Zum Problem der Einfühlung: Das Wesen der Einfühlungsakte, Die Konstitution des psychophysischen Individuums & Einfühlung als Verstehen geistiger Personen
Von Edith Stein
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Buchvorschau
Zum Problem der Einfühlung - Edith Stein
Lebenslauf
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Die vollständige Arbeit, der die folgenden Ausführungen entnommen sind, begann mit einer rein historischen Darlegung der Probleme, die in der vorliegenden Einfühlungsliteratur nacheinander aufgetaucht sind: der ästhetischen Einfühlung, der Einfühlung als Erkenntnisquelle für fremdes Erleben, der ethischen Einfühlung usw. Ich fand diese Probleme, die ich in meiner Darstellung schied, in der Behandlung miteinander vermengt und außerdem ungetrennt voneinander die erkenntnistheoretische, die rein deskriptive und die genetisch-psychologische Seite der genannten Probleme. In dieser Vermengung sah ich den Grund, der einer befriedigenden Lösung bisher im Wege gestanden hat. Es schien mir notwendig, zunächst das Grundproblem herauszulösen, von dem aus sich alle andern verstehen lassen, und es einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Diese positive Arbeit schien mir zugleich erforderlich als Fundament einer kritischen Stellungnahme zu den bisherigen Ergebnissen. Als dieses Grundproblem erkannte ich die Frage der Einfühlung als Erfahrung von fremden Subjekten und ihrem Erleben. Diese Frage wird in den nachstehenden Ausführungen behandelt. Ich bin mir dabei sehr wohl bewußt, daß die positiven Resultate, die ich bringe, nur einen kleinen Beitrag zu dem darstellen, was hier zu leisten ist. Zudem haben besondere Umstände mich verhindert, die Arbeit vor der Veröffentlichung noch einmal gründlich zu überarbeiten. Seit ich sie der Fakultät einreichte, habe ich nämlich, in meinen Funktionen als Privatassistentin meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Husserl, Einblick in die Manuskripte zum II. Teil seiner »Ideen« erhalten, die zum Teil dieselben Fragen behandeln, und würde natürlich bei einer neuen Beschäftigung mit meinem Thema nicht umhin können, die empfangenen neuen Anregungen zu verwerten. Freilich sind Problemstellung und Methode meiner Arbeit ganz aus Anregungen hervorgewachsen, die ich von Herrn Professor Husserl empfing, so daß es ohnehin höchst fraglich ist, was ich von den folgenden Ausführungen als mein »geistiges Eigentum« in Anspruch nehmen darf. Indessen kann ich sagen, daß die Ergebnisse, die ich jetzt vorlege, in eigener Arbeit gewonnen sind, und das könnte ich nicht mehr behaupten, wenn ich jetzt Änderungen vornähme.
II. Das Wesen der Einfühlungsakte
Inhaltsverzeichnis
§ 1. Die Methode der Untersuchung
Inhaltsverzeichnis
Allem Streit über die Einfühlung liegt die stillschweigende Voraussetzung zugrunde: es sind uns fremde Subjekte und ihr Erleben gegeben. Über den Hergang des Zustandekommens, über die Wirkungen, über das Recht dieser Gegebenheit wird gehandelt. Die nächste Aufgabe aber ist, sie selbst in sich zu betrachten und ihr Wesen zu erforschen. Die Einstellung, in der wir dies tun, ist die der »phänomenologischen Reduktion«. Ziel der Phänomenologie ist Klärung und damit letzte Begründung aller Erkenntnis. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schaltet sie aus ihren Betrachtungen alles aus, was irgendwie »bezweifelbar« ist, was sich irgend beseitigen läßt. Sie macht zunächst keinen Gebrauch von irgendwelchen Resultaten irgendeiner Wissenschaft: Das ist selbstverständlich, da eine Wissenschaft, die letzte Klärung aller wissenschaftlichen Erkenntnis sein will, sich nicht wiederum auf eine schon bestehende Wissenschaft stützen darf, sondern sich in sich selbst begründen muß. Stützt sie sich dann auf die natürliche Erfahrung? Keineswegs, denn diese selbst ebenso wie ihre Fortsetzung, die naturwissenschaftliche Forschung, unterliegt mannigfacher Interpretation (in der materialistischen oder idealistischen Philosophie z. B.) und erweist sich dadurch als klärungsbedürftig. So verfällt denn der Ausschaltung oder Reduktion die gesamte uns umgebende Welt, die physische wie die psychophysische, die Körper wie die Menschen- und Tierseelen (einschließlich der psychophysischen Person des Forschers selbst). Was kann noch übrig bleiben, wenn alles gestrichen ist, die ganze Welt und das sie erlebende Subjekt selbst? In Wahrheit bleibt noch ein unendliches Feld reiner Forschung übrig; denn überlegen wir wohl, was jene Ausschaltung besagt: ich kann bezweifeln, ob das Ding, das ich vor mir sehe, existiert, es besteht die Möglichkeit einer Täuschung, darum muß ich die Existenzsetzung ausschalten, darf von ihr keinen Gebrauch machen; aber was ich nicht ausschalten kann, was keinem Zweifel unterliegt, ist mein Erleben des Dinges (das wahrnehmende, erinnernde oder sonstwie geartete Erfassen) samt seinem Korrelat, dem vollen »Dingphänomen« (dem in mannigfachen Wahrnehmungs- oder Erinnerungsreihen sich als dasselbe gebenden Objekt), das in seinem ganzen Charakter erhalten bleibt und zum Objekt der Betrachtung gemacht werden kann.
(Es bereitet Schwierigkeiten einzusehen, wie es möglich ist, daß die Existenzsetzung aufgehoben sein und doch der volle Wahrnehmungscharakter erhalten bleiben soll. Man veranschauliche sich diese Möglichkeit am Fall der Halluzination: es leide jemand an Halluzinationen und habe Einsicht in sein Leiden; er befindet sich z. B. mit einem Gesunden in einem Zimmer, glaubt in der Wand eine Tür zu bemerken und will durch sie hindurchgehen; von dem anderen aufmerksam gemacht, erkennt er, daß er wieder halluziniert, er glaubt jetzt nicht mehr, daß die Tür vorhanden ist, vermag sich aber weiter in die »durchgestrichene« Wahrnehmung zu versetzen und könnte gut daran das Wesen der Wahrnehmung studieren, einschließlich der Existenzsetzung, obgleich er diese nun nicht mehr mitmacht.) So bleibt das ganze »Weltphänomen« nach Aufhebung der Weltsetzung.
Und diese »Phänomene« sind das Objekt der Phänomenologie. Es gilt nun aber nicht nur sie als einzelne zu erfassen und alles in ihnen Implizierte, den in dem einfachen Haben des Phänomens beschlossenen Tendenzen nachgehend, zu explizieren, sondern zu ihrem Wesen vorzudringen. Jedes Phänomen ist exemplarische Unterlage einer Wesensbetrachtung. Die Phänomenologie der Wahrnehmung begnügt sich nicht, die einzelne Wahrnehmung zu beschreiben, sondern sie will ergründen, was »Wahrnehmung überhaupt«, ihrem Wesen nach ist, und sie gewinnt diese Erkenntnis am Einzelfall in ideierender Abstraktion.
Es ist noch zu zeigen, was es heißt: mein Erleben ist nicht auszuschalten. Daß Ich, dieses empirische Ich, des Namens und Standes, ausgestattet mit den und den Eigenschaften, existiere, ist nicht unbezweifelbar. Meine ganze Vergangenheit könnte geträumt, könnte Erinnerungstäuschung sein, unterliegt somit der Ausschaltung und bleibt nur als Phänomen Gegenstand der Betrachtung, aber »ich«, das erlebende Subjekt, das die Welt und die eigene Person als Phänomen betrachtet, »ich« bin im Erleben und nur in ihm und ebenso unbezweifelbar und unstreichbar wie es selbst. Es gilt nun diese Betrachtungsweise auf unseren Fall anzuwenden.
Die Welt, in der ich lebe, ist nicht nur eine Welt physischer Körper, es gibt darin auch außer mir erlebende Subjekte, und ich weiß von diesem Erleben. Dieses Wissen ist kein unbezweifelbares, wir unterliegen gerade hier so mannigfachen Täuschungen, daß wir mitunter geneigt sind, an der Möglichkeit einer Erkenntnis auf diesem Gebiet überhaupt zu verzweifeln – aber das Phänomen des fremden Seelenlebens ist da und unbezweifelbar, und dieses wollen wir uns nun etwas näher betrachten. Die Untersuchungsrichtung ist uns hiermit noch nicht eindeutig vorgeschrieben.
Wir könnten ausgehen von dem vollen konkreten Phänomen, das wir in unserer Erfahrungswelt vor uns haben, dem Phänomen eines psychophysischen Individuums, das deutlich unterschieden ist von einem physischen Ding: es gibt sich nicht als physischer Körper, sondern als empfindender Leib, dem ein Ich zugehört, ein Ich, das empfindet, denkt, fühlt, will, dessen Leib nicht nur eingereiht ist in meine phänomenale Welt, sondern das selbst Orientierungszentrum einer solchen phänomenalen Welt ist, ihr gegenübersteht und mit mir in Wechselverkehr tritt.
Und wir könnten untersuchen, wie sich all das bewußtseinsmäßig konstituiert, was uns über den bloßen in äußerer Wahrnehmung gegebenen physischen Körper hinaus erscheint.
Wir könnten ferner die einzelnen konkreten Erlebnisse dieser Individuen betrachten, wir würden dann sehen, daß hier verschiedene Gegebenheitsweisen auftreten und könnten diesen weiter nachgehen: es würde sich zeigen, daß es andere als die von Lipps herausgearbeitete Gegebenheit »in symbolischer Relation« gibt: ich weiß nicht nur, was in Mienen und Gebärden ausgedrückt, sondern auch von dem, was dahinter verborgen ist; ich sehe etwa, daß jemand eine traurige Miene macht, aber nicht in Wahrheit trauert.
Ferner: ich höre, daß jemand eine unbedachte Bemerkung macht und sehe, daß er darauf errötet, dann verstehe ich nicht nur die Bemerkung und sehe im Erröten die Scham, sondern ich erkenne, daß er die Bemerkung als unbedacht erkennt und daß er sich schämt, weil er sie gemacht hat.
Weder diese Motivation noch das Urteil über seine Bemerkung sind durch irgendeine »sinnliche Erscheinung« ausgedrückt. Es wären diese verschiedenen Gegebenheitsweisen zu untersuchen und eventuell vorliegende Fundierungsbeziehungen herauszustellen.
Es ist aber noch eine andere, radikalere Betrachtung möglich. Alle diese Gegebenheiten von fremdem Erleben weisen zurück auf eine Grundart von Akten, in denen fremdes Erleben erfaßt wird und die wir nun unter Absehung von allen historischen Traditionen, die an dem Worte hängen, als Einfühlung bezeichnen wollen. Diese Akte in größter Wesensallgemeinheit zu erfassen und zu beschreiben, soll unsere erste Aufgabe sein.
§ 2. Deskription der Einfühlung im Vergleich zu anderen Akten
Inhaltsverzeichnis
Sie werden sich uns am besten in ihrer Eigenart herausstellen, wenn wir sie mit anderen Akten des reinen Bewußtseins (des Feldes unserer Betrachtungen nach dem beschriebenen Vollzug der Reduktion) konfrontieren.
Wir nehmen ein Exempel, um uns das Wesen des Einfühlungsaktes zu veranschaulichen.
Ein Freund tritt zu mir herein und erzählt mir, daß er seinen Bruder verloren hat, und ich gewahre seinen Schmerz. Was ist das für ein Gewahren? Worauf es sich gründet, woraus ich den Schmerz entnehme, darauf möchte ich hier nicht eingehen. Vielleicht ist sein Gesicht blaß und verstört, seine Stimme klanglos und gepreßt, vielleicht gibt er auch in Worten seinem Schmerz Ausdruck: all das sind natürlich Themata für Untersuchungen, aber darauf kommt es mir hier nicht an.
Nicht auf welchen Wegen ich dazu gelange, sondern was es selbst, das Gewahren, ist, das möchte ich wissen.
a) Äußere Wahrnehmung und Einfühlung
Daß ich keine äußere Wahrnehmung von dem Schmerz habe, braucht kaum gesagt zu werden, äußere Wahrnehmung ist ein Titel für die Akte, in denen raum-zeitliches, dingliches Sein und Geschehen mir zu leibhafter Gegebenheit kommt, vor mir steht als hier und jetzt selbst daseiend, mir diese oder jene Seite zukehrend, wobei diese mir zugekehrte Seite im spezifischen Sinne leibhaft oder originär da ist, im Vergleich zu den mitwahrgenommenen abgewandten Seiten.
Der Schmerz ist kein Ding und mir nicht in dieser Weise gegeben, auch dann nicht, wenn ich ihn »in« der schmerzlichen Miene gewahre, die ich äußerlich wahrnehme und mit der er »ineins« gegeben ist. Der Vergleich mit den abgewandten Seiten des gesehenen Dinges liegt nahe. Aber er ist doch nur sehr vag, denn in fortschreitender Wahrnehmung kann ich mir immer neue Seiten des Dinges zu originärer Gegebenheit bringen, prinzipiell kann jede diese bevorzugte Gegebenheitsweise annehmen; die schmerzlich bewegte Miene – richtiger gesagt: die Veränderung des Gesichts, die ich einfühlend als schmerzlich bewegte Miene auffasse – kann ich betrachten von soviel Seiten ich will, prinzipiell kann ich niemals zu einer »Orientierung« kommen, in der statt ihrer der Schmerz selbst originär gegeben ist.
Die Einfühlung als Erfassung des Erlebnisses selbst hat also nicht den Charakter äusserer Wahrnehmung. Dagegen wird man den komplexen Akt, der mit dem leiblichen Ausdruck das ausgedrückte Seelische miterfasst, wohl als äussere Wahrnehmung bezeichnen müssen. Der originär gegebene Ausdruck »appräsentiert« – wie Husserl zu sagen pflegt – das Seelische, das als »Mitgegebenes« selbst als jetzt seiende Wirklichkeit dasteht. (Zur Frage, ob anderes als der Leib appräsentierend fungieren kann, vgl. die Notizen über Notwendigkeit eines Leibes für die Einfühlung). Ist die Einfühlung nicht äußere Wahrnehmung, so ist damit noch nicht gesagt, daß ihr dieser Charakter des »Originären« abgeht.
b) Originarität und Nichtoriginarität
Noch anderes als die Außenwelt ist uns originär gegeben. Originär gebend ist auch die Ideation, in der wir Wesensverhalte intuitiv erfassen, originär gebend z. B. die Einsicht in ein geometrisches Axiom, originär gebend das Wertnehmen, schließlich und vor allem haben den Charakter der Originarität unsere eigenen Erlebnisse, wie sie ursprünglich erlebt werden und in der Reflexion zur Gegebenheit kommen. Daß die Einfühlung keine Ideation ist, ist trivial – handelt es sich doch um Erfassen von hic et nunc Seiendem. (Ob sie Unterlage für die Ideation, die Gewinnung einer Wesenserkenntnis von Erlebnissen sein kann, ist eine andere Frage.)
Bleibt noch die Frage: besitzt die Einfühlung die Originarität eigenen Erlebens? Bevor wir an die Beantwortung dieser Frage gehen können, ist es nötig, den Sinn von Originarität noch weiter zu differenzieren.
Originär sind alle eigenen gegenwärtigen Erlebnisse als solche – was könnte originärer sein als das Erleben selbst? Aber nicht alle Erlebnisse sind originär gebend, sind ihrem Gehalt nach originär: die Erinnerung, die Erwartung, die Phantasie haben ihr Objekt nicht als leibhaft gegenwärtig vor sich, sondern vergegenwärtigen es nur; und der Vergegenwärtigungscharakter ist ein immanentes Wesensmoment dieser Akte, keine von den Objekten her gewonnene Bestimmung. Als jetzt sich erzeugende Welten im Erlebnisstrom sind diese Erlebnisse originär; aber das, was sie konstituieren, ist nicht ursprünglich Erzeugtes, sondern Wiedererzeugtes, Vergegenwärtigtes, also nicht-originär.
Schließlich kommt noch die Gegebenheit der eigenen Erlebnisse selbst in Frage: für jedes Erlebnis besteht die Möglichkeit der originären Gegebenheit, d. h. die Möglichkeit für den reflektierenden Blick des in ihm lebenden Ich leibhaft und selbst da zu sein. Es besteht außerdem die Möglichkeit einer nichtoriginären Gegebenheitsweise eigener Erlebnisse: in Erinnerung, Erwartung, Phantasie. Jetzt können wir die Frage wieder aufnehmen: kommt der