aber ein Tablett kann sie wirklich geschickt tragen.« Oder: »Gestern war ich bei deiner Freundin Julie zu Hause. Du müsstest sehen, wie gekonnt sie ihrer Mutter beim Auftragen hilft!« Oder: »Siehst du deinen Bruder Bubi? Er ist ein Junge, und sieh nur, wieviel mehr er in der Küche hilft und um wie vieles geschickter er sich dabei anstellt!«
Das ist der wahre Grund dafür, dass meine Mutter mich ablehnt: mein Bruder. Er ist ihr Liebling. Nie gibt er Widerworte, sagt meine Mutter. Und nie fragt er: »Warum muss ich?«, wann immer sie ihm diese oder jene Anweisung gibt. Warum kann ich nicht wie er sein?
Warum kann ich nicht wie er aussehen? Mein Bruder sieht gut aus und ich nicht. Ich bin überhaupt nicht hübsch. Er hat lockiges Haar und ich nicht. Meine Haare sind glatt. Sie haben nicht einmal den Anflug einer Welle. »Es ist ein Jammer!«, höre ich meine Mutter zu einer Nachbarin sagen. »Was muss ein Junge so gut aussehen? Bei den beiden ist mir etwas durcheinandergeraten. Mein Sohn hätte das Mädchen werden sollen. Und wie meine Tochter aussieht, wäre ganz in Ordnung für einen Jungen.«
Und es gibt noch etwas. Mein Bruder Bubi ähnelt den vier Brüdern meiner Mutter. Mami nennt sie Meine-schönen-Brüder. Die drei Worte als ein Ausdruck. Bubi spricht wie sie, bewegt sich wie sie und verhält sich wie sie. Und er ist so großartig wie sie.
Ich schlage mehr der Familie meines Vaters nach. Die sind schon okay, aber weniger aufregend. Sie sind viel einfacher gestrickt.
Bubi ist ein Könner, ich hingegen bin nur fleißig. Ich meine, ich kriege gute Noten, weil mir das Lernen Spaß macht, aber mein Bruder kriegt gute Noten, ohne je ein Buch aufzuschlagen. Mami ist sehr stolz auf ihn. Papa lobt mich wegen meines Fleißes. Er sagt, Fleiß ist manchmal wichtiger als Können. Mit Fleiß erreicht man manchmal mehr.
Ich frage mich: Bedeutet der Umstand, dass ich fleißig bin, gleichzeitig, dass ich von Haus aus eigentlich nichts kann? Oder nicht begabt bin? Wie kann ich ohne Begabung je eine gefeierte Dichterin werden? Kann ich das allein durch Fleiß erreichen?
»Hör zu, Elli«, erklärt mir Mami, »du hast ein nettes Lächeln, und wenn du lächelst, hast du ein recht hübsches Gesicht. Wenn du also Menschen triffst, schenke ihnen ein Lächeln. Und sie werden dich für ein hübsches Mädchen halten.«
Ich höre zu und lächle, so oft ich kann.
Der Sommer geht vorüber und mein Bruder Bubi macht sich auf nach Budapest. Er ist dort Student am Jüdischen Lehrerseminar, und ich hoffe und bete, dass mein Traum, ihm in die Stadt zu folgen, nächstes Jahr wahr wird.
Dunkel verregnete Herbsttage gefrieren zu glitzernd weißem Winter. Die bedrückende ungarische Besatzung, das zähe Andauern des Krieges und immer größere Lebensmittelknappheit machen den Winter noch kälter. Hitlers gellende Rundfunkansprachen, insbesondere eine seiner unablässig wiederholten Ankündigungen: »Wir werden mit den Köpfen der Juden Fußball spielen«, versetzen mein Herz in Panik. Papa beruhigt mich. »Mach dir keine Sorgen, Elli-Kind. Das ist nur so dahergeredet. Nimm es nicht wörtlich, um Gottes willen.« Mit scharf hervortretenden Sorgenfalten in seinem ebenmäßigen, schönen Gesicht legt er die Hand auf meine Schulter. »Über diese Dinge sollst du gar nicht nachdenken, Ellike. Vergiss einfach, dass du so etwas gehört hast.«
Aber ich kann das Bild nicht aus meiner Vorstellung löschen. Blutige Köpfe, die über den Fußballplatz unserer Stadt rollen, werden zu einem immer wiederkehrenden Alptraum.
Im Verlauf des Winters verliert mein Vater etwas von seiner aufrechten Haltung. Er schweigt mehr und länger, und die Schatten unter seinen Wangenknochen werden deutlicher sichtbar. Seit dem Beginn der ungarischen Okkupation, und erst recht, seit vor drei Jahren unser Geschäft enteignet wurde, ist Papa immer abwesender. Sein berühmter Humor ist bitter geworden, sein Lachen ein seltener Genuss. Freude scheint er nur noch aus seinen Studien zu ziehen, und all die langen Winterabende verbringt er tief gebeugt über riesigen Bänden des Talmud.
An meinem Geburtstag, dem 28. Februar, beginnt der Schnee zu schmelzen. Das Frühjahr kündigt sich an. Papa ist wieder ein bisschen fröhlicher, und mein Herz singt vor Freude. Ich bin dreizehn geworden, und es scheint ein wunderbarer Frühling zu werden. Ich habe einen neuen Mantel mit Schulterpolstern bekommen, der mich weniger dürr und reifer aussehen lässt. Ich sehe mindestens wie fünfzehn aus in diesem wunderschönen Marinemantel mit den hohen Schultern. Sogar Jancsi Novák, mein Schwarm, lächelte mir zu und sagte: »Oh! Hallo.«
Viele andere wunderbare Dinge passieren in diesem Frühjahr. Ich habe gute Noten im Zeugnis, und Papa gab seine Zustimmung. Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, forderte ich die Anmeldebogen für die Jüdische Schule in Budapest an. Ich schrieb auch einen langen Brief an Bubi.
Wie herrlich es ist, meine Träume mit jedem Tag, der vergeht, schärfere Gestalt annehmen zu sehen! Wie herrlich es ist, mich im Geiste dabei zu beobachten, wie ich in Budapest lebe und jeden Tag nach der Schule Bubi treffe! Mit ihm herumziehe! Mein Bruder kennt Budapest in- und auswendig.
An diesem Abend sind meine Gedanken nicht von schmerzender Sehnsucht durchzogen. Sie sind voller Vorfreude und ganz auf die Wirklichkeit gerichtet, und in einer Wolke glücklicher Erregung schlafe ich ein.
Es klopft laut an das Fenster bei meinem Bett. Im Nebenzimmer schrecken meine Eltern auf.
»Sie sind wieder da«, sagt mein Vater tonlos. »Was können sie diesmal wollen?«
»Sei bitte höflich zu ihnen«, flüstert Mami. »Es ist immer besser, umgänglich zu sein, auch wenn sie grob sind. Bitte. Wir müssen jeden Ärger vermeiden.«
Ich höre, wie Papa die vordere Ladentüre aufsperrt. Nun poltert es am Hintereingang des Hauses.
Ich höre, wie Papa hastig die Tür wieder verriegelt und zur Rückseite eilt. Ich höre Mutters Schritte ihm folgen.
Die Leuchtziffern der Uhr zeigen halb drei.
Sie kommen immer überraschend mitten in der Nacht, sie, die ungarische Militärpolizei. Sie kommen immer und schlagen an Fenster und Türen, fünf oder sechs von ihnen. Stiefel mit hohen Absätzen, Gewehre auf den Schultern, lange Hahnenfedern an schwarzen Helmen. Sie sind der Schrecken der Juden in den besetzten Gebieten. Sie veranstalten Razzien mitten in der Nacht, auf der Suche nach versteckten Waffen. Immer durchwühlen sie das Haus von oben bis unten, stochern mit Bajonetten wild im Mobiliar und schikanieren Papa wie einen Verbrecher.
»Ihr Juden versteckt doch feindliche Ausländer! Ihr kollaboriert doch mit dem Feind! Ihr wollt Ungarn an den Feind verraten!«
Sie nehmen immer mit, was ihnen gerade passt – Päckchen mit Kaffee, Tee, Schokolade. Sie öffnen Schränke und Schubladen und lassen eine Uhr, einen Füllfederhalter, ein Armband oder einen Seidenschal in ihren Taschen verschwinden.
Auf keinen Fall darf ich das Bett verlassen. Es ist Mamis Befehl, bis oben hin zugedeckt zu bleiben und mich schlafend zu stellen. Aber jedesmal blinzle ich und sehe, wie sie meinen Vater bedrohen und anherrschen und der sich auf die Lippe beißt. Mein Vater ist ein großer Mann, aber sie sind größer, mit ihren befederten Helmen. Mein Vater ist schlank, und sie sind bullig.
Normalerweise finden sie irgendein Vergehen. Einmal ›konfiszierten‹ sie den Wintermantel meiner Mutter mit der Begründung, er sei aus englischer Wolle hergestellt – Feindmaterial. Ein anderes Mal nahmen sie eine Schachtel mit Tee, weil es russischer Tee war – Feindesimport. Einmal karrten sie Schachteln voll Seife und Kisten voll Baumwollgarn weg. Es handelte sich um französische Seife und amerikanische Baumwolle. Ein schwerwiegender Tatbestand: heimlicher Handelsverkehr mit dem Feind. Eine Vorladung wegen der Zuwiderhandlung wurde auf dem Esszimmertisch zurückgelassen, und mein Vater hatte am nächsten Morgen auf der Polizeiwache zu erscheinen, geduldig eine endlose Folge sinnloser Fragen zu beantworten und ein ›Geständnis‹ der begangenen Verbrechen zu unterschreiben – nämlich englische Wolle, französische Seife, amerikanische Baumwolle, russischen Tee als vermeintlich ungarische Produkte auszugeben. Die Strafen waren gesalzen. Manchmal blieb mein Vater tagelang in Haft. Und wir durchlebten Höllenqualen: Foltern sie ihn? Werden sie ihn wieder herauslassen?
Ich höre Stimmen in der Küche. Warum bleiben sie so lange? Entgegen der Anweisung meiner Mutter schleiche ich auf Zehenspitzen zur Küchentür und spähe durch den Vorhang. Da steht, mitten im Raum, mit gerötetem Gesicht mein Bruder und redet erregt auf meine Eltern ein. Niemand sonst ist da. Wo ist die Polizei hin?
»Bubi!« Meine Überraschung ist so grenzenlos wie meine Freude. Ich stürze in die Küche, barfuß, und umarme ihn. »Bubi!«
»Pssst! Lasst uns leise sein.« Mein Vater ist bleich. »Setzen wir uns. Bubi, erzähl uns langsam und in Ruhe, was passiert ist.«
Die Deutschen sind in Budapest einmarschiert! Auf seinem Weg zum Unterricht hat Bubi heute Morgen deutsche Panzer die Andrássy út hinunterrollen gesehen. Und er sah eine riesige Hakenkreuzfahne am Parlamentsgebäude und eine lange Kolonne von Militärfahrzeugen mit Nazi-Fahnen die Hauptverkehrsstraße entlangfahren.
Sofort nahm er eine Tram zum Bahnhof, kaufte eine Fahrkarte und stieg in den nächsten Zug, der nach Hause fuhr. Seit dem Morgen ist er unterwegs gewesen.
Mein Vater legt seine Hand auf Bubis Schulter. »Mein Sohn, irgendetwas stimmt da nicht ganz. Wie soll das gehen, dass die Deutschen in Budapest einmarschieren und das ganze Land nichts davon mitbekommt? Kein Wort im Radio. Kein Wort in den Zeitungen. Wie kann das sein?«
Mamis Stimme klingt angestrengt. »Wir werden das in der Früh sehen. Die Zeitungen bringen die Neuigkeit sicher als Schlagzeile. Dann werden wir wissen, was zu tun ist. Lasst uns jetzt ruhig wieder zu Bett gehen.«
Am Morgen gibt es keinerlei Nachrichten von einem Einmarsch.
»Bubi, ich habe niemandem gesagt, dass du heut Nacht heimgekommen bist. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es ein falscher Alarm war. Ich bin mir sogar absolut sicher. Ich mache dir keinen Vorwurf wegen deiner Angst und werfe dir nicht vor, dass du heimgekommen bist. Es sind halt beängstigende Zeiten«, sagt Vater sanft.
In Bubis Augen ist ein seltsames Flackern. Er sagt nichts.
»Aber es gibt für dich keinen Grund, hierzubleiben und den Unterricht zu versäumen. Ich denke, es ist am besten, wenn du schnurstracks wieder zurückfährst. Um dreizehn Uhr geht ein Schnellzug nach Budapest.«
»Aber Papa, ich habe sie gesehen – die Panzer, die Hakenkreuzfahnen. Überall. Und die Menschenmengen. Ich hörte sie ›Heil Hitler‹ schreien!«
»Das muss eine Demonstration gewesen sein. Irgendein Nazi-Aufmarsch … Wenn du den Ein-Uhr-Zug nimmst, kannst du morgen früh pünktlich zum Unterricht da sein. Dann hast du nur diesen einen Tag verpasst.«
Bubi wendet den Blick ab. Dem Vater muss man gehorchen. Mutter ist auch dieser Meinung und richtet ein Proviantpaket für meinen Bruder her.
Ich küsse meinen Bruder zum Abschied, und ein heftiger Schmerz fährt durch mein Inneres.
Wir bringen ihn nicht zum Bahnhof, um keinen Verdacht zu erregen. Die Menschen würden Fragen stellen. Und wir haben keine Antworten.
Bubi fährt mit dem 13-Uhr-Express nach Budapest.
Zwanzig nach eins kommt Herr Kardos, der Rechtsanwalt von unten an der Ecke, dessen Sohn auch in Budapest studiert, auf unser Haus zugerannt. Er hat ein Telegramm von seinem Sohn bekommen: deutsche in budapest einmarschiert! Er will wissen, ob wir irgendetwas von Bubi gehört haben.
Vater wird weiß wie ein Laken. »Mein Sohn ist in diesem Moment unterwegs Richtung Budapest.«
»Was? Er war hier? Und sie wussten es? Sie wussten es und haben nichts gesagt?«
»Ich habe ihm nicht geglaubt. Niemand wusste von irgendetwas. Es kam nichts in den Zeitungen. Nichts im Radio. Was sollen wir jetzt machen?«
»Ich fahre nach Budapest. Und hole meinen Sohn heim.«
Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich meine Mutter weinen. Sie ist eine starke Frau, immer gut gelaunt und optimistisch. Aber heute quellen ihr die Augen über und sind gerötet. Das Gesicht meines Vaters ist aschfahl, und seine Hände zittern, während er sich eine Zigarette nach der anderen anzündet. Ich möchte schreien und schreien.
Am nächsten Morgen trompeten die Schlagzeilen: WIR SIND FREI! HITLERS GLORREICHE ARMEE IN BUDAPEST!
Den lieben langen Tag plärrt das Radio »Deutschland, Deutschland über alles«, und das ganze Land ist in heller Aufregung wegen der Neuigkeit. Zwei Tage zu spät. Zwei Tage zu spät.
Es erreichen uns Nachrichten von Juden, die in Budapest auf offener Straße, in der Straßenbahn, am Arbeitsplatz, an Bahnhöfen verhaftet und in Güterzüge gepfercht wurden. Und die Züge sind mit Ketten verschlossen. Wohin bringt man sie? Niemand weiß das.
Vater hört auf, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich halte es nicht mehr aus. Es gibt einen Zug um zwanzig Uhr. Ich fahre nach Budapest, um Bubi herzubringen.«
»Es ist zu spät. Sie werden auch dich verhaften. Du wirst nicht in der Lage sein, ihm zu helfen. Bleib hier bei uns. Gott wird uns beistehen und ihn retten.«
Mutters Stimme ist eigenartig zittrig. Ich umarme sie und sie bricht in Tränen aus. Vaters hohe, aufrechte Gestalt bröckelt in sich zusammen wie ein vertrockneter Keks. Lieber Gott, wenn nur Bubi da wäre!
In der Nacht kommt Bubi aus Budapest an.
Herr Kardos kehrt nicht zurück. Auch sein Sohn Gyuri nicht. Sie werden in Güterzügen abtransportiert. Sie sind die ersten Todesopfer des Holocaust, gemeinsam mit all den anderen Jungen und Mädchen aus unserer Stadt, die in Budapest studiert haben. Sie alle wurden aus der schönen ungarischen