Herr Jonas erwartet Besuch
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Über dieses E-Book
Rainer Mauelshagen
Rainer Mauelshagen wurde im März 1949 geboren. In seiner Heimatstadt Wuppertal lebte er bis 1984. Von dort zog er im gleichen Jahr nach Vettelschoß in Rheinland-Pfalz. Rainer Mauelshagen ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder. Im Laufe seines Berufslebens übte er die unterschiedlichsten Berufe aus. Seit seinem Ruhestand widmet sich der Autor dem kreativen Schreiben. Der ganz eigene Schreibstil ist es, der seine Bücher in dem Sinne lesenswert macht, weil es dem Autor immer wieder gelingt, die Leser emotional in seine literarischen Erzählungen hineinzuziehen. Mit "Was bleibt, ist für die Ewigkeit" ist sein zehnter Roman erschienen.
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Buchvorschau
Herr Jonas erwartet Besuch - Rainer Mauelshagen
Dieses Buch widme ich meinen lieben Enkelkindern Luis,
Dennis, Laurine und Jan. Möge der neue Zeitgeist, den sie nun
beleben, in Zukunft nicht zu einem Schreckgespenst werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Anmerkung
Vorwort
Woran denke ich, wenn ich den prächtigen Namen höre?
Zunächst an den experimentellen Spielfilm »Jonas«, der 1957 die deutschen Kinobesucher verstört hat. Und an die Reality-Komödie gleichen Namens mit Christian Ulmen aus dem Jahr 2012. Dann an meinen liebsten Klassenkameraden, der eigentlich Johannes hieß, und prima Fußball spielen konnte, und den wir aus Begeisterung immer Jonas gerufen haben. Und natürlich an den Propheten im Alten Testament, der von einem Walfisch verschlungen wurde.
Denn auch dieser Jonas, der Titelheld des vorliegenden Buches, lebt im übertragenen Sinne im Bauch eines Walfischs, in einer dunklen Höhle der Selbstversunkenheit … nein, Stop!, dunkel ist die Höhle nicht. Sie ist vollgestopft mit der Helligkeit der Erkenntnis. Aber nicht nur mit dem Sonnenlicht, das durch die Fenster seiner Mansardenwohnung hereinfällt, sondern auch mit dem Licht vieler Erinnerungen, die der pensionierte Beamte Friedbert Jonas, der mit Schlaflosigkeit kämpft und immer noch für Recht und Ordnung kämpfen zu müssen meint, Tag für Tag sorgfältig aufeinander schichtet. Und der dabei an Gott und Welt denkt, buchstäblich gemeint.
Zudem: Der alte Herr Jonas ist ein guter Koch. Ja, sieh da! Gerade steht er am Ofen und bereitet ein üppiges Festmahl zu. Denn obwohl er einsam lebt – Frau und Kinder sind schon lange tot, und Krieg und Gefangenschaft hängen ihm noch immer in den Knochen –, erwartet er heute Besuch. Wichtigen Besuch. Überraschungsbesuch. Und da lässt er sich nicht lumpen. Erst schickt er alle weg, die ihm jetzt, da er den Gast erwartet, im Weg stehen: die aufdringliche Nachbarin, Frau Woyzeck, und sogar den Kanarienvogel Peterle, dem er die Freiheit schenkt. Dann widmet er sich dem Essen. Fertig! Wohliger Duft durchzieht die Wohnung. Auf wen wartet Herr Jonas im lichten Bauch des Walfischs? Auf einen unerwartet aus der Versenkung des Lebens aufgetauchten Freund? Auf eine heimliche Geliebte? Oder auf das letzte Abenteuer seines Lebens?
Norbert Heinrich Holl
Das Buch
Was ist Zeit? Zeit ist ein im Grunde unbedeutendes Vakuum, ein unsichtbares Nichts, das wir Menschen in dem Maße mit Leben füllen, wodurch die Anzahl der gemessenen Augenblicke zum Schicksal dessen wird, was wir hinlänglich als Gegenwart und Vergangenheit bezeichnen. Aber in Anbetracht unseres Intellekts, unseres geistigen Fortschrittsdenkens gezollt, ist selbst die Zukunft, wenn auch vage und verständlicherweise nur einem ideellen Wunschbild unterlegen, bereits mit zeitlich messbaren Visionen angereichert. Und immer da, wo sich die vom Menschen entworfene reale Zeit – die gelebte Zeit also – mit jenen zukünftigen imaginären Momenten ablöst, da sind die Grenzen des Zeitgeistes gezogen. Unzählige Generationen haben diese Abfolge erlebt und werden sie noch erleben. Und dabei wird es für den Einzelnen nie ein heimliches Hinübergleiten von diesem in jenen Zeitgeist geben, weil es einen strengen Grenzwächter gibt: das Alter!
Herr Jonas, ein hochbetagter Herr, muss an einem besonders herrlichen Sommertag feststellen, dass er zwar auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann, dass es für ihn aber keinen klaren Blick mehr in die Zukunft geben wird. Er ist im tiefsten Wesen seines Innersten auch nicht mehr neugierig darauf, denn schon die Gegenwart ist ihm völlig fremd geworden. Nichts, aber auch rein gar nichts hat mehr mit seinem gewohnten, ihm vertrauten Alltag zu tun, was ihn zum Zeitpunkt seiner Erkenntnis den Zorn, die Verzweiflung, aber auch die Resignation spüren lässt. Gleichfalls erschreckend ist für ihn die Tatsache, dass ihm zum Schluss, am Ende des Tages, nichts von seinen einstigen Träumen bleiben wird, außer der Hoffnungslosigkeit. Die hat ihm Hedwig, seine Frau, bereits vor Jahren in der Stunde ihres schrecklichen Todes als eine Art Vermächtnis hinterlassen. Seitdem lebt Herr Jonas mit seinem Wellensittich Peterle zurückgezogen hoch unterm Dach in einer schäbigen Mansardenwohnung und wäre er in der Vergangenheit nicht so ein Pedant und Querulant gewesen, keiner hätte in seiner Umgebung gewusst, dass es einen Friedbert Jonas gibt. Wo soll das noch hinführen?
Das alles muss ein für alle Mal ein Ende haben! Schließlich hat er eine wohlbedachte Entscheidung getroffen. Es gibt da jemanden, dem er bei einem opulenten Mahl und erlesenen Getränken all seine Nöte aufbürden will. Die Bereinigung all seiner Sorgen und die der unerträglichen Lebensumstände erwartet er an jenem verhängnisvollen Tag vom Erscheinen seines ihm noch unbekannten Besuchers.
»Man kann es nicht mehr leugnen, Land auf, Land ab sind unruhige Zeiten angebrochen! Auf wen oder was soll man noch vertrauen? Desgleichen beklemmt mich auf erschreckende Weise der Gedanke, dieser neuen, dem Menschen und seinen natürlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werdenden Welt eines Tages hilflos gegenüberzustehen, da alle wohlgemeinten Mahnungen in den Wind geschrieben sind!«
Zitat: Friedbert Jonas
»In der Gegenwart ist jede Stunde wie ein Stein, mit dem wir
unsere Vergangenheit erbauen. Darum lasst uns Paläste
errichten, dass auch die, die uns nachkommen werden, Zuflucht
in Frieden und Freiheit darin finden mögen.«
R. M.
I
Eigentlich versprach es, ein außerordentlich schöner Tag zu werden. Die Sonne zeigte sich schon früh am Morgen in dieser angenehmen Frische, wie man sie nur empfindet, wenn auch das innere Barometer auf heiter eingestimmt ist. In dem schäbigen Viertel, von dem hier die Rede sein wird, regte sich längst emsiges Leben.
Kinder rannten johlend mit ihren Tornistern auf dem Rücken zum bereits wartenden Schulbus. Ein Auto hupte warnend, weil eines der ungestüm rennenden Blagen vom Gehweg auf die Straße gestoßen wurde. Gehetzte Passanten eilten grußlos aneinander vorbei. Ganz in der Nähe knallte jemand fluchend eine Haustüre ins Schloss. Irgendwoher ertönte jaulend ein Martinshorn, und die Luft brummte eintönig vom Motorenlärm.
In einer kleinen Mansardenwohnung, hoch oben im vierten Stockwerk einer grauen Mietshäuserreihe, wurden knarrend die Läden geöffnet. Hier hauste seit fast ewigen Zeiten der alte Herr Jonas. Dieser streckte auch an diesem Morgen gewohnheitsgemäß seinen schmalen Kopf mit der markanten Hakennase aus der Fensteröffnung. Wie ein nach Beute spähender Raubvogel sah er dabei aus. Ein schriller Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel umherwirbelten, flutete in den schummrigen Raum hinter ihm. Müde rieb er sich die Augen, um besser sehen zu können, ob unter ihm alles mit rechten Dingen zuging.
Nachdem er augenscheinlich keine Besonderheit ausmachte, entfernte er sich schlurfenden Schrittes. Das Fenster ließ er offen, damit die abgestandene Luft der Nacht hinauswehen konnte. Das war sicherlich angebracht, denn auf der Couch in der eng begrenzten Wohnküche, unter der zudem ein benutzter Nachttopf hervorlugte, lag noch sein zerwühltes Bettzeug. Und neben der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr vom Vortag. Seit seine Frau vor Jahren auf so tragische Weise ums Leben gekommen war, vermied Herr Jonas es, im Schlafzimmer zu schlafen. Das kam daher, weil er sie kurz nach ihrem Tod leibhaftig am Fußende vor dem Bett stehen sah, wie sie ihm auf groteske Art und Weise zuwinkte. Danach schlug er seine Schlafstatt nur noch auf der abgewetzten, muffigen Sitzgelegenheit in der Stube auf. Nicht etwa aus Angst vor ihr, oder besser ausgedrückt: vor ihrem Geist, das sicher nicht. Er wollte endlich seine Ruhe vor ihr haben. Ja, es war über etliche Jahre hinweg anstrengend genug mit ihr gewesen, mit ihr und ihrer verfluchten, heimtückischen Krankheit. Einer Krankheit, die in ihrem Gehirn unersättlich die Erinnerung gefressen hatte, sodass er täglich mehr mit einer fremden Frau zusammenlebte, der er letztlich wegen ihrer feigen Flucht vor ihm und dem gemeinsamen Leben nur noch zürnte. Für die Ärzte war es Alzheimer, nichts weiter als eine Diagnose. Aber für ihn war es die Hölle auf Erden gewesen. Er konnte auf sie einreden, sie ermahnen, aber die Sinnlosigkeit seines Tuns blies wie ein Wirbelsturm in sein bis dahin aufgeräumtes Leben. In letzter Zeit allerdings plagte ihn ein immer wiederkehrender Gedanke. Der Gedanke an die andere Welt. Drüben, im Jenseits. Wie könnte er ihr jetzt noch mit reinem Gewissen gegenübertreten, würde er seine Reise dorthin antreten müssen? Gab es dann eine passable Entschuldigung für seine bösen Gedanken im Hier und Jetzt?
Das mit dem Schlaf war für Herrn Jonas überhaupt so ein schwieriges Thema. Obwohl er am Abend hundsmüde war, raubte ihm die Schlaflosigkeit so manche Nacht. »Sie werden Sorgen haben, mein Bester«, wusste der Hausarzt nur darauf zu sagen, wann immer Herr Jonas ihn daraufhin ansprach. Schließlich gab er ihm, ohne zu zögern und wieder und wieder, ein starkes Schlafmittel aus seinem Medikamentenschrank. Doch aus Furcht vor den vielen Nebenwirkungen nahm Herr Jonas die Tabletten nur, wenn es gar nicht anders ging. Folglich hortete er Packung für Packung in seinem ausrangierten Kühlschrank. Warum wegwerfen, dachte er sich.
Während Herr Jonas schwerfällig zwischen zwei Sesseln hindurch zur Anrichte schlich, wobei sein schmaler, asketischer Kopf mit den grauen, strähnigen Haaren regelrecht zwischen den hageren Schultern hin und her schaukelte, fiel sein Blick verächtlich auf ein zusammengeknülltes Schreiben, das neben einem nicht mehr ganz frischen Apfel in der Obstschale lag.
»So, Peterle«, sprach er mit hoch entstellter Stimme, indem er gleichzeitig ein Tuch aus dunklem Samt von einem Vogelbauer abzog, der dort auf dem altmodischen Möbelstück neben einem mickrigen Gummibaum stand. Versonnen betrachtete er den Vogel, der gerade in diesem Augenblick schlaftrunken die Flügel streckte.
»Hast gut geschlafen, ja? Bist mein liebes Peterle?«
Der Vogel legte ebenfalls den Kopf schief, wie es der Mensch tat, der nun kindisch feixend zu ihm durch die Gitterstäbe schaute. Gleichfalls einem Vogel nicht unähnlich aussehend, ließ Herr Jonas Speichel aus seinem gespitzten Mund direkt auf den dürren Zeigefinger triefen. Diesen steckte er schließlich durch die Käfigstangen. Umgehend tippelte der Piepmatz hinzu. Mit dem Schnäbelchen begann er sofort daran zu picken, als handele es sich dabei um einen köstlichen Nektar.
»So ist’s recht, mein Peterle, lass dir’s schmecken!« Nachdem er dem Tier eine Weile versonnen zugeschaut hatte, wie dieses spaßig mit seinem bunt gefiederten Köpfchen auf und nieder nickte, als bettele es um mehr, wandte Herr Jonas sich ab, um den Nachttopf zu leeren. Umständlich bückte er sich danach. Dann balancierte er das Gefäß mit zittriger Hand in Richtung Dielentüre. Im Türrahmen verharrte er plötzlich. Bis zum Abort, der sich wie zu anno Tobaks Zeiten im Flur eine halbe Treppe tiefer befand, war es wahrlich ein beschwerliches Unterfangen, wenn man den brisanten Inhalt berücksichtigte, der inzwischen in dem Topf ordentlich hin und her schwappte.
Während Herr Jonas überraschenderweise kehrt machte, bekam seine Miene etwas listig Entschlossenes. Die beiden scharfen Nasenfalten, die sich dabei wie gemeißelte Furchen am verhärmten Mund entlang bis fast in den rotfaltigen Hals zogen, ließen darauf schließen, dass ihm ein verschwörerischer Gedanke gekommen war. In resoluter Manier trat er vor das Spülbecken und leerte seinen trüben Nachturin verschmitzt lächelnd in den Ausguss. Er vermittelte dabei den Eindruck, als habe ihn der unsittliche Akt augenblicklich von etwas Seelenschwerem befreit. Wer Herrn Jonas einigermaßen kannte, der hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser stets korrekte, bis in die Knochen ordnungsliebende Mann zu solch einer ruchlosen Entgleisung fähig gewesen wäre. Aber was sollte das bedeuten?
Nun drohte er gar der Obstschale mit geballter Faust. »Dann erstickt doch in eurer Geldgier!«, zischte er. »Schweine verstehen eben nur Schweinereien.« Diese anstößige Tat, die eigentlich gegen alle guten Sitten verstieß, musste ihm vorgekommen sein, als würde er irgendjemandem heimlich die Zunge herausstrecken. Einmal im Leben etwas Unschickliches tun, das fühlte sich wohl recht ersprießlich an. Dass es im abgeschiedenen Kämmerlein geschah, tat der Sache offensichtlich keinen Abbruch. Achtundachtzig Jahre alt musste er werden, um sich wie ein frecher Lausbub darüber freuen zu können.
Herr Jonas ließ kurz kaltes Wasser aus der Leitung über den Nachttopf laufen, schwenkte diesen einigermaßen trocken und stellte ihn wieder aufstöhnend unter die Couch. Dann fingerte er nervös das Schreiben aus der Obstschale und faltete es mit flattriger Hand auseinander. Wohl zum soundsovielten Male tat er es, seit der Schrieb vor vier Tagen im Kasten lag. Dabei schüttelte er den Kopf. Dieser Brief schien ihn regelrecht aus der Fasson zu bringen.
»Obendrein müsste man denen noch in den Siphon scheißen, damit sie vom Gestank ihrer eigenen Habsucht angewidert sind«, brabbelte er vor sich hin. »Hast gehört, Peterle, rausschmeißen will man uns.« Gleichzeitig fuchtelte er mit ausgestrecktem Arm in der Luft herum, sodass der Wisch wie eine feindliche erbeutete Standarte hin und her wedelte. »Uns einfach vor die Türe zu setzen wie nutzlosen Sperrmüll. Eigentumswohnungen wollen sie an dieser Stelle errichten, damit ihre dressierten Geldscheißer einziehen können.«
Der Alte wollte sich gar nicht beruhigen, doch der Vogel blieb stumm. Schließlich knüllte Herr Jonas das ultimative Einschreiben von der neuen Wohnungsbaugesellschaft, einem ausländischen Investor, wiederum