Die 68er: Ein SPIEGEL E-Book
Von SPIEGEL-Verlag
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Über dieses E-Book
In diesem E-Book veröffentlicht DER SPIEGEL die herausragende Serie "Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen" von 1988. Die elf Beiträge erzählen vom Schlüsseljahr 1968 und erklären es.
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Buchvorschau
Die 68er - SPIEGEL-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen"
Die späten Sechzigerjahre sind ohne Vietnam und den Furor der Rockszene nicht vorstellbar
„Wir schrien unsere Wut heraus"
Die Attentate auf Benno Ohnesorg, Martin Luther King und Rudi Dutschke und ihre Folgen
„Ein körperliches Gefühl der Niederlage"
Den Protestbewegungen in den USA und Europa schwindet die Zuversicht
Rudi, ein deutsches Märchen
Der Apo-Führer Rudi Dutschke
„Muff unter den Talaren"
Der Aufstand an den Universitäten
Der Robespierre von Bockenheim
Der SDS-Chefideologe Hans-Jürgen Krahl
„Eine schlagkräftige sexuelle Aktion"
Kommunen und die linke Lebensreform von 1968
Ein Scharlatan aus Einsamkeit
Der Psycho-Doktor Wilhelm Reich
„68 - eine Art von Erbschaftsverweigerung"
Der Aufstand gegen die Väter
„Quer zu allen deutschen Traditionen"
Verdrängung und die Folgen des Revolte-Jahres '68
„Misstrauen gegen jede Form von Autorität"
Was von 1968 übrig blieb
Impressum
Einleitung
Vorwort
1968 war das Jahr der Anti-Vietnamkrieg-Proteste und der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Robert Kennedy und Martin Luther King wurden erschossen. Deutsche Studenten rebellierten gegen den „Muff von tausend Jahren" in Universität, Staat und Gesellschaft, der Studentenführer Rudi Dutschke erlitt durch ein Attentat lebensgefährliche Verletzungen, es folgten Straßenschlachten zwischen Studenten und der Polizei in Berlin und anderen Städten der Bundesrepublik.
1968 war ein Jahr weltweiter Autoritätserschütterung, und es ist, speziell in Deutschland, zum Signum einer Jugend- und Protestbewegung geworden, zur historischen Kennziffer einer Generation, deren antiautoritärer, revolutionärer Drang und Sturm nicht ans Endziel kam, deren Träume und Ideen, Gefühle und Aktionen – Irrtümer inbegriffen –, dennoch die Gesellschaft verändert und vorangebracht haben.
Ein Team von SPIEGEL-Autoren konnte 1988 in einer Serie von Beiträgen die Jugendrevolte, ihre Vorgeschichte, ihre weltweiten Zusammenhänge und ihre Nachwirkungen nicht nur aus der Distanz journalistischer Beobachtung, sondern auch aus den Erfahrungen engagierter Zeitgenossenschaft und persönlicher Bekanntschaft mit vielen 68er-Aktivisten kompetent beschreiben. So etwa Wilhelm Bittorf, der damals Fernsehfilme drehte und an der Berliner Filmhochschule lehrte; so etwa Rolf Rietzler, damals Doktorand der Geschichtswissenschaft an der Universität Hamburg; so etwa Harald Wieser, damals Mitherausgeber der Links-Zeitschrift „Kursbuch und Rudi Dutschke auch als Tischtennispartner nahe; so etwa Peter Brügge, damals einer der wenigen Journalisten, die von den Berliner „Kommune I
- und „Kommune II"-Mitgliedern als Gesprächspartner akzeptiert wurden, bei dänischen Kommunarden eine Zeitlang Wohngast.
Das komplexe Thema war unter vielen verschiedenen Aspekten darzustellen - von der Bedeutung der Rockmusik für den jugendlichen Aufbruch bis zu der des Vietnamkriegs, von den politischen und sozialen Theorien und Utopien, die die Protestbewegung antrieben, bis zu den lebensreformerischen Experimenten der Kommunen und Wohngemeinschaften, von den Folgen im Privaten bis zu denen für die Republik – sie beide in ihrer Wechselwirkung aufeinander waren das Thema eines Beitrags von SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann.
50 Jahre nach 1968 veröffentlicht DER SPIEGEL die Serie „Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen" von 1988 erneut in Form eines SPIEGEL E-Books. Die elf Beiträge erzählen dieses Schlüsseljahr und erklären es. Es ist Geschichte. Und immer noch Gegenwart.
SPIEGEL 14/1988
„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen"
SPIEGEL-Autor Wilhelm Bittorf über Jugendrevolution und Protestbewegung der sechziger Jahre (I)
Eine Panzerfaust reißt kurz vor drei Uhr früh ein gähnendes Loch in die Gartenmauer der Saigoner US-Botschaft. Ein Selbstmord-Kommando aus 19 jungen Rebellen taucht aus der Dunkelheit auf, erschießt die Wachtposten der US-Militärpolizei und verschanzt sich im Botschaftsgelände, als es ihm auch mit weiteren Panzerfaust-Schüssen nicht gelingt, in den schwerverbunkerten Betonbau der amerikanischen Mission, Machtzentrum Südvietnams, einzudringen. Es ist der 31. Januar 1968, zweiter Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes „Tet".
Einen Hubschrauber-Gegenangriff der Amerikaner vereiteln die Vietcong bis Tagesanbruch. Erst um neun Uhr früh liegen die Körper aller 19 verrenkt und tot zwischen den Blumenrabatten der Botschaft, sickert ihr Blut in den weißen Kies der Gartenwege. Aber zehntausend Meilen weit weg in Amerika bietet sich den Bürgern der mächtigsten Nation auf Erden schon zum Frühstück das bizarre Bildschirm-Spektakel, wie ihre eigenen Soldaten, von feuerspeienden Kampfhubschraubern unterstützt, das eigene US-Botschaftsterritorium stürmen müssen, um es von den Guerillas zu befreien.
Es ist nur der erste Schreck. Denn an diesem Morgen greifen Truppen der Volksbefreiungsfront, über 70 000 Mann insgesamt, simultan fast jeden wichtigen Stützpunkt der Amerikaner und fast jede Stadt in Südvietnam an. Aus dem Dschungel kommend, dringen sie völlig überraschend in 36 von 41 Provinzhauptstädten ein und setzen sich in ihnen fest. Gegen den schwachen Widerstand südvietnamesischer Regierungssoldaten erobern sie den großen Saigoner Stadtteil Cholon und - mit Verstärkung aus dem Norden - die ganze alte Kaiserstadt Hue. Sie robben sogar nahe genug an das Hauptquartier des US-Oberkommandierenden William Westmoreland heran, um dem General die Bürofensterscheiben zu zerschießen und ihn zum Rückzug in seinen Bunker zu zwingen.
„Wir beginnen 1968 in einer besseren Position, als wir sie je zuvor besaßen, hat Robert Komer, der zivile Emissär des Pentagons in Vietnam, erst eine Woche vor der Tet-Offensive der Presse erklärt. Im zurückliegenden Jahr haben Komer und General Westmoreland mit Fleiß den Eindruck erweckt, die Rebellengefahr in Südvietnam selbst sei gewichen: US-Truppen hätten die „Congs
aus den bevölkerten Gebieten in die Urwälder an der Grenze vertrieben. Nur von außen, von der Armee des roten Nordvietnam, würden die kleinen braunen Schützlinge Amerikas noch bedroht.
Jetzt aber stürzen sich Schwärme amerikanischer Kampfflugzeuge jaulend auf Südvietnams Städte wie auf Feindesland. Sie bombardieren die von Frauen und Kindern wimmelnden Wohnquartiere ihrer Schützlinge rücksichtsloser als je zuvor den Norden. In verzweifelten Scharen versucht die Bevölkerung ihren Beschützern zu entrinnen. Die Menschen fluten durch die verwüsteten Straßen, vorbei an feuernden Panzern der US-Armee, und schleppen ihre Verwundeten und Toten auf Rikschas und Handwagen mit sich fort.
Bilder vom Grauen des Tet, Bilder von dem Krieg, ohne den das Jahr des Aufruhrs, 1968, nicht hätte werden können, was es werden sollte: der schwarze GI, der mit blutüberströmtem Kopf vor einem alten Holzhaus kniet und blind nach seinen Kameraden sucht, ehe er zusammenbricht; das schreiende nackte Mädchen, das sich das brennende Kleid vom Leib gerissen hat; der Mann, der in einer Hand ein wenige Wochen altes Baby hält, dem die Haut in Fetzen herunterhängt.
Die Szene, wie der südvietnamesische Polizeichef Nguyen Ngoc Loan mitten in Saigon einem guerillaverdächtigen jungen Mann in Shorts und kariertem Sporthemd aus zehn Zentimeter Entfernung in den Kopf schießt, effektvoll postiert vor einer Fernsehkamera, die das Todeszucken des Getroffenen für die Abendnachrichten von NBC festhält.
Und der entsetzliche Geruch der verfaulenden Körper. Du hast ihn geschmeckt, wenn du deine Rationen gegessen hast, und es war, als ob du den Tod ißt.
Der Ledernacken-Offizier Myron Harrington hat das gesagt. Trinh Cong Son, ein einheimischer Dichter, der die Hölle von Hue überlebt, hat, dem Wahnsinn nahe, ein Gedicht gemacht:
Ich sah, ich sah, ich sah
Löcher und Gräben, gefüllt mit den
Leichen meiner Brüder und Schwestern.
Mütter, klatscht vor Freude
über den Krieg.
Schwestern, klatscht und rühmt
den Frieden.
Jeder klatsche nach Rache.
Jeder klatsche, statt zu bereuen.
Block für Block zermalmt Amerikas „firepower zweieinhalb Wochen lang die liebliche alte Kaiserstadt, Nationalsymbol für alle Vietnamesen. Und vor dem Schutt der vernichteten Provinzstadt Ben Tre, die in einer, so heißt es, „befriedeten Zone
am Mekong liegt, spricht ein US-Major den zu Weltruhm prädestinierten Satz, der den Aberwitz des Vietnamkriegs auf den Punkt bringt: „Wir waren genötigt, die Stadt zu zerstören, um sie zu retten."
Die Stoßwellen der Tet-Kämpfe umrunden den Globus. Verteidigungsminister Robert McNamara tritt zurück. Präsident Lyndon B. Johnson ist außerstande, die angeforderten Verstärkungen nach Südostasien zu schicken. Die Kriegskosten inflationieren den Dollar. Amerikas Goldschatz fließt ab.
Zwar bringt die Feuerwalze der US-Streitkräfte die Städte Südvietnams wieder unter Kontrolle - und sei es nur als Trümmerhaufen, als Leichenfeld. Doch um so heftiger erregt die Tet-Offensive den rebellischen Geist der jungen Generation überall im Westen.
✮
Ich war außer mir vor Wut. Am meisten empörte mich, daß ein hochentwickeltes Land mit dieser supermodernen amerikanischen Armee sich auf diese vietnamesischen Bauern stürzt - über sie herfällt wie die Konquistadoren über Südamerika oder wie die weißen Siedler über die nordamerikanischen Indianer - Michael von Engelhardt, 1968 Student in Frankfurt.
In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase - Rudi Dutschke am 17. Februar 1968 in Berlin.
Der Widerstand des vietnamesischen Volkes zeigte, daß es zu schaffen war - es war möglich, sich zu wehren. Wenn arme Bauern das konnten, warum nicht wir in Westeuropa, warum nicht die Opposition in Amerika? - Tariq Ali, ein Anführer der britischen „Solidaritätskampagne für Vietnam".
Berlin darf nicht Saigon werden! - „Berliner Morgenpost" am 19. Februar 1968.
Die adretten jungen Frauen auf dem Olivaer Platz am Kurfürstendamm sind trotz der schwierigen Nachkriegsjahre mit Liebe und Sorgfalt erzogen worden. Sie können studieren. Sie leben, von ihren Altersgenossen jenseits der Mauer beneidet, im „freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab", wie ihre Professoren an der Freien Universität ihnen immer wieder beteuern. Ginge es mit rechten Dingen zu, dann müßten die jungen Frauen die Freude ihrer Eltern und der Stolz ihrer Professoren sein. Aber was machen sie?
Sie sitzen rittlings auf den Schultern ihrer jungen Männer und schwenken in herausfordernder Manier befremdliche rotblaue Fahnen mit einem Fünfzack-Stern in der Mitte. Ja, sie schwenken die Rebellenfahne des Vietcong, der amerikanische Soldaten tötet, über der vieltausendköpfigen Flut ihrer Mitdemonstranten, inmitten des schwankenden Waldes von Bannern und Transparenten, von Che Guevaras und Rosa Luxemburgs.
Wie eine Woge braust ein gewaltig sich steigernder Chorus durch die Menge: „Wir sind eine kleine RADIKALE MINDERHEIT! An den Häuserfronten bricht sich knallend der Schrei: „Ho Ho Ho Tschi-minh!
Mehr als 12 000 junge Demonstranten ziehen über den Kurfürstendamm, um dann in Richtung Deutsche Oper abzubiegen, wo am 2. Juni des Vorjahres der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden ist.
Viele in dem Protestzug haben einander untergehakt. Immer wieder traben die führenden Gruppen im Geschwindschritt und mit entsprechend beschleunigten Sprechchören los, die anderen hintendrein, so daß der Zug sich auseinander- und wieder zusammenzieht wie ein riesiges Akkordeon. Unbekümmert um den kalten grauen Februartag strahlen die Demonstranten für den „Sieg der vietnamesischen Revolution einen fröhlichen, aufgekratzten Trotz aus. „Bürger, laßt das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!
rufen sie an den Häuserfassaden hinauf. Aber den Berlinern kommt es vor, als sei die Tet-Offensive nun auch in die Frontstadt des freien Westens eingebrochen.
Der Marsch an diesem 18. Februar ist Teil der anschwellenden Protestbewegung in Westeuropa. Er schließt den „Internationalen Vietnam-Kongreß" ab, den Rudi Dutschke und seine Mitstreiter vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mitorganisiert haben. Aus fast allen westeuropäischen Nationen sind Delegationen der Neuen Linken mit zum Teil mehreren hundert Mitgliedern gekommen - Franzosen, Italiener, Engländer.
Amerikanische Kriegsgegner treten auf: „Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today? Schwarze GIs intonieren auf der Schlußveranstaltung ihr Verweigerungsmotto gegen den asiatischen Krieg: „We ain't gonna go to Vietnam, 'cause Vietnam is where I am*. Hell no, we ain't gonna go!
(*„Wir gehen nicht nach Vietnam, denn Vietnam ist, wo ich bin.")
„Dort in Berlin habe ich zum erstenmal den Geist von '68 gefühlt, erinnert sich der Engländer Robin Blackburn, heute Redakteur der „New Left Review
. „Ich bekam ein außergewöhnliches Gespür von einem neuen politischen Klima ... Es war anders als auf allen früheren Demos, die ich erlebt hatte."
„Eine solche Masse Menschen, die mit roten Fahnen durch die Hauptstadt des Kalten Krieges marschieren - phänomenal! Absolut phänomenal! ruft Tariq Ali noch im Rückblick begeistert aus - Ali, Pakistani und 1968 eine Art britischer Dutschke. „Als wir durch die alten Stadtviertel zogen, konntest du spüren, wie die alte revolutionäre Bewegung wiederbelebt wurde.
Tatsächlich hat Rudi Dutschke, und er nicht allein, auf dem Kongreß ganz im Ernst die Losung verkündet: „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen! Solche Sprüche sind nur eines von vielen Symptomen für den „Geist von '68
, der sich in West-Berlin manifestiert.
Er zeigt sich in der fiebrigen Erwartung großer Umstürze. Er zeigt sich im verwegenen Glauben daran, daß die junge Generation der Industrienationen zusammen mit den fernen Ho Tschi-minhs der Dritten Welt die überkommenen irdischen Zustände aus den Angeln heben kann. Er zeigt sich in der lebenshungrigen Hoffnung, ein jedes „Individuum könne sich von den eingepflanzten Komplexen und Hemmungen befreien, die es, Frau wie Mann, daran hindern, seine ganze Vitalität und Schöpferkraft zu „verwirklichen
. Der „Geist von '68" ruft bei den davon Befallenen erhebende Visionen, Übermut, Tatendrang und eine gesteigerte Lebensintensität hervor, die allen, die sie gespürt haben, nicht aus dem Gedächtnis schwindet.
Barbara Köster, heute Soziologin in Frankfurt, entsinnt sich der „antörnenden Atmosphäre des Vietnam-Kongresses im Audimax und im Lichthof der Technischen Universität. „Mir gefiel das Durcheinander der Leute, die sich alle Genossen nannten. Etwas von der Aufbruchstimmung, die in der Musik der Stones lag, war auch damals in Berlin zu spüren.
Sogar Niels Kadritzke, der eher nüchterne Vorsitzende des SPD-nahen Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB), wird von der aufgewühlten Stimmung angesteckt. „Obwohl ich den revolutionären Optimismus der SDS-Leute nicht teilen konnte, wurden alle Anwesenden von dieser Euphorie davongetragen - ich eingeschlossen. Die internationale Beteiligung an dem Kongreß, die Massendemonstration - all das war eine völlig neue Dimension, die einen mitriß."
DAS WAR DEN BERLINERN ZUVIEL! Spontane Gegen-Demonstrationen - Arbeiter verbrannten rote Fahnen - Polizei mußte SDS-Haus schützen - Springers „BZ", 19. Februar 1968.
Nach Schluß der Versammlung elektrisierte das Wort „Dutschke ist hier" noch einmal mehr als 1000 Personen. Unter Gejohle stürzte man sich zu dem vermeintlichen Aufenthaltsort des SDS-Ideologen ... Ein Bäckerladen wurde durchsucht, weil Dutschke angeblich dort sei. Man rüttelte an einem Polizeifahrzeug, weil er sich hier versteckt haben sollte. Schließlich wurde Dutschke in einem Geschäft für Grabsteine vermutet ... Mehr als 100 Polizisten mit gezogenen Schlagstöcken mußten die Masse davor zurückhalten, das Geschäft zu stürmen - „Die Welt über eine am 21. Februar 1968 vom Berliner Senat mitveranstaltete „Bürger-Demonstration
gegen den Vietnam-Kongreß.
Nach den Demonstrationen: Pogromstimmung in Berlin - „Die Zeit" vom 23. Februar 1968.
Die Fronten waren klar, die Akteure in Aktion - nicht nur in Saigon, nicht nur in Berlin. Es gab kein Halten mehr für die Menschen und Ereignisse, die das Jahr 1968 zum außergewöhnlichsten Jahr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs machen sollten - zu einem vulkanischen Jahr, das die herrschenden Ordnungen ins Wanken brachte, zu einem Jahr zwischen Tumult und Tragik, das beim Betrachter, der aus den blutarmen Tagen von 1988 darauf zurückblickt, oft blanke Ungläubigkeit hervorruft: Ist das wirklich alles passiert, was da passiert ist?
Wer es bewußt erlebt hat, trägt Erinnerungen aus jenem Jahr mit sich herum wie Teile eines ungelösten Riesenpuzzles: Bilder, Fernsehschemen, die scharfkantigen Fragmente selbsterlebter Realität - und über allem die ekstatischen Stimmen der Rocksänger und Bob Dylans Mundharmonika, The Times They Are A-Changin'. Da sind die Schuhe von Rudi Dutschke, die nach dem Attentat auf ihn neben dem Trottoir auf dem Kurfürstendamm liegengeblieben sind, von Neugierigen begafft. Bald darauf die tiefschwarze Rauchfahne, die aus brennenden Zeitungslieferwagen quillt und die erleuchtete Fassade des Berliner Springer-Hochhauses verdunkelt.
Da sind die Rauchwolken über Washington, die Amerikas Hauptstadt im April plötzlich wie ein Bürgerkriegsschlachtfeld aussehen lassen, als schwarze Gettobewohner, vom Mord an Martin Luther King empört, plündernd und brandschatzend bis in die Nähe des Weißen Hauses vordringen.
Die „Nacht der Barrikaden, von Bränden erhellt, einen Monat später in Paris. Aus dem Getümmel der Straßenkämpfe taucht die berauschende Vision auf, die jungen Aufrührer könnten den ungeliebten Staat des Charles de Gaulle ebenso zu Fall bringen wie einst die Erstürmer der Bastille den Absolutismus der Bourbonen. „Keiner, der dieses revolutionäre Herzklopfen in seiner Brust gespürt hat
, sagt Daniel Cohn-Bendit, „wird es je vergessen."
Da ist die Kamerafahrt durch das Dickicht ausgestreckter Arme und winkender Hände, die nach der letzten großen Hoffnung Amerikas greifen, nach Robert Kennedy, dem kleinen Bruder des ermordeten Präsidenten. Von allen Bewerbern, die Aussicht haben, 1968 zum Präsidenten gewählt zu werden, tritt er am überzeugendsten für ein Ende des Vietnamkriegs und für soziale Solidarität mit den Underdogs der US-Gesellschaft ein. Doch dann die Schreckenssequenz aus dem Hotel Ambassador, Los Angeles: Dichtgedrängte, sich duckende, kreischende Menschen; eine Gasse öffnet sich - Robert Kennedy liegt mit offenen Augen, noch bei Bewußtsein, am Boden. „Sind alle okay? fragt er. Aber er hat eine tödliche Kugel im Kopf, abgefeuert von einem jungen Jordanier, der sich dafür rächen wollte, daß Kennedy Israel unterstützt. Szenen der Verzweiflung bei den Kennedy-Anhängern: „Warum schießen sie alle unsere besten Männer tot?
Da sind die Panzer auf dem Wenzelsplatz zu Prag, in der Nacht zum 21. August 1968 hineingerollt in die CSSR, um den „Prager Frühling" plattzuwalzen; um die Meinungsfreiheit, die Alexander Dubceks Reformkommunisten waghalsig proklamiert haben, wiederaufzuheben; um die Tschechen zu hindern, aus dem Ostblock in die Neutralität abzudriften. Verlegen hocken die Sowjetsoldaten auf ihren Kampfwagen, rücken an ihren Käppis und schauen sich hilfesuchend um, während tschechische Frauen und