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Die Dreizehnte Fee: Entschlafen
Die Dreizehnte Fee: Entschlafen
Die Dreizehnte Fee: Entschlafen
eBook358 Seiten3 Stunden

Die Dreizehnte Fee: Entschlafen

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Über dieses E-Book

"Keine Geschichte sollte endlos währen. Es muss ein Ende geben. Es gibt immer eines." Die Königin der Feen steht einem neuen Feind gegenüber, der noch mächtiger scheint als alle Schwestern zusammen. Es gibt nur einen Weg ihn aufzuhalten: Lillith muss ihre Kräfte zurückerlangen und zu dem werden, was sie am meisten fürchtet. Doch wer ist wirklich Freund und wer ist Feind? "Wohin gehst du?", rufe ich und will ihn am liebsten aufhalten. "Jagen", antwortet er kurz angebunden, dann verschwindet er und lässt mich zurück. Er gibt mich frei. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Aber unsere scheint vorbei.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Aug. 2016
ISBN9783959912334
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    Buchvorschau

    Die Dreizehnte Fee - Julia Adrian

    Zur Erinnerung

    Die verstorbenen Feen:

    Die Brunnenhexe

    Das Rattenbiest

    Die Kinderfresserin

    Die Giftmischerin

    Die Meerhexe

    Das Orakel

    Verbleiben unter den Lebenden:

    Die Siebte Fee

    Die Drachenreiterin

    Die Rabenmutter

    Die Zwillinge

    Die Eishexe

    Die Dreizehnte Fee

    Und nun eine Warnung an all jene, die gerne die letzten Seiten zuerst lesen, bevor sie mit der Geschichte beginnen:

    TUT ES NICHT!

    Denn sonst verliert die Geschichte ihren Zauber.

    Und solltet ihr es doch tun, so kann ich guten Gewissen sagen: Ich habe euch ja gewarnt.

    In diesem Sinne:

    Lasst euch verzaubern!

    Prolog

    Im Tümpel hinter dem Dorf lauert der Tod. Doch die Kinder, die sich ihm spielend nähern, wissen es nicht. Niemand weiß es, denn das Wesen, das in ihm haust, lebt erst seit Kurzem dort und doch lange genug, dass die Einsamkeit schrecklich groß geworden ist. Es sehnt sich danach, ein altes Spiel zu spielen, eines, das zu seinem Leben gehört wie die Sterne zu der Nacht. Und als es die fröhlichen Schritte hört und das Lachen der Kinderstimmen, da taucht es auf. In seinen Augen glimmt das Mondlicht, die Haare lang wie Seetang. Vorfreude lässt die Lippen über die gebleckten Zähne weichen zu einem grotesken Lächeln – und es beginnt zu singen.

    Das Grab im Schnee

    Der Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel. Sie scheinen friedlich und doch bringen sie den Tod – und sie verhüllen ihn. Die rote Spur im Schnee verblasst nach und nach, der steife und verrenkte Körper schwindet unter einer flauschigen, weißen Schicht. Als würde die Eishexe ein Leichentuch um ihn spinnen, um mir den grausamen Anblick zu ersparen.

    Erneut ist die Welt von einer Fee befreit, einer Hexe, wie sie uns nennen. Die Liste der Verstorbenen wächst und wächst: Kinderfresserin, Giftmischerin, Meerhexe, Brunnenhexe und Rattenbiest, jetzt auch das Orakel. Die Menschen kennen ihre wahren Namen nicht, sie wissen nicht, wie sie wirklich waren, und eines Tages, wenn auch die letzten sieben von uns Feen vergangen sind, dann wird es niemanden mehr geben, der sich an uns erinnert – außer den Märchen, die von uns erzählen, von den Monstern, zu denen wir geworden sind. Dabei waren wir einst nichts weiter als Kinder, zufällig geboren mit den Merkmalen der Feen: Haut so weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und Lippen so rot wie Blut. Schneewittchenschönheit – oder besser: Schneewittchenfluch, denn Kinder wie wir wurden gejagt und getötet, weil die Magie in unseren Adern den Menschen Angst einflößte. Und so machten sie sich uns zu ihrem ärgsten Feind. Wir wurden zu ihren Königinnen, Tyrannen und Mördern, und lange Zeit wähnten wir uns unsterblich. Wir sind es nicht.

    Kassandra ist tot. Sie starb meinetwegen.

    Die Bäume, welche die Lichtung des Turms umschließen, verstummen, als ich mich ihnen nähere. Sie erkennen die einsame Gestalt, die sich mühsam durch den kniehohen Schnee kämpft, die grausige Fracht hinter sich herschleifend. Sie erkennen die Königin. Sie erkennen mich.

    Die Tränen auf meinen Wangen sind längst gefroren. Ich kann nicht mehr weinen.

    Kassandras Haut fühlt sich warm an, doch ich weiß, dass es nur ein Abbild meiner eigenen schwindenden Wärme ist. Denn wenn ich mit den Fingern an ihrem Knöchel ein Stück tiefer gleite, ist sie eiskalt. Ich habe sie verloren. Nicht heute, als sie aus dem Fenster des Turmes in den Tod stürzte, sondern vor vielen, vielen Jahren, an einem Tag im Frühling, als wir zusammen im Wald saßen und sie mir die Karten legte. Dorthin bin ich unterwegs, um meine Schwester, mein Kind zur letzten Ruhe zu betten.

    »Wir sind gleich da«, murmele ich in die fallenden Flocken, als könnte Kassandra es noch hören. In Wahrheit ertrage ich schlicht die Stille des Waldes nicht. Als würden die Bäume mich mit ihrem Schweigen strafen – und verurteilen.

    Ich könnte den magischen Ring drehen, den sie mir kurz vor ihrem Tod schenkte, und wäre sofort auf der Lichtung, tue es aber nicht. Vielleicht muss ich die beißende Kälte an den Beinen spüren, den mit jedem Schritt schlimmer werdenden Schmerz in all meinen Gliedern, damit ich den im Herzen ertragen kann. Vielleicht ist das meine verkorkste Art, mich selbst zu strafen.

    Die Äste biegen sich uns unter der Last des Schnees entgegen, als würden sie sich verneigen. Vielleicht tun sie es auch. Sie weisen den Weg über die einst vom Mohn rot gefärbte Wiese. Jetzt färbt sie nur die blutige Spur des Orakels.

    Schluchzend beschleunige ich die Schritte, haste durch den Schnee und kann meiner Schuld doch nicht entkommen. Sie hat mich eingeholt und fest im Griff. Ich werde einen Weg finden müssen, damit zu leben oder daran zugrunde zu gehen.

    Das schützende Dach des Waldes umfängt uns, der Schnee wird flacher. Der gefrorene Waldboden knirscht unter den Füßen. Ein poröser Ast knackt. Irgendwo wispern ein paar Wichtel. Eine Elfe kreuzt den Weg, die Augen matt schimmernd. Sie blickt gehetzt zu mir, ehe sie seltsam taumelnd im schneebedeckten Geäst entschwindet. Der unnatürliche Winter der Eishexe macht allen zu schaffen. Er raubt dem Leben die Kraft. Er raubt sie mir.

    Der Körper des Orakels bleibt an einer Baumwurzel hängen. Ich zerre, falle, ihre Füße rutschen mir aus den Händen und landen im Schnee. Dann liegt Kassandra da, halb bedeckt, und doch ist der schreckliche Zustand ihres Körpers nicht zu übersehen. Sie muss furchtbare Qualen durchlitten haben.

    Der Hals schnürt sich mir zu, als ich an das kleine Kind von früher denke, das sie einst gewesen ist. Ich robbe zu ihr, ziehe den steifen Arm unter der Wurzel hervor. Er ist seltsam schwer und von schwarzen Beulen überzogen. Der Verband an ihrem Handgelenk verrutscht, als ich sie erneut zu packen versuche. Darunter … ist nichts!

    Ich fahre hoch, die Hände um den erkalteten Arm meiner Schwester geschlungen, dem das Hexenmal fehlt! Es fehlt, weil es mitsamt der Haut entfernt wurde.

    »Uhrmacher«, flüstere ich und weiß, wo es mich als Nächstes hintreiben wird, zu ihm, demjenigen, der die Hexenmale all meiner Schwestern sammelt. Er war Kassandras Vertrauter, ihr Diener, vielleicht weiß er mehr, als er bisher sagte. Ich brauche Antworten. Er muss sie mir geben. Denn auch wenn ich mich erinnere, wer ich einst war, begreife ich noch nicht, wieso ich erweckt wurde. Ich war die Feenmutter und deshalb ist es umso unverständlicher.

    Ja, antwortet die Königin tief in mir drin. Ja, das ist es.

    Plötzlich kann es nicht mehr schnell genug gehen. Ich drehe den Ring, den Kassandra einst stahl und während meines tausendjährigen Schlafes trug und der nun wieder an meiner Hand steckt, dort, wo er hingehört. Einen Wimpernschlag später befinden wir uns auf der Lichtung, wo wir vor so vielen Jahren auf einer roten Decke saßen und sie mir die Zukunft prophezeite. Heute ist alles weiß. Ich streiche kurz über Kassandras Finger, ehe ich mich von ihr löse und aufrichte. Meine Beine schmerzen, die Füße gleichen eisigen Klumpen.

    »Ich komme zurück«, wispere ich in die Nacht. »Es dauert nicht lang. Versprochen!«

    Erneut drehe ich den Ring und die Lichtung mit all den Erinnerungen an Kassandra und die Prophezeiung verschwindet. Stattdessen sehe ich die Umrisse einer kleinen Hütte durch den fallenden Schnee und andere Erinnerungen kommen hoch, von einer ebenso kalten Nacht und wärmenden Armen, die mich so eng trugen, so sicher. Er brachte mich in das Haus der Sieben. Sie ließen uns ein, weil er ihr Freund ist. Ich bin es nicht. Mich werden sie nicht hineinlassen und das will ich auch gar nicht. Ich strebe der Hütte entgegen, hinter deren beschlagenen Scheiben ein bläuliches Licht funkelt und muntere Stimmen zu hören sind. Eine Wand ist neu vernagelt, dort, wo der Nordwind eindrang, als ich den Schutz der Sieben brach. Ein einzelner Moment der Schwäche, in dem ich mir vorgestellt hatte, wie es sei, dort auf ewig zu leben, mit ihm, dem Hexenjäger; der Gedanke an eine Zukunft, die niemals sein kann, hatte ausgereicht, um der Eishexe den Weg zu öffnen. Fast, aber nur fast, wäre es das Ende der sieben Männer gewesen. Die letzten Nachfahren des Volks unter dem Siebengebirge hatten mir Schutz geboten und ich dankte es ihnen, indem ich sie fast ausrottete. Doch sie leben noch. Ich kann sie reden hören: Der Koch singt ein Lied, während zwei andere sich über irgendeine Suppe streiten.

    Mit jedem Meter, den ich mich der Hütte nähere, wird es schwerer weiterzugehen. Der Schutz der Sieben wirkt bereits außerhalb. Der Zauber will mich hindern, ihnen zu nahe zu kommen und ihnen zu schaden.

    »Ich komme in guter Absicht«, flüstere ich, doch der Zauber ist stark. Meine Beine beginnen zu zittern, die Welt schwankt. Mit größter Not zwinge ich den Arm empor und klopfe an die notdürftig reparierte Tür. Sofort wird es gespenstisch still im Haus.

    Sie erwarten keinen Besuch, nicht jetzt, wo der Winter alles in Eis gehüllt hat. Sie beginnen leise zu tuscheln, wundern sich und beratschlagen, ob sie die Tür öffnen sollen oder lieber nicht.

    »Ich bin es!«, rufe ich laut. »Ich kam mit dem Hexenjäger. Heute bin ich ohne ihn hier.«

    »Was willst du?«, schallt dumpf die Stimme des Ältesten zurück. Ich sehe ihn fast schon vor mir mit den vielen goldenen Ringen im Bart. »Wenn du gekommen bist, um erneut Einlass zu erbitten, so hast du den Weg umsonst gemacht.«

    »Nein, nein. Ich will nur einen Spaten.«

    »Einen Spaten?«, höre ich den Koch ausrufen.

    »Wofür braucht sie einen Spaten?«, fragt der Jüngste.

    »Ich … muss meine Schwester begraben.«

    Eisiges Schweigen, das fast kälter ist als der Winter selbst, legt sich um die Hütte. Sie werden mir nicht helfen und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Gerade als ich mich abwende, öffnet sich die Tür einen Spaltbreit.

    »Du kannst nicht hinein!«, warnt mich der Älteste sofort. »Der Zauber wirkt auch bei geöffneter Tür.«

    »Ich weiß«, erwidere ich nur matt. »Ich habe ihn geschaffen.«

    Er zögert, dann zieht er die Tür weiter auf. Die anderen starren mir aus blassen Gesichtern misstrauisch entgegen.

    »Welche Schwester?«, fragt der Koch.

    Für einen Moment glaube ich, dass ich ihren Namen nicht hervorbringen kann, doch dann formt meine Zunge ihn langsam und schwer. Die Männer erblassen noch stärker.

    »Das Orakel ist tot?«, flüstert der Koch und wirkt, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

    »Ja«, sage ich und fühle mich unendlich erschöpft. Die Kälte raubt mir alle Kraft. Ich beginne, am ganzen Körper zu zittern, nicht wissend, was mich aufrecht hält, aber ich schaffe es, stehen zu bleiben. Ich muss erbärmlich aussehen – schwach und erbärmlich, denn in den Augen der Sieben funkelt Mitleid.

    »Peter, hol einen Spaten.« Der Älteste nickt langsam. »Und eine Spitzhacke. Bei dieser Kälte ist der Boden hart wie Stein.«

    Ich bin ihre Feindin und doch helfen sie mir. Im Nu erscheint der Koch namens Peter wieder an der Tür und wirft einen Spaten und eine Hacke hinaus. Sie bleiben wachsam. Steif bücke ich mich, greife nach dem Werkzeug.

    »Wo ist der Hexenjäger?«, fragt einer.

    »Hat er die Wasserstadt von der Giftmischerin befreit?«, fragt ein zweiter.

    »Und die Nixen auf den Grund des Meeres verbannt?«, ruft ein dritter.

    »Wir haben viel gehört«, sagt der Älteste und hebt die Hand, ehe er hinzufügt: »Die Schreie unter den Bergen sind verstummt.« Unausgesprochen hängt die Frage in der Luft, deren Antwort sie bereits zu ahnen scheinen.

    Es ist der Jüngste, der es schließlich wagt. »Sie ist tot, nicht wahr? Die Kinderfresserin?«

    Ich nicke. Sie seufzen.

    »Danke«, sagt der Älteste nur, ehe er ganz langsam die Tür ins Schloss fallen lässt. Dann bin ich allein in der Kälte und der aufsteigenden Dunkelheit. Der Abend graut. Ich muss mich beeilen. Trotzdem betrachte ich für einen Moment wehmütig die erleuchteten Scheiben, die Vierecke aus Licht in den Schnee zeichnen und behagliche Wärme versprechen, die mir verwehrt bleibt.

    »Danke«, sage auch ich, ehe ich den Ring drehe und das Haus am Siebengebirge zurücklasse, um zur Lichtung zurückzukehren.

    Auf den ersten Blick ist das Orakel nicht mehr zu sehen, doch sie ist noch da – eine sanfte Erhöhung des Schnees im ansonsten flachen Grund. Ich knie neben ihr nieder, streiche den Frost von ihrem Gesicht. Aus leeren Augen scheint sie an mir vorbeizublicken. Schneeflocken verfangen sich in den dunklen Wimpern, wie Sterne am Himmel.

    Dann wende ich mich ab, befreie ein großes Stück Waldboden vom Schnee und beginne, mit der Hacke hineinzustoßen. Ich habe keine Ahnung, woher die Kraft kommt, mit der ich unermüdlich zuschlage, immer und immer wieder, bis die ersten steinharten Brocken sich aus dem Erdreich lösen. Ich weiß nur, dass ich keine Wahl habe. Wenn ich sie nicht begrabe, wird es niemand tun. Sie muss unter die Erde und ihren Frieden finden. Wenigstens das schulde ich ihr. Und so hebe ich mit steifen Fingern die schwere Spitzhacke über den Kopf und lasse sie niedersausen, während die Schneeflocken unbeschwert tanzen. Ich ahne, dass die Eishexe jeden meiner Schritte beobachtet, so wie sie es schon immer tat, und frage mich, was sie wohl glauben mag. Ob sie es für einen Akt der Reue hält?

    Doch meine Schuld wiegt zu schwer und nichts könnte meine Taten ungeschehen machen. Selbst wenn ich bis in alle Ewigkeit Gräber schaufeln würde, wären es nicht genug für die Opfer meiner Tyrannei.

    »Soll ich dir helfen?«

    Ich blicke auf, lasse die Spitzhacke sinken. Vor mir steht der Mogul. Sein Teppich liegt seltsam bunt auf dem Schnee. Er beobachtet mich aus dunklen Augen, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. »Ich könnte dir ein Grab in wenigen Sekunden schaffen.«

    »Nein, danke.« Ich hebe die Hacke, ramme sie erneut in die Erde und untermale jedes meiner Worte mit einem Schlag. »Was willst du?«

    »Nach dir sehen.«

    »Du hast mich gesehen, also geh.«

    »Warum denn so unfreundlich?«

    Ich würde schnauben, wäre ich nicht so erschöpft. »Beim letzten Mal hättest du mich beinahe getötet.«

    »Dich getötet?« Er klingt ehrlich überrascht, dann grinst er. »Ah, der Kuss. Ich verstehe. Ich nahm dir nur ein bisschen deiner Kraft, nicht der Rede wert. Glaub mir, so leicht bist du nicht totzukriegen. Es war … zu verlockend für mich.«

    Ich spüre, wie er seine Magie aussendet und damit meinen Körper umhüllt, wie er es schon einmal im Lager der Räuber tat. Kurz schließe ich die Augen, denn sie ist herrlich wohltuend, fast schon beschützend. Sie vertreibt die Kälte und bringt zärtliche Wärme. Aber sie ist nicht von dem, den ich will.

    »Lass das«, fauche ich den Mogul an und schüttele mich. Doch weder die Wärme noch die Gedanken an den Hexenjäger kann ich vertreiben.

    »Wenn ich dir schon nicht beim Graben helfen darf …«, meint er nur schulterzuckend und lässt die Magie weiter über meine Haut fließen. Wie eine zarte Liebkosung.

    Kurz funkele ich ihn an, beschließe dann, ihn einfach zu ignorieren und greife nach dem Spaten. Ich spüre, wie seine Magie mir Kraft gibt. Der Spaten liegt fest in der Hand, die Finger erwärmen sich. Ungewollt bin ich ihm dankbar. Aber nur ein wenig. Und nur für einen Moment.

    Während ich die Erdklumpen aus dem rechteckigen Loch im Boden schaufele, sucht sich der Mogul einen Sitzplatz. Er wählt einen umgestürzten Baum, den er kurzerhand vom Schnee befreit.

    »Das Orakel ist also tot«, sagt er nach einer Weile. »Hast du sie getötet?«

    »Nein.«

    Er nickt, als würde er verstehen. »Ich dachte mir schon, dass sie es früher oder später selbst tun würde. Ich sah es in ihrem Blick.«

    »Ach?« Überrascht hebe ich die Brauen und verharre mit der Arbeit.

    »Der Schmerz muss unerträglich gewesen sein. Es wundert mich, dass den anderen Feen nichts aufgefallen ist. Dabei war es doch so offensichtlich.« Er verstummt für einen Moment, ehe er fortfährt. »Ihr Tod ändert natürlich einiges.«

    »So?«

    »Oh ja.«

    »Und zwar?« Ich stütze mich auf den Spaten, um ihn zu fixieren. Er grinst. In seinen Augen tanzen die Schatten – wie sie auch in meinen waren.

    »Du wirst nie erfahren, warum sie dich erwecken ließ, es sei denn …«

    »Es sei denn was?«

    Sein Grinsen wird eine Spur breiter. »Es sei denn, er verrät es dir.«

    »Er?«

    »Der Hexenjäger natürlich.«

    Ich runzele die Stirn, mustere ihn, nicht sicher, ob ihm zu trauen ist. »Wieso sollte er es wissen?«

    »Er weiß so viel mehr, als du glaubst.« Geschwind steht er auf und kommt mit drei großen Schritten herüber. Auf einen Wink seiner Finger fährt das Erdreich auseinander, öffnet sich zu einem tiefen Grab, für das ich noch Stunden gebraucht hätte.

    »Keine Ursache«, sagt er nonchalant, ehe er eine Hand an meine Wange legt. Ich will zurückweichen, doch seine Magie hält mich gefangen. Hilflos stehe ich da und sehe in Augen, die mich seltsam schaudern lassen, denn sie sind den meinen zu ähnlich. Denen der Königin, voller Abgründe.

    »Ich an deiner Stelle würde mich mit dem Zuschaufeln beeilen, denn bald wird es stockfinster sein und einem wehrlosen Mädchen kann im Wald so viel passieren.« Er lacht, ehe er kurz mit den Lippen die meinen berührt. Nur für eine Sekunde, und doch merke ich, wie ein Teil meiner Kraft schwindet. Als er sich löst, schmerzt die Trennung fast körperlich. Für einen Moment stehen wir einfach nur da und blicken uns an.

    »Ich verstehe, was er an dir findet«, sagt er schließlich sehr leise und ungewöhnlich ernst. Dann dreht er sich um und steigt auf den Teppich. Einen Augenblick später ist er entschwunden.

    Er nannte mich ein wehrloses Mädchen. Ganz unrecht hat er nicht, denn ich bin nicht nur meiner Magie beraubt und all der Fähigkeiten, die sie mit sich bringt, sondern auch noch durch den Eissplitter in meinem Herzen eingeschränkt. Er verhindert, dass ich die Magie meiner Schwestern lenken und sie vernichten kann. Wenn sie sich nicht selbst vernichten …

    Ich blicke zu dem schwarzen Loch und mir wird schlecht. Der Spaten gleitet aus meinen Fingern, fällt dumpf neben die Hacke. Der Zeitpunkt des Abschieds ist viel zu schnell gekommen. Einen Augenblick lang bin ich versucht, das Grab zuzuschütten und es selbst erneut auszuheben, nur um mehr Zeit zu gewinnen. Der Gedanke, dass sie dort unten liegt, während ich ihren Körper Schaufel für Schaufel mit schwarzer Erde bedecke, schnürt mir die Kehle zu.

    »Du weißt, dass es nicht anders geht«, flüstere ich. Mir bleibt keine Wahl, wenn ich nicht will, dass die Tiere sich an ihr nähren. Die anderen Feen könnten ihr ein passenderes Begräbnis bereiten, doch ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Die Drachenreiterin will meinen Tod, während die Rabenmutter mich gegen das Versprechen, sie möge die Letzte sein, verschonte. Was die Eishexe in mir sieht und warum sie mir aus dem Palast zu fliehen verhalf, verstehe ich kaum, und wo die Zwillinge und die unscheinbare Siebte Fee sind, weiß ich nicht. Nein. Die Feen sind keine Alternative.

    So bleibt mir nur der Wald. Der Wald und das Grab vor meinen Füßen. Zu viele habe ich in meinem Leben ausgehoben, ein jedes für ein Feenkind, das in meinen Arm starb. Ich schwor mir, niemals wieder eines beerdigen zu müssen und nun liegt Kassandras Leiche neben mir und wartet darauf, dass ich sie der Erde übergebe. Ich greife nach ihren Armen, ignoriere die Kälte ihrer Haut und schleife sie über den Rand. Sie ist schwer. Der Tod ist schwer.

    »Verzeih mir, Kassandra«, flüstere ich und lasse sie behutsam hinabgleiten, bis sie am Grunde liegt. Ich versuche, die Hände friedlich über der Brust zu falten. Doch sie strahlt keinen Frieden aus. Nur Qualen. Alles an ihr schreit die Qualen hinaus, die sie vor ihrem Ende erleiden musste. Sanft schließe ich ihre Lider.

    »Du hast mir die Liebe prophezeit, dabei war sie die ganze Zeit schon da. Ich habe es nicht verstanden. Aber jetzt verstehe ich es, Kassandra. Du hast mir die Karten gelegt – zwölf Schwestern. Ihr standet nicht für den Dornröschenzauber, nein, den hätte ich auch allein vollbringen können, ich dachte nur fälschlicherweise, dass ich es in eurem Beisein tun musste. Jetzt erst begreife ich, dass ihr für die Liebe standet.« Meine Stimme wird brüchig. »Ich habe euch geliebt … Ich habe dich geliebt.« Für einen Moment ersticke ich beinahe. »Kassandra«, flüstere ich und lasse sie gehen.

    Dann greife ich mit bebenden Händen zum Spaten und hoffe inständig, dass es das letzte Grab sein mag, das ich schließe. Doch in meinem Herzen nistet die Furcht, dass sechs weitere folgen werden.

    Der neue König

    Hoffnung ist überall, sie hängt wie ein stickiger, süßer Gestank in den nächtlichen Gassen der Wasserstadt, die einst vom Geruch der Angst durchflutet waren. Die Angst ist mir lieber, gab sie mir doch ein Gefühl der Vertrautheit. Diese kindliche Freude hingegen, die in den trunkenen Augen all der Menschen glänzt, die mir in den engen Gassen und Straßen entgegenkommen, lässt mich schaudern. Sie feiern noch immer den Sieg über die Giftmischerin. Sie feiern den Tod. Die Schankstuben sind überfüllt, Betrunkene liegen sich lallend in den Armen, überall erklingt Musik.

    Ich bewege mich schnell, hoffe, dass niemand auf die Gestalt im weißen Leinenkleid achtet. Im Vorbeigehen schnappe ich mir einen Mantel, der achtlos über der Lehne eines verwaisten Stuhles hängt. Sein Besitzer ist irgendwo in den Massen, zu beschäftigt und vielleicht auch zu betrunken, um den Verlust zu bemerken. Eilig schlage ich die Kapuze über den Kopf und verberge mein Gesicht im Schatten, genauso das Kleid, das mir die Prinzen der goldenen Stadt gaben. Ich weiß nicht, ob die Feiernden mich als Fee erkennen würden. Wahrscheinlich nicht, denn die Nacht hängt schon tief über der Wasserstadt. Nur die Feuer in den offenen Kaminen der Wirtshäuser durchbrechen das Dunkel, erhellen die Fenster und zeichnen Quadrate aus Licht auf die Kopfsteinpflaster der Straßen. Vorsichtig husche ich unter den erleuchteten Scheiben entlang, bemüht, nicht in den Lichtschein zu treten. Zwei Dirnen torkeln kichernd aus einer Taverne, die Lippen geschwollen, die Haare zerzaust. Sie hatten eine gute Nacht. Die Freude über das Ende der Hexe lockert die Geldbeutel und die Stimmung. Für sie alle beginnt ein neues Leben. Doch der Alltag wird sie einholen, früher oder später, und sie werden begreifen, dass ein Tyrann immer nur durch einen weiteren Tyrannen ersetzt wird.

    Im selben Moment öffnet sich die Tür des Wirtshauses gegenüber und spuckt eine Gruppe schwarz gekleideter Männer auf die Straße. Ich erkenne die drei Hexenjäger sofort, die in der Mühle Karten spielten und von denen einer versuchte, mich zu töten.

    Sollten sie nicht am Grunde des Ozeans liegen?

    Eine Frau ruft ihnen etwas Obszönes hinterher. Der Wirt lädt sie zum nächsten Abend erneut ein. Sie werden gefeiert wie Helden. Als hätten sie selbst die Wasserstadt von der Herrschaft meiner Schwester befreit. Ihnen folgt ein Mann, der mir genauso bekannt ist. Langsam gleite ich tiefer in den Schatten und halte den Atem an.

    »Viktor«, hauche ich lautlos. Der Anführer der Hexenjäger lebt. Statt der gewohnten Rüstung trägt er jedoch ein prächtiges Hemd, die Ärmel bestickt mit allerlei Gold. Es reflektiert den Schein des Feuers. An seinem Arm hängt eine Frau, die kaum alleine gehen kann. Dutzende Menschen rufen ihm hinterher. Die Frau an seiner Seite gackert. Umringt von den Brüdern schlendert er die Gasse hinauf und kommt mir dabei ganz nah. Weder er noch die anderen bemerken mich.

    »Eure Majestät«, höre ich seine Begleitung kichern.

    Es braucht einen Moment, bis ich begreife, was das bedeutet. Viktor ist der neue Monarch der Wasserstadt, so wie er es schon im Heim der Hexenjäger geplant hat. Doch ich dachte, sie seien tot, hinfort gespült vom Fluss, ertränkt von den Nixen und Meerjungfrauen? Wenn er … wenn er überlebt hat, dann vielleicht auch …?

    »Elle«, flüstere ich und will ihm hinterherstürzen, als sich eine Hand um meinen Arm schließt.

    »Nicht jetzt«, raunt der Uhrmacher. »Komm mit. Ich warte schon eine Weile auf dich.«

    »Aber …«

    »Frag mich alles, was du wissen willst, sobald wir in der Uhrmacherwerkstatt sind«, unterbricht er und dirigiert mich sanft in die entgegengesetzte Richtung. Viktor und die Hexenjäger verschwinden aus meinem Blickfeld.

    »Sie leben?«, frage ich flüsternd.

    Der Uhrmacher nickt nur und lotst mich durch das Labyrinth der Gassen, bis wir unter der schwankenden Laterne seines Ladens stehen. Sofort schließt er die Tür auf und verschwindet im Innern. Ich werfe einen letzten Blick auf die ausgestorbene Gasse und denke an die Männer, die ich tot geglaubt hatte. Und an das Kind. Ich denke an Elle.

    »Sie leben«, flüstere ich erneut und trete ein. Das Ticken hallt mir entgegen, nimmt mich gefangen in seinem unermüdlichen Rhythmus, wie das Schlagen Tausender Herzen, wie der Puls des Lebens.

    »Was ist mit Elle?«

    »Alles zu seiner Zeit«, sagt der Uhrmacher und zeigt zum Tresen. Er zieht einen alten Stuhl hervor und bittet mich, Platz zu nehmen. Er ist seltsam still. Dann setzt er sich selbst hinter den Tresen und entzündet zwei Kerzen. Die Flammen flackern kurz, ehe sie Ruhe finden. Das sanfte Licht reicht kaum bis zu den Wänden. Nur schemenhaft zeichnen sich all die Uhren ab, deren Schläge den Raum füllen, mir durch Mark und Bein gehen. Doch ist da gleichzeitig eine Stille, die mir die Luft nimmt. Erst als er eine kleine Uhr direkt neben die Kerzen stellt, begreife ich, dass es Trauer ist, die den Uhrmacher umgibt. Trauer um den Tod des Orakels. Und ich erkenne, dass wir erst über sie sprechen müssen, ehe ich Antworten über Elle bekomme.

    »Ihr habt es gewusst?«

    »Ja«, sagt er leise und streicht mit den Fingern über das Glas der Uhr, deren Zeiger stillstehen. »Ja, ich wusste es.« Die Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. »Ich dachte, uns würde noch ein bisschen mehr Zeit verbleiben, aber sie verrann unendlich schnell.«

    »Uns?« Ich bemerke die Zärtlichkeit, mit der er die verstummte Uhr auf dem Tisch berührt.

    »Ich war noch ein Kind, als sie mich auserwählte, ein Uhrmacher zu sein. Es war eine große Ehre.« Er scheint mich nicht wahrzunehmen, hat nur Augen für die Uhr, deren Schlag nie wieder erklingen wird, da er zusammen mit dem Herzen meiner Schwester verstummte. »Ich verließ meine Familie, um bei ihr das Handwerk des Uhrmachers zu erlernen, so wie es seit ewigen Zeiten Tradition ist.« Einen Moment schweigt er, versunken in Erinnerungen, dann blickt er auf. Er sieht müde aus, alt und müde. Schwere Ringe ziehen sich unter seinen Augen entlang. »Sie war keine Hexe, sondern ein Wesen voll Güte und …

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