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In Teufels Küche: Matthew Scudder, #11
In Teufels Küche: Matthew Scudder, #11
In Teufels Küche: Matthew Scudder, #11
eBook473 Seiten6 Stunden

In Teufels Küche: Matthew Scudder, #11

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Über dieses E-Book

In seinem elften Abenteuer wagt sich Matt Scudder wieder einmal in düstere Gefilde vor. Dazu einige Pressestimmen:

Es bedarf der sicheren Hand eines coolen Profis wie Lawrence Block, um den hektischen Puls einer Stadt wie New York City einzufangen. Scudder schleppt einigen persönlichen Ballast mit sich herum. Aber wenn dieser schrullige, abgebrühte Schnüffler aufhört, aus dem Fenster in den Regen hinauszuschauen, und anfängt, sein Viertel in Hell´s Kitchen zu durchstreifen, ist er nicht zu toppen.

"Ist das alles, was Sie tun?", will ein verdutzter Auftraggeber von ihm wissen. "Mit Leuten reden und sich anhören, was sie sagen? Und ihr Mienenspiel beobachten, während sie es sagen?" Ein bisschen komplizierter ist es allerdings schon. Aber Mr. Block verfügt über die beiläufige Eleganz, um alles ganz leicht erscheinen zu lassen bei seinen prägnanten Schilderungen der menschlichen Transaktionen im Moloch New York und bei seinen dichten Charakterstudien von transsexuellen Prostituierten, jugendlichen Herumtreibern und isolierten Karrieristen, die dieses unwirtliche Terrain bevölkern und ihr Zuhause nennen.

  • Marilyn Stasio

New York Times Book Review

Bei den Helden von Serienkrimis zeichnet sich ein neuer Trend ab. Mickey Spillane, Nero Wolfe, Sherlock Holmes und ihresgleichen haben sich von Buch zu Buch kaum verändert. Ihre Beständigkeit hat sogar einen Teil ihres Reizes ausgemacht. Dagegen gehen zeitgenössische Serienautoren wie Bill Pronzini, Robert P. Parker, Joseph Hansen und Lawrence Block einen Schritt weiter und gestehen ihren hartgesottenen Helden ebenso eine persönliche Weiterentwicklung zu wie gewöhnlichen Sterblichen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Blocks ehemaliger Alkoholiker Matt Scudder.  Von Schuldgefühlen, Angst und Alkohol in die Isolation getrieben, war Scudder der Inbegriff des Einzelgängers. Doch im Lauf seines nie endenden Entzugs beginnt er sein Spektrum zu erweitern. Einen echten Freund findet er in Mick Ballou, einen Sidekick in dem gewieften jungen Herumtreiber TJ und eine Geliebte in dem ehemaligen Callgirl Elaine. Als Scudder vom Bruder eines obdachlosen Vietnamveteranen, der des Mordes an Anwalt Glenn Holtzmann angeklagt ist, engagiert wird, findet er heraus, dass am Opfer sowohl mehr als auch weniger war, als es den Anschein hatte. Zu seiner eigenen Überraschung – denn er liebt Elaine –lässt sich Scudder auf ein Verhältnis mit Holtzmanns Witwe ein. Die Auflösung des Falls ist eine logische Überraschung und wirft so manche Frage über die Indifferenz des Daseins auf. Obwohl Scudders Welt so trostlos ist wie eh und je, lässt er diesmal die Sonne ein wenig durchblitzen. Es ist schön, einen Freund glücklich zu sehen.

  • Wes Lukowsky

Booklist

"Block war nie besser."

  • New York Daily News

"Unbedingt lesen … ebenso stimmungsvoll wie spannend."

  • Chicago Sun-Times
SpracheDeutsch
HerausgeberLawrence Block
Erscheinungsdatum9. Mai 2017
ISBN9781386637202
In Teufels Küche: Matthew Scudder, #11
Autor

Lawrence Block

Lawrence Block is one of the most widely recognized names in the mystery genre. He has been named a Grand Master of the Mystery Writers of America and is a four-time winner of the prestigious Edgar and Shamus Awards, as well as a recipient of prizes in France, Germany, and Japan. He received the Diamond Dagger from the British Crime Writers' Association—only the third American to be given this award. He is a prolific author, having written more than fifty books and numerous short stories, and is a devoted New Yorker and an enthusiastic global traveler.

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    Buchvorschau

    In Teufels Küche - Lawrence Block

    Kapitel 1


    Am letzten Donnerstag im September war Lisa Holtzmann in der Ninth Avenue einkaufen. Zwischen halb vier und vier kam sie in ihre Wohnung zurück und machte Kaffee. Während er durchlief, ersetzte sie eine ausgebrannte Birne durch eine, die sie gerade gekauft hatte, räumte die Einkäufe weg und las das Rezept auf der Rückseite der Packung Linsen. Sie saß mit einer Tasse Kaffee am Fenster, als das Telefon klingelte.

    Es war Glenn, ihr Mann. Er rief an, um ihr zu sagen, dass er nicht vor halb sieben nach Hause käme. Es war nicht ungewöhnlich, dass er länger im Büro blieb, und er versuchte immer, ihr Bescheid zu geben, wann sie mit ihm rechnen konnte. In dieser Hinsicht war er immer schon sehr rücksichtsvoll gewesen, und das ganz besonders, seit sie vor ein paar Monaten einen Abgang gehabt hatte.

    Es war fast sieben, als er zur Tür hereinkam, halb acht, als sie sich zum Abendessen an den Tisch setzten. Sie hatte die Linsen nach dem Rezept auf der Packung gemacht und sie mit etwas Knoblauch und frischem Koriander sowie einem kräftigen Schuss scharfer Yucateca-Soße aufgepeppt. Dazu gab es Reis und grünen Salat. Beim Essen sahen sie zu, wie die Sonne unterging und der Himmel dunkel wurde.

    Ihr Apartment befand sich in einem neuen Hochhaus an der Südwestecke von Fifty-seventh Street und Tenth Avenue, schräg gegenüber von Jimmy Armstrongs Bar. Sie wohnten im achtundzwanzigsten Stock und hatten einen fantastischen Blick. Die Fenster gingen nach Süden und Westen, und sie konnten die ganze West Side von der George Washington Bridge bis zur Battery sehen und über den Hudson bis nach New Jersey.

    Sie waren ein attraktives Paar. Er war groß und schlank. Sein dunkelbraunes Haar, das an den Schläfen kaum merklich zu ergrauen begann, war von seinem spitzen Haaransatz nach hinten frisiert. Dunkle Augen, dunkler Teint. Ausgeprägte Gesichtszüge, die nur durch einen leicht schlaffen Zug ums Kinn ein bisschen beeinträchtigt wurden. Gute, gerade Zähne, selbstsicheres Lächeln.

    Er hatte an, was er im Büro immer anhatte: einen gutgeschnittenen dunklen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Hatte er die Anzugjacke abgelegt, bevor er sich an den Esstisch setzte? Er könnte sie über eine Stuhllehne oder an einen Türknopf gehängt haben. Auch einen Kleiderbügel könnte er benutzt haben; er behandelte seine Sachen pfleglich. Ich stelle ihn mir vor, wie er in Hemdsärmeln am Tisch sitzt – es ist ein blaugepunktetes Oxfordhemd mit angeknöpften Kragenenden – und wie er die Krawatte über die Schulter geworfen hat, damit sie beim Essen keine Flecken bekommt. Ich habe ihn das einmal tun sehen, in einem Coffee-Shop, der Morning Star heißt.

    Sie war eins sechzig groß und schlank, mit glattem, dunklem Haar, das sie modisch kurz geschnitten trug, mit einer Haut wie Porzellan und auffallend blauen Augen. Sie war zweiunddreißig, sah aber jünger aus, während ihr Mann etwas älter wirkte als seine achtunddreißig.

    Ich weiß nicht, was sie anhatte. Jeans vielleicht, mit hochgestülpten Hosenbeinen, an Knien und Hosenboden leicht abgewetzt. Einen gelben Sweater mit Rundhalsausschnitt, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben. An den Füßen braune Wildlederslipper.

    Aber das sind alles nur Vermutungen, zum Training des Vorstellungsvermögens. Ich weiß nicht, was sie anhatte.

    Irgendwann zwischen halb neun und neun sagte er, er müsse noch mal weg. Falls er vorher seine Anzugjacke ausgezogen hatte, zog er sie wieder an und schlüpfte außerdem in einen Mantel. Er sagte ihr, er werde in einer Stunde wieder zurück sein. Nichts Wichtiges, meinte er. Nur etwas, das er noch erledigen müsse.

    Ich nehme an, sie machte den Abwasch. Schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein, stellte den Fernseher an.

    Um zehn Uhr begann sie sich Sorgen zu machen. Sie redete sich ein, das sei Unsinn, und stand die nächste halbe Stunde am Fenster mit der Traumaussicht und schaute nach draußen.

    Gegen halb elf rief der Türsteher von unten an, um ihr zu sagen, dass ein Polizist auf dem Weg nach oben sei. Sie wartete im Flur, als er aus dem Lift stieg. Er war ein großer, glattrasierter junger Ire in einer blauen Uniform, und später erinnerte sie sich, dass sie fand, er sähe genauso aus, wie ein Polizist aussehen sollte.

    »Bitte«, sagte sie. »Was ist los? Was ist passiert?«

    Er wollte nichts sagen, bis sie in der Wohnung waren, aber bis dahin wusste sie bereits Bescheid. Sein Gesicht sagte alles.

    Ihr Mann war an der Ecke Eleventh Avenue und West Fifty-fifth Street gewesen. Offensichtlich hatte er gerade von einem Münztelefon an dieser Ecke telefoniert, als jemand, vermutlich bei dem Versuch, ihn auszurauben, aus nächster Nähe vier Schüsse auf ihn abgegeben und dadurch seinen Tod verursacht hatte.

    Es gab noch mehr, aber das war alles, was sie aufnehmen konnte. Glenn war tot. Mehr brauchte sie nicht zu hören.

    Kapitel 2


    Zum ersten Mal traf ich Glenn Holtzmann an einem Dienstagabend im April, der angeblich der grausamste Monat ist. Das hat T.S. Eliot in »Das wüste Land« gesagt, und vielleicht wusste er, wovon er sprach. Ich bin mir da allerdings nicht so sicher. Ich finde sie alle ziemlich fies.

    Wir trafen uns in der Sandor Kellstine Gallery, die sich mit einem Dutzend anderer Kunstgalerien in einem fünfstöckigen Bau in der Fifty-seventh zwischen Fifth und Sixth Avenue befindet. Es war bei der Vernissage der Frühjahrsgruppenausstellung für zeitgenössische Fotografie. In einem großen Raum im dritten Stock waren die Arbeiten von sieben Fotografen sehen. Zur Eröffnung hatten sich Freunde und Verwandte von allen sieben eingefunden, zusammen mit Leuten wie Lisa Holtzmann und Elaine Mardell, die donnerstags im Hunter College an einem Abendseminar über »Fotografie als abstrakte Kunstform« teilnahmen.

    Auf einem Tisch standen Stielgläser aus Plastik mit Rot- und Weißwein und Platten mit Käsehäppchen mit bunten Zahnstochern. Es gab auch Club Soda, und ich schenkte mir ein Glas ein und suchte nach Elaine, die mich den Holtzmanns vorstellte.

    Er war mir spontan unsympathisch.

    Ich versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen und schüttelte ihm brav die Hand und erwiderte sein Lächeln. Eine Stunde später gingen wir in der Eighth Avenue zu viert thailändisch essen. Wir hatten alles was mit Nudeln, und Holtzmann hatte sich eine Flasche Bier zum Essen bestellt. Die beiden Frauen und ich tranken eisgekühlten thailändischen Kaffee.

    Die Unterhaltung kam nicht so recht in Gang. Zuerst sprachen wir über die Ausstellung, die wir gerade gesehen hatten, dann unternahmen wir kurze Abstecher zu anderen Standardthemen – Lokalpolitik, Sport, Wetter. Dass er Anwalt war, wusste ich bereits, und jetzt erfuhr ich auch noch, dass er für Waddell & Yount arbeitete, einen Verlag, der Großdruckbücher von Titeln herausbrachte, die bereits in anderen Verlagen erschienen waren.

    »Ziemlich langweilige Angelegenheit«, sagte er. »Hauptsächlich Verträge, und ab und zu muss ich jemandem einen geharnischten Brief schreiben. Und das ist eine Gabe, die ich unbedingt weitergeben möchte. Sobald der Junge groß genug ist, werde ich ihm beibringen, wie man geharnischte Briefe schreibt.«

    »Oder ihr«, sagte Lisa.

    Er oder sie war noch nicht auf der Welt und wurde irgendwann im Herbst erwartet. Das war der Grund, warum Lisa kein Bier, sondern kalten Kaffee trank. Elaine hat noch nie viel Alkohol getrunken, und inzwischen trinkt sie überhaupt keinen mehr. Und ich tue das – immer schön einen Tag nach dem anderen – auch nicht.

    »Oder ihr«, stimmte ihr Holtzmann zu. »Egal, ob Junge oder Mädchen, der Nachwuchs kann getrost in Papas langweilige Fußstapfen treten. Matt, was Sie tun, muss doch ziemlich aufregend sein. Oder glaube ich das bloß, weil ich zu viel fernsehe?«

    »Hin und wieder ist es schon ziemlich aufregend«, sagte ich. »Aber die meiste Zeit ist es reine Routine. Wie in jedem anderen Job auch.«

    »Sie waren bei der Polizei, bevor Sie sich selbständig gemacht haben?«

    »Ja.«

    »Und jetzt arbeiten Sie für ein Detektivbüro?«

    »Wenn sie dort was für mich haben. Die Agentur heißt Reliable. Ich bin dort aber nicht angestellt, sondern übernehme lediglich einzelne Aufträge, die gerade anfallen.«

    »Wahrscheinlich haben Sie ziemlich viel mit Industriespionage zu tun. Unzufriedene Angestellte, die mit Firmengeheimnissen hausieren gehen.«

    »Ab und zu.«

    »Nicht viele?«

    »Ich habe keine Lizenz. Deshalb bekomme ich normalerweise keine Firmenaufträge, jedenfalls nicht allein. Davon kriegen sie bei Reliable zwar ziemlich viele rein, aber bei den Fällen, auf die sie mich in letzter Zeit angesetzt haben, ging es vorwiegend um Produktpiraterie.«

    »Produktpiraterie?«

    »Alles von falschen Rolex-Uhren bis zu nicht autorisierten Logos auf Sweatshirts und Baseballmützen.«

    »Hört sich interessant an.«

    »Ist es aber nicht. Es ist dasselbe wie geharnischte Briefe schreiben, bloß auf einem wesentlich niedrigeren Level.«

    »Dann sollten Sie sich Kinder zulegen. Das ist bestimmt eine Gabe, die Sie unbedingt weitergeben wollen.«

    Nach dem Essen gingen wir in ihre Wohnung und quittierten den Blick mit den erwarteten Ahs und Ohs. Von Elaines Apartment sieht man ein Stück vom East River und von meinem Hotelzimmer ein kleines Stück vom World Trade Center, aber gegen den Blick der Holtzmanns kamen wir nicht an. Die Wohnung selbst war nicht gerade groß – das zweite Schlafzimmer hatte vielleicht zehn Quadratmeter –, und außer den niedrigen Decken und architektonischen Patentlösungen, wie sie für die meisten Neubauwohnungen typisch sind, hatte sie nicht viel zu bieten. Aber der Blick machte einiges wett.

    Lisa machte eine Kanne koffeinfreien Kaffee und begann über Kontaktanzeigen zu sprechen und dass sie ganz normale, bürgerliche Leute kannte, die auf diesem Weg ihr Glück versuchten. »Wie sollen sich die Leute heutzutage überhaupt noch kennenlernen?«, meinte sie. »Glenn und ich hatten Glück. Wir sind uns im Flur zufällig über den Weg gelaufen, als ich bei Waddell & Yount war, um dem Art Director mein Buch zu zeigen.«

    »Ich hab sie vom anderen Ende des Raums gesehen«, sagte Glenn, »und ich hab es so hingedreht, dass wir uns über den Weg gelaufen sind.«

    »Aber wie oft kommt so was schon vor?«, fuhr Lisa fort. »Wie haben Sie sich denn kennengelernt, wenn ich fragen darf?«

    »Über eine Kontaktanzeige«, sagte Elaine.

    »Im Ernst?«

    »Nein. Ob Sie’s glauben oder nicht: Wir hatten vor Jahren mal ein Verhältnis. Dann trennten wir uns und verloren uns aus den Augen. Und dann sind wir uns zufällig wieder begegnet und …«

    »Und es war noch immer der alte Zauber? Das ist ja eine richtig schöne Geschichte.«

    »Schon möglich, aber nur, wenn man nicht zu genau hinhört. Richtig ist, dass wir uns schon Jahre zuvor kennengelernt hatten, in einer Bar, die bis in die frühen Morgenstunden offen hatte. Elaine war damals ein reizendes junges Callgirl und ich Detective, mit fester Anstellung im Sechsten Revier und einer nicht mehr ganz so festen Beziehung zu meiner Frau und meinen zwei Söhnen auf Long Island. Jahre danach tauchte aus unserer gemeinsamen Vergangenheit ein Psychopath auf, der sich in den Kopf gesetzt hatte, uns beide umzubringen. Das führte uns wieder zusammen, und ja, Lisa, es war noch immer derselbe alte Zauber. Wir blieben jeder am anderen hängen, und die Verbindung scheint zu halten.«

    Es war vielleicht tatsächlich eine schöne Geschichte, aber da das meiste davon unausgesprochen blieb, trug sie nicht viel dazu bei, das Gespräch in Gang zu bringen. Lisa erzählte von der geschiedenen Freundin einer Freundin, die auf eine Kontaktanzeige in der Zeitschrift New York geantwortet hatte, sich zum verabredeten Zeitpunkt am vereinbarten Treffpunkt einfand und ihrem Exmann gegenüberstand. Das fassten sie als einen Wink des Schicksals auf und rauften sich wieder zusammen. Glenn sagte, das glaube er nicht, es klinge zu unwahrscheinlich, er habe diese Geschichte schon in einem halben Dutzend Abwandlungen gehört und glaube keine einzige davon.

    »Eine typische moderne Sage«, meinte er. »Solche Geschichten sind zu Dutzenden in Umlauf, und bezeichnenderweise sind sie immer einem Freund eines Freundes passiert, nie jemandem, den man selbst kennt, und natürlich sind sie überhaupt nicht passiert. Wissenschaftler sammeln diese modernen Mythen, ganze Bücher voll davon. Wie diese Geschichte mit dem Schäferhund im Koffer.«

    Wir müssen ziemlich verdutzte Gesichter gemacht haben. »Ich bitte euch«, sagte er. »Die müsst ihr doch kennen. Einem Kerl stirbt der Hund, er ist untröstlich und weiß nicht, was er machen soll. Also packt er den Köter in einen großen Schrankkoffer und macht sich auf den Weg zu einem Tierarzt oder auch zum Hundefriedhof. Und als er den Koffer mal kurz abstellt, um ein bisschen zu verschnaufen, schnappt ihn ihm jemand weg und haut damit ab. Und, ha-ha-ha, nun stellt euch mal das Gesicht von dem armen Teufel vor, als er den geklauten Koffer aufmacht und den toten Köter sieht. Jede Wette, ihr habt mindestens schon eine Variante dieser Geschichte gehört.«

    »Ich kenne sie mit einem Dobermann«, sagte Lisa.

    »Klar, ein Dobermann, ein Schäferhund. Irgendein großer Hund eben.«

    »In der Variante, die ich gehört habe«, sagte Elaine, »ist es einer Frau passiert.«

    »Na klar, und ein hilfsbereiter junger Mann trägt ihr den Koffer.«

    »Und im Koffer«, fuhr sie fort, »ist ihr Ex.«

    Soviel zu den Blüten, die moderne Großstadtmärchen treiben. In ihren unermüdlichen Bemühungen, die Unterhaltung anzukurbeln, kam Lisa von Kontaktanzeigen auf Telefonsex. Sie sah darin ein perfektes Spiegelbild der neunziger Jahre, ausgelöst durch das Aufkommen von Aids, ermöglicht durch Kreditkarten und 9ooer-Nummern und hervorgerufen durch die wachsende Tendenz, vor der Realität in Traumwelten zu flüchten.

    »Diese Mädchen verdienen einen Haufen Geld«, sagte sie. »Und nur mit Reden.«

    »Mädchen? Die Hälfte von denen sind wahrscheinlich Großmütter.«

    »Na und? In diesem Fall sind ältere Frauen sogar im Vorteil. Schließlich kommt es bei diesem Job nicht auf Jugend und gutes Aussehen an, sondern auf eine rege Fantasie.«

    »Du meinst wohl eher eine schmutzige. Außerdem brauchst du dafür eine geile Stimme.«

    »Meinst du, meine Stimme wäre geil genug?«

    »Ich finde schon«, sagte er. »Aber da bin ich wahrscheinlich voreingenommen. Warum fragst du? Sag bloß, du willst das machen.«

    »Na ja«, sagte sie, »zumindest habe ich es in Gedanken schon mal durchgespielt.«

    »Das soll wohl ein Witz sein.«

    »Wieso? Wenn das Baby schläft und ich zu Hause festsitze …«

    »Setzt du dich ans Telefon und schweinigelst mit wildfremden Männern rum?«

    »Naja …«

    »Weißt du noch, wie du diese obszönen Anrufe bekommen hast, bevor wir geheiratet haben?«

    »Das war was anderes.«

    »Damals bist du ganz schön ausgeflippt.«

    »Na ja, das war ja auch ein Perverser.«

    »Was du nicht sagst? Und was, glaubst du, sind deine Kunden? Pfadfinder?«

    »Es wäre was anderes, wenn ich Geld dafür bekäme«, sagte sie. »Dann hätte es nicht so was Aggressives. Glaube ich zumindest. Was meinen Sie, Elaine?«

    »Ich stelle es mir eigentlich nicht so toll vor.«

    »Wie auch?«, sagte Glenn. »Sie haben ja auch keine schmutzige Fantasie.«

    • • •

    Zurück in Elaines Wohnung, sagte ich: »Als reife Frau bist du eindeutig im Vorteil. Nur schade, dass deine Fantasie für Telefonsex nicht schmutzig genug ist.«

    »War das nicht zum Schießen? Fast hätte ich was gesagt.«

    »Damit habe ich eigentlich gerechnet.«

    »Ich konnte mich gerade noch beherrschen.«

    Als ich Elaine kennenlernte, arbeitete sie als Callgirl, und das machte sie auch noch, als wir uns wieder begegneten. Sie übte ihren Job weiter aus, als wir nach und nach eine Beziehung miteinander aufbauten, und ich tat so, als machte es mir nichts aus, und sie hielt es genauso. Wir sprachen nicht darüber, und es wurde die Sache, über die wir nicht sprachen, der Elefant im Wohnzimmer, um den wir auf Zehenspitzen herumschlichen, ohne ihn ein einziges Mal zu erwähnen.

    Und dann, eines Morgens, hatte jeder von uns seinen Moment der Wahrheit. Ich gab zu, dass es mir was ausmachte, und sie gab zu, dass sie insgeheim ein paar Monate zuvor damit aufgehört hatte. Das brachte einiges in Bewegung und hatte unter anderem zur Folge, dass wir uns auf Neuland vorwagen und auf gewisse Umstellungen gefasst machen mussten.

    Eine der Fragen, mit denen sie sich auseinandersetzen musste, war, was sie mit ihrer Zeit anfangen wollte. Sie hatte es nicht nötig zu arbeiten. Sie hatte noch nie zu denen gehört, die ihr Geld Zuhältern oder Koksdealern in den Rachen stopften, sondern hatte es gut angelegt, hauptsächlich in Mietwohnungen in Queens. Eine Hausverwaltung kümmerte sich um alles und schickte ihr jeden Monat einen Scheck, und das war mehr als genug, um ihren gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können.

    Sie ging ins Fitnessstudio, besuchte Konzerte und belegte am College Abendkurse, und sie hatte die Mittel, um sich in einer Stadt, in der man immer eine Beschäftigung finden konnte, ein schönes Leben zu machen.

    Aber sie hatte nun mal ihr ganzes Leben lang gearbeitet und musste sich erst ans Nichtstun gewöhnen. Ab und zu studierte sie stirnrunzelnd die Stellenangebote, und einmal mühte sie sich eine ganze Woche lang damit ab, einen Lebenslauf zu schreiben, um ihre Notizen schließlich seufzend zu zerreißen. »Es ist hoffnungslos. Mir fallen nicht mal für die freien Felder in einem Formular ein paar interessante Lügen ein. Ich habe mich zwanzig Jahre lang für Geld flachgelegt. Ich könnte also sagen, ich war die ganze Zeit Hausfrau. Aber würde das schon nützen? Deswegen wäre ich auch nicht besser vermittelbar.«

    Eines Tages sagte sie: »Nur so eine Frage. Was hältst du von Telefonsex?«

    »Na ja, als Notlösung vielleicht«, sagte ich. »Wenn wir uns mal aus irgendeinem Grund länger nicht sehen können. Aber ich glaube nicht, dass ich auf so was stehe.«

    »Dummkopf«, sagte sie liebevoll. »Nicht für uns. Zum Geldverdienen. Eine Bekannte von mir meint, damit ließe sich eine Menge Geld machen. Du bist zusammen mit zehn oder zwölf anderen Mädchen in einem Raum, jede mit einem eigenen Abteil. Du sitzt an einem Schreibtisch und telefonierst. Du musst nicht fürchten, dass du dein Geld nicht kriegst. Oder dich mit Aids oder Herpes ansteckst. Keinerlei Gefahr oder Bedrohung, keinerlei körperlicher Kontakt, du bekommst die Kunden nie zu sehen und sie dich ebenfalls nicht. Sie wissen nicht mal, wie du heißt.«

    »Wie sprechen sie dich dann an?«

    »Du legst dir eine Art Künstlernamen zu – obwohl das vielleicht ein bisschen übertrieben ist, weil du ja nun weiß Gott keine Künstlerin bist. Dann eben einen Telefonnamen. Jede Wette übrigens, dass es dafür im Französischen ein Wort gibt.« Sie holte ein Wörterbuch und blätterte darin. »Nom de téléphone. Da bleibe ich, glaube ich, doch lieber bei Telefonname.«

    »Und wie würdest du dich nennen? Trixie? Vanessa?«

    »Vielleicht Audrey.«

    »Da musstest du aber nicht lange überlegen.«

    »Es ist nur ein paar Stunden her, dass ich mit Pauline gesprochen habe. Wie lange dauert es schon, sich einen Namen auszudenken?« Sie holte Luft. »Sie sagt, da, wo sie arbeitet, könnte ich jederzeit anfangen. Aber wie ginge es dir damit?«

    »Keine Ahnung. Im Voraus ist das schwer zu sagen. Vielleicht solltest du es einfach mal probieren, und dann werden wir schon sehen, wie es uns damit geht. Das möchtest du doch, oder?«

    »Ich glaube schon.«

    »Wie geht dieser Spruch übers Masturbieren gleich wieder? Tu es, bis du eine Brille brauchst.«

    »Oder ein Hörgerät.«

    Am nächsten Montag fing sie damit an und hielt genau vier Stunden einer Sechsstundenschicht durch. »Unmöglich«, stöhnte sie. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Lieber ficke ich wildfremde Kerle, als anzügliche Gespräche mit ihnen zu führen. Kannst du mir das vielleicht erklären?«

    »Wieso? Was war?«

    »Ich konnte es einfach nicht. Ich war eine einzige Katastrophe. Da war dieser Blödmann, der hören wollte, wie groß sein Schwanz ist. Darauf ich: ›Oh, ist der riesig. So einen großen habe ich ja noch nie gesehen. Gütiger Gott, ich weiß gar nicht, wie ich den in mich reinkriegen soll. Bist du auch sicher, es ist dein Pimmel und nicht dein Arm?‹ Aber er wurde richtig sauer und meinte: ›Du machst das nicht richtig.‹ Und das hat bisher noch niemand zu mir gesagt. ›Du übertreibst. Du machst eine Lachnummer daraus.‹ Na ja, und darauf ist mir der Kragen geplatzt: ›Du hast vielleicht Nerven. Hockst bei dir zu Hause rum, in der einen Hand das Telefon, in der anderen deinen Schwanz, und bezahlst eine wildfremde Frau dafür, dass sie dir sagt, du hast ein Ding, dass sogar ein Elefant vor Neid erblasst, und dann soll ich diejenige sein, die aus dem Ganzen eine Lachnummer macht?‹ Und dann habe ich noch gesagt, dass er ein Arschloch ist, und aufgelegt, was man nun auf gar keinen Fall tun soll, weil sie dich über eine 9ooer-Nummer anwählen und der Zähler so lange läuft, wie sie dranbleiben. Man soll also unter keinen Umständen vor dem Anrufer aufhängen. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal.

    Ein anderer Dödel wollte, dass ich ihm irgendwelche Geschichten erzähle. ›Erzähl mir, wie es war, als du mal mit einem Mann und einer Frau einen Dreier gemacht hast.‹ Na ja, es gibt schon ein paar wahre Geschichten, die ich ihm hätte erzählen können, aber soll ich diesem Wichser vielleicht etwas, das ich tatsächlich erlebt habe, unter die Nase reiben? Von wegen. Also habe ich was erfunden, und natürlich waren alle drei Beteiligten ganz toll und geil und sexuell total auf derselben Wellenlänge, und gekommen sind sie wie ein Silvesterfeuerwerk. Ganz anders als im richtigen Leben, wo die Leute Mundgeruch und Pickel haben und die Frauen nur so tun und die Männer keinen hochkriegen.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Jedenfalls ist das nichts für mich. Nur gut, dass ich was auf der hohen Kante habe, weil ich nämlich tatsächlich nicht vermittelbar bin, wie sich herausgestellt hat. Ich bring’s nicht mal als Telefonnutte.«

    • • •

    »Und?« fragte sie. »Wie fandst du die beiden?«

    »Glenn und Lisa? Ganz nett.«

    »Aber es würde dir nichts ausmachen, sie nie wiederzusehen.«

    »Das ist vielleicht ein bisschen hart, aber zugegeben, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir künftig unsere Freizeit mit ihnen verbringen werden. Irgendwie wollte heute Abend der Funke nicht so recht überspringen.«

    »Was glaubst du? Wegen des Altersunterschieds vielleicht? Aber so viel älter sind wir doch gar nicht.«

    »Sie ist noch ziemlich jung, aber ich glaube nicht, dass es daran lag. Eher glaube ich, dass wir einfach nicht viel gemeinsam haben. Du besuchst dasselbe Abendseminar wie sie, und ich wohne nur einen Block von ihnen entfernt, aber ansonsten …«

    »Ich weiß. Kaum Gemeinsamkeiten. Vermutlich hätte ich mir das gleich denken können. Aber ich fand sie ganz sympathisch, deshalb dachte ich, lass es doch auf einen Versuch ankommen.«

    »Finde ich auch völlig in Ordnung. Ich weiß sogar, warum du sie nett findest. Ich fand sie auch ganz nett.«

    »Aber ihn nicht.«

    »Nicht besonders. Nein.«

    »Weißt du auch, warum?«

    Ich dachte kurz nach. »Nein. Nicht wirklich. Ich könnte jetzt natürlich ein paar Dinge anführen, die ich nicht an ihm mochte. Aber Tatsache ist, dass er mir spontan unsympathisch war.«

    »Er sieht ziemlich gut aus.«

    »Auf jeden Fall. Sehr gut sogar. Vielleicht hat es daran gelegen. Vielleicht habe ich gespürt, dass du ihn anziehend findest.«

    »Ich fand ihn übrigens nicht besonders anziehend.«

    »Nein?«

    »Ich fand, dass er gut aussieht – so, wie männliche Models gut aussehen, nur nicht mit so einem finsteren Gesicht, wie sie es heutzutage alle machen. Aber ich stehe nicht auf hübsche Bubis. Ich mag alte Brummbären.«

    »Na, Gott sei Dank.«

    »Vielleicht mochtest du ihn nicht, weil du scharf auf sie warst.«

    »Ich wusste schon, dass ich ihn nicht mag, bevor ich sie überhaupt gesehen habe.«

    »Ach.«

    »Und wie kommst du darauf, dass ich scharf auf sie bin?«

    »Sie ist hübsch.«

    »Auf eine zerbrechliche Porzellanpuppenart. Eine schwangere Porzellanpuppenart.«

    »Ich dachte immer, Männer wären verrückt nach schwangeren Frauen.«

    »Dann liegst du ausnahmsweise mal falsch.«

    »Was hast du gemacht, als Anita schwanger war?«

    »Viele Überstunden. Und jede Menge Ganoven hinter Gitter gebracht.«

    »Also dasselbe wie immer.«

    »So ziemlich, ja.«

    »Vielleiche war es dein Polizisteninstinkt. Vielleicht mochtest du ihn deshalb nicht.«

    »Weißt du was? Ich glaube, genau das muss es gewesen sein. Obwohl es mir nicht recht einleuchtet.«

    »Warum nicht?«

    »Weil er ein erfolgreicher junger Anwalt mit einer schwangeren Frau und einer schicken Wohnung ist. Er hat einen festen Händedruck und ein gewinnendes Lächeln. Woher also mein Eindruck, dass irgendwas faul an ihm ist?«

    »Das frage ich dich.«

    »Keine Ahnung. Ich habe irgendwas gespürt, aber ich könnte dir nicht sagen, was es genau war. Außer, dass ich das Gefühl hatte, dass er sehr aufmerksam zuhört – als ob er mehr hören wollte, als ich ihm erzählen wollte. Der ganze Abend war eine ziemlich zähe Angelegenheit, aber es wäre sicher viel entspannter geworden, wenn ich ein paar Detektivgeschichten erzähle hätte.«

    »Warum hast du’s nicht?«

    »Vielleicht, weil er so scharf drauf war, welche zu hören.«

    »Wie Telefonsex. In der einen Hand hatte er das Telefon, in der anderen seinen Schwanz.«

    »Etwas in der Art.«

    »Kein Wunder, dass du auflegen wolltest. Mein Gott, weißt du noch, was für ein Drama das war? Danach habe ich im Bett eine Woche lang kein Wort mehr gesagt.«

    »Ich weiß. Nicht mal gestöhnt hast du.«

    »Na ja, ich habe mir Mühe gegeben, es zu unterdrücken. Aber manchmal konnte ich einfach nicht anders.«

    In meinem zackigsten Nazi-Tonfall sagte ich: »Wir haben Möglichkeiten, Sie zum Kommen zu bringen.«

    »Tatsächlich?«

    »Das Fräulein verlangt wohl einen Beweis?«

    »Ich glaube schon.«

    Und einige Zeit später sagte sie: »Ich könnte zwar nicht behaupten, dass es der beste Abend war, den wir miteinander hatten, aber eine besondere Note hatte er auf jeden Fall, findest du nicht? Wahrscheinlich hast du übrigens recht. Ich glaube, er hat was Schmieriges. Und wenn schon? Wir brauchen uns ja nicht noch mal mit ihnen zu treffen.«

    • • •

    Aber ich traf sie natürlich noch mal.

    Eine Woche oder zehn Tage nach unserem ersten Treffen verließ ich eines Abends mein Hotel, als auf halbem Weg zur Ninth Avenue jemand meinen Namen rief. Ich schaute mich um und sah Glenn Holtzmann. Er war in Anzug und Krawatte und hatte einen Aktenkoffer in der Hand.

    »Musste mal wieder Überstunden machen«, sagte er. »Ich habe Lisa angerufen, dass sie nicht mit dem Essen auf mich wartet. Haben Sie schon was gegessen? Hätten Sie Lust, kurz wohin mitzukommen?« Ich hatte schon gegessen und sagte ihm das. »Dann kommen Sie doch wenigstens auf eine Tasse Kaffee mit. Irgendwo in der Nähe, im Flame oder im Morning Star, nur auf eine Kleinigkeit. Haben Sie so viel Zeit?«

    »Nein.« Ich deutete in Richtung Ninth Avenue. »Ich bin mit jemandem verabredet.«

    »Was dagegen, wenn ich ein Stück mitkomme? Ich werde mich brav am Riemen reißen und im Flame einen Salat essen.« Er tätschelte seinen Bauch. »Bloß nicht zulegen«, fügte er hinzu, obwohl ich ihn absolut nicht dick fand. Wir gingen zur Fifty-eighth und überquerten gemeinsam die Ninth Avenue, und vor dem Flame sagte er: »Hier muss ich mich leider verabschieden. Dann noch alles Gute bei Ihrer Besprechung. Interessanter Fall?«

    »In diesem Stadium lässt sich das noch nicht sagen.«

    Es war natürlich gar kein Fall, sondern ein Treffen der Anonymen Alkoholiker im Souterrain von St. Paul’s. Ich saß eineinhalb Stunden lang auf einem Metallklappstuhl und trank aus einem Styroporbecher Kaffee. Um zehn Uhr murmelten wir das Vaterunser und stellten die Stühle zusammen, und ein paar von uns gingen noch ins Flame, um was zu essen und ein bisschen unter Leute zu kommen. Ich dachte, Holtzmann würde dort vielleicht noch über den Resten seines griechischen Salats sitzen, aber er war bereits in sein luftiges Domizil heimgekehrt. Ich bestellte Kaffee und einen getoasteten English und dachte nicht mehr an ihn.

    Irgendwann während der nächsten ein, zwei Wochen sah ich ihn in der Ninth Avenue auf einen Bus warten, aber er bemerkte mich nicht. Ein anderes Mal waren Elaine und ich noch ziemlich spät im Armstrong’s was essen, und gerade als wir gingen, stiegen die Holtzmanns auf der anderen Seite der Kreuzung vor ihrem Haus aus einem Taxi. Und eines Nachmittags stand ich am Fenster, als ein Mann, der Glenn Holtzmann hätte sein können, aus dem Fotogeschäft gegenüber kam und sich in westlicher Richtung entfernte. Ich wohne ziemlich weit oben, sodass der Mann, den ich sah, auch jemand anders hätte sein können, aber irgendetwas an seinem Gang und seiner Haltung erinnerte mich an Holtzmann.

    Es wurde Mitte Juni, bis wir wieder miteinander sprachen. Es war an einem Werktagabend, ziemlich spät. Jedenfalls nach Mitternacht. Ich war bei einem Treffen gewesen und hatte anschließend noch einen Kaffee getrunken.

    Zurück in meinem Zimmer, griff ich mir ein Buch, konnte es aber nicht lesen; dann stellte ich den Fernseher an, konnte aber nicht zusehen.

    Das kommt manchmal vor. Eine Weile kämpfte ich gegen meine innere Unruhe an, bis ich mir gegen Mitternacht sagte, was soll’s, meine Jacke vom Haken nahm und das Zimmer verließ. Ich ging Richtung Süden und dann nach Westen, und als ich zum Grogan’s kam, setzte ich mich an die Bar.

    Grogan’s Open House liegt in der Fiftieth, Ecke Tenth. Es ist eine altmodische irische Kneipe, wie es sie in Hell’s Kitchen vor Jahren noch massenhaft gab. Heutzutage sind sie allerdings seltener, obwohl sich das Grogan’s eine Bronzeplakette der Landmarks Commission oder einen Platz auf der Liste gefährdeter Spezies erst noch verdienen muss. Auf der linken Seite ist ein langer Tresen, auf der rechten eine Reihe Sitznischen mit Tischen, an der Rückwand ein Dartboard, und um das Bild perfekt zu machen, gibt es einen mit Sägemehl bestreuten Fliesenboden und eine alte Walzblechdecke, die dringend ausgebessert werden müsste.

    Im Grogan’s ist nur selten was los, und da war dieser Abend keine Ausnahme. Hinterm Tresen war Burke, der sich auf einem Kabelkanal einen alten Film ansah. Ich bestellte ein Coke, und er brachte es mir. Ich fragte, ob Mick da gewesen sei, und er schüttelte den Kopf. »Später«, sagte er.

    Für ihn war das eine lange Rede. Die Zapfer im Grogan’s sind ein ziemlich maulfauler Haufen. Das ist die Grundvoraussetzung für den Job.

    Ich nippte an meinem Coke und schaute mich um. Es waren ein paar bekannte Gesichter da, aber keines, das ich gut genug kannte, um hallo zu sagen. Das war mir nur recht. Ich sah mir den Film an. Denselben Film hätte ich auch zu Hause ansehen können, aber dort wäre ich nicht in der Lage gewesen, mir irgendwas anzusehen oder auch nur stillzusitzen. Aber hier, eingehüllt vom Geruch von Tabakrauch und verschüttetem Bier, fühlte ich mich seltsamerweise wohl.

    Auf dem Bildschirm seufzte Bette Davis und warf, jung wie das blühende Leben, den Kopf herum.

    Ich schaffte es, ganz in dem Film aufzugehen, und dann ging ich, gefangen von einer Art Tagtraum, ganz in meinen Gedanken auf. Ich wurde abrupt aus ihnen gerissen, als ich jemanden meinen Namen sagen hörte. Ich drehte mich um, und da stand Glenn Holtzmann. Er trug einen braunen Blouson und darunter ein kariertes Sporthemd. Es war das erste Mal, dass ich ihn in was anderem sah als in einem Anzug.

    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Erst bin ich ins Armstrong’s, aber da war’s mir zu voll. Also bin ich hierher. Was trinken Sie da, Guinness? Moment mal, Sie haben ja Eis in Ihrem Glas? Servieren sie das hier so?«

    »Es ist Coca-Cola«, sagte ich, »aber sie haben Guinness vom Fass, und wahrscheinlich können Sie es auch mit Eis haben, wenn Sie das möchten.«

    »Auf gar keinen Fall. Weder mit noch ohne Eis. Was will ich?« Burke stand direkt vor uns. Er hatte noch kein Wort gesagt und sagte auch jetzt nichts. »Was für Bier haben Sie? Nein, mir ist eigentlich nicht nach einem Bier. Wie wär’s mit einem Johnny Walker Red? Mit Eis und ein wenig Wasser.«

    Burke brachte den Whisky und das Wasser separat in einem kleinen Glaskrug. Holtzmann goss etwas Wasser in sein Glas, hielt es gegen das Licht und nahm einen Schluck. Ich hatte plötzlich so was wie einen geschmacklichen Erinnerungsschub. Das letzte, was ich im Moment wollte, war, was zu trinken, aber einen Augenblick lang konnte ich den Whisky ganz deutlich schmecken.

    »Sympathischer Laden«, bemerkte Holtzmann. »Ich komme allerdings selten her. Und Sie?«

    »Ich finde es hier auch ganz sympathisch.«

    »Kommen Sie oft her?«

    »Nicht besonders. Ich kenne den Besitzer.«

    »Tatsächlich? Ist das nicht der Typ, den sie den Metzger nennen?«

    »Soviel ich weiß, nennt ihn niemand so. Das haben sich vermutlich irgendwelche Zeitungsfritzen ausgedacht, wahrscheinlich dieselben, die angefangen haben, die Gangster hier aus der Gegend die ›Westies‹ zu nennen.«

    »Nennen die sich selbst gar nicht so?«

    »Inzwischen schon«, sagte ich. »Aber vorher nicht. Was Mick Ballou angeht, kann ich Ihnen bloß so viel sagen: In seiner Kneipe sagt keiner Metzger zu ihm.«

    »Wenn ich was Falsches gesagt habe …«

    »Nein, nein, keine Sorge.«

    »Ich war vielleicht, keine Ahnung, vier –, fünfmal hier. Jedenfalls habe ich ihn bisher noch nicht hier gesehen. Wahrscheinlich würde ich ihn von den Fotos erkennen. Er ist doch ein ziemlicher Brocken, oder?«

    »Ja.«

    »Wie haben Sie ihn kennengelernt, wenn ich fragen darf?«

    »Ach, das ist schon ein paar Jahre her«, sagte ich. »Wir kennen uns schon ziemlich lange.«

    Er nahm einen Schluck von seinem Scotch. »Da könnten Sie sicher einige Geschichten erzählen.«

    »Ich bin kein großer Geschichtenerzähler.«

    »Das glaube ich nicht.« Er nahm eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und gab sie mir. »Hätten Sie Lust, mal mit mir Mittag essen zu gehen, Matt? Rufen Sie mich doch einfach an. Hätten Sie Lust?«

    »Mal sehen.«

    »Ich

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