Frau Sunna und Herr Tod
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Buchvorschau
Frau Sunna und Herr Tod - Katharina Schendel
Katharina Schendel wurde 1979 geboren und hat Geschichte, Kommunikationswissenschaften und Japanologie studiert. Nach längeren Aufenthalten in Tokio und London kehrte sie in ihre Heimat Thüringen zurück. Heute lebt sie dort mit ihrer Familie und geht mit Leidenschaft ihrem Hobby, dem Schreiben von Kriminalromanen, nach.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © dpa/Martin Schutt
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-183-3
Thüringen Krimi
Originalausgabe
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Für Dorothea,
die jeden Raum, den sie betritt,
mit Sonne flutet
Frau Sunna:
Wohlan, zum Kampfe bin ich bereit,
den Sieg will ich heute erringen!
Wohlan, Herr Winter, es ist so weit,
zu Ende ist deine Regentenzeit!
Ich werde im Kampf dich bezwingen!
Herr Winter:
Sei nur nicht allzu siegesbewusst!
Meine Macht ist noch lange nicht zu Ende!
Noch tobt der Nordwind in meiner Brust,
und voll ungebrochener Kampfeslust
zwingt dich die Kraft meiner Hände!
Die Berge sind noch bedeckt mit Schnee,
und der Frost beherrscht noch die Höhen,
im Eis sind erstarrt noch der Bach und der See,
und im Walde erfrieren noch Hase und Reh,
wenn meine Eiswinde wehen!
Frau Sunna:
Mich kannst du nicht schrecken, kalter Gesell!
Ich werde dich doch besiegen!
Ich schmelze dein Eis und erwecke den Quell,
und die Lerche soll bald wieder silberhell
in den blauen Himmel fliegen!
Wach auf, Mutter Erde! Wach auf! Wach auf!
Und sprenge des Fürsten Ketten!
Bruder Lenz, beginn deinen Siegeslauf!
Und ihr Menschen, ihr Menschen strömt alle zuhauf
und verlasst eure heimischen Stätten!
Entflammt auf den Höhen den Feuerbrand
und jagt ihn mit Macht von den Auen!
Ist er vertrieben erst aus dem Land,
sollt ihr des Frühlings klarblaues Band
in der lenzwarmen Luft wieder schauen.
Herr Winter:
Was führst du im Schilde? Was hast du vor?
Willst du die Menschen auf mich hetzen?
Ich öffne den Stürmen Tür und Tor:
Ihr Winde braust zu, euer grausiger Chor
soll alle in Schrecken versetzen!
Doch was ist das? Zu Hilfe! Mir wird so warm!
Verlöscht eure Feuerbrände!
Erbarmt euch, ihr Menschen, erbarmt, erbarmt!
Ganz kraftlos werden mir Hände und Arm,
und ich fühle, es … ist … das … Ende!
Frau Sunna:
Fort muss er nun, der die Freude nicht kennt,
der Feind ist dem Leben und Lieben!
Sein Tod ist besiegelt in diesem Moment;
seht nur, ihr Menschen, der Winter – er brennt!
Und wir sind die Sieger geblieben!
Helmut Stietzel (1923 – 2000)
Teil 1
Winter
»TÖTEN!«, hallte die kalte, herrschsüchtige Stimme durch seinen Schädel. »Du musst sie TÖTEN!«
Er rieb sich die Schläfen, ein kleiner, sinnloser Versuch des Aufbegehrens. Es würde nichts nützen, das war ihm völlig klar. Die Stimme ließ sich nicht besänftigen, geschweige denn abschalten. Zu oft schon hatte er sie gehört, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie ihm diesen speziellen Befehl erteilte.
Er blickte aus dem Fenster, doch seine Augen nahmen nicht wirklich etwas wahr. Sie starrten nur ins Leere. Seine Gedanken waren so finster wie Gewitterwolken.
»Sie haben es nicht anders verdient«, hörte er die imaginäre Stimme sagen. Er wusste, dass sie recht hatte. Ja, sie waren nichts als Abschaum, und er hasste sie. Er hasste sie so sehr, dass es wehtat.
Augenblicklich wurde er sich des dumpfen Pochens in seinem Kopf bewusst. Er spürte das Brennen in seinen Augen. Die zentnerschwere Last, die auf seiner Brust lag und von der er sich nicht befreien konnte. Das fiese Kribbeln unter seiner Haut, als ob Tausende wütender Ameisen auf seinem nackten Fleisch herummarschierten. Manchmal war der Schmerz so groß, dass er das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren.
Er presste seine Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe und hoffte vergeblich auf Linderung. Lange – zu lange – hatte er gegen den Hass angekämpft. Nach einem Ausweg gesucht. Sich in die ihm zugedachte Rolle gefügt. Doch damit war nun Schluss. Jetzt wusste er, dass der einzige Ausweg nur die totale Zerstörung sein konnte.
Er musste sie töten. Sie vernichten. Ihr Strahlen ein für alle Mal zum Erlöschen bringen und der Welt ihr wahres Antlitz zeigen. Denn hinter ihren schönen Fassaden verbargen sie die hässliche Fratze der Bosheit. Sie waren wie die Sirenen, die auf dem Meer die Seefahrer ins Verderben lockten.
Zum Glück war er längst immun gegen diesen falschen Liebreiz. Egal, wie sie es auch anstellen mochten, sie konnten ihn nicht mehr bezirzen.
Jetzt lag es an ihm, dem Rest der Menschheit die Augen zu öffnen. Das war die Bestimmung, die ihm das Schicksal zugeteilt hatte, und er nahm sie beflissen an.
Ein breites Grinsen zog sich quer über sein Gesicht. Nun, da er wusste, dass die Tage seiner Feinde gezählt waren, fühlte er sich gleich viel wohler. Geradezu euphorisch. Endlich würde er es ihnen heimzahlen können.
Er betrachtete die Fensterscheibe und malte mit seinem Zeigefinger an die Stelle, die von seinem Atem beschlagen war, ein kleines Smiley. Es grinste ebenfalls. Bittersüß.
Ein erneutes Stechen in seinem Kopf ließ ihn aufstöhnen. Er konnte es kaum erwarten, sich für die jahrelange Missachtung zu rächen. Für die verächtlichen Blicke. Die höhnischen Gesten. Die Schikanen und Demütigungen. Für alles.
Kalte Wut stieg in ihm auf. Er ballte die Hände zu Fäusten.
»TÖTEN!« Diesmal war es nicht die imaginäre Stimme, die er hörte, sondern seine eigene. »Ich muss sie TÖTEN!«, wiederholte er wieder und wieder, mal leise, mal laut, krallte seine Fingernägel in die Kopfhaut, rieb sich die Stirn.
Dann rannte er wie ein wild gewordener Affe durchs Zimmer und stieß mit einem lauten Schrei den Esstisch um, auf dem eine leere Karaffe und mehrere Flaschen gestanden hatten. Im selben Moment hielt er inne und lauschte. Das Geräusch von berstendem Glas gefiel ihm ausgesprochen gut.
Ich werde es tun, dachte er. Ich werde sie in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt.
7. März
Emilia stapfte furchtlos geradeaus. Der weiche Pulverschnee knirschte unter ihren Füßen, und im schwachen Lichtschein der Laternen tanzten unheimliche Schatten. Auf den Straßen war nicht mehr viel los um diese Zeit. Einige Autos schlitterten noch über die spiegelglatten Fahrbahnen, und zwei, drei Passanten huschten wie graue Nebelschwaden die Bürgersteige entlang.
Das alles machte Emilia nichts aus. Im Gegenteil. Je weniger Menschen ihr begegneten, desto besser. Sie brauchte niemanden – und schon gar nicht dieses absurde Geschwätz. Das war doch sowieso immer das Gleiche. Rente, Arthritis und Altersheim waren die bevorzugten Themen ihrer Generation. Keines davon schnitt sich mit ihren Interessen, schönen Dank auch. Da waren ihr Stille und Einsamkeit viel lieber. Da konnte sie ihren Gedanken nachhängen und von der guten alten Zeit träumen.
Natürlich war Emilia nicht immer so ungesellig gewesen. Früher, als Filme noch schwarz-weiß und Telefone noch keine Computer gewesen waren, hatte sie die Gesellschaft von Menschen sogar als äußerst erstrebenswert empfunden. Als junge Frau war sie der Mittelpunkt jeder Feier gewesen. Wie ein Magnet hatte sie die anderen angezogen. Doch irgendwann war sie dessen überdrüssig geworden. Sie war sich selbst genug, andere Menschen empfand sie nur noch als Last. So störend wie ein Haufen Schmeißfliegen auf einem Erdbeermarmeladenbrot.
Vorsichtig trippelte sie über das vereiste Kopfsteinpflaster. Ganz wie es ihrer Gewohnheit entsprach, hatte sie sich auch an diesem Abend zwar modisch, aber unauffällig gekleidet, sodass ihre grazile Gestalt fast mit den dunklen Hausfassaden verschmolz. Der dunkelblaue Mohairmantel, der ihr bis zu den Stiefelsohlen reichte, beschützte sie vor dem unbarmherzigen Frost. Unter der cremefarbenen Baskenmütze, die leicht schief auf ihrem Kopf thronte, quollen silbergraue Löckchen hervor. Die alte Queen-Mum-Handtasche unter den Arm geklemmt, stützte Emilia sich mit der einen Hand auf ihren Krückstock, in der anderen hielt sie die Hundeleine fest.
Sie dachte daran, dass sie ihrem Sohn versprochen hatte, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr spazieren zu gehen. Natürlich hatte sie von Anfang an gewusst, dass sie dieses Versprechen nicht würde einhalten können. Dazu genoss sie die nächtlichen Rundgänge zu sehr. Und außerdem musste sie ja mit Kurti Gassi gehen. Kurti war ihr Rauhaardackel, der ihr seit elf Jahren nicht von der Seite wich. Sie hatte ihn nach ihrem verstorbenen Gatten benannt, und jedes Mal, wenn sie mit dem Hund redete, hatte sie das Gefühl, dass sie mit ihrem Mann sprach.
Sie lächelte still in sich hinein und schluckte das schlechte Gewissen ihrem Sohn gegenüber hinunter. Letztes Weihnachten hatte er ihr sogar ein Seniorenhandy geschenkt, eins mit extragroßen Tasten. Für den Notfall, hatte er gesagt. Sie hatte es noch nie gebraucht, achtete aber darauf, dass es stets einsatzbereit in ihrer Handtasche lag. Damit hielt sie wenigstens eines ihrer Versprechen ein.
Emilia seufzte laut. Der Junge meinte es nur gut, machte sich aber eindeutig zu viele Sorgen. Wer tat denn schon einer alten Frau etwas? Außerdem fühlte sie sich alles andere als wehrlos. Selbst den jugendlichen Rüpel, der vor ein paar Monaten versucht hatte, ihr die Handtasche zu entreißen, hatte sie erfolgreich in die Flucht geschlagen. Sie hatte einfach den Krückstock in die Speichen seines Fahrrads gerammt und den Strolch damit zu Fall gebracht. Der versuchte bestimmt nie wieder, alte Damen zu berauben. So eine Gehhilfe war doch wirklich erstaunlich vielfältig einsetzbar.
Tatsächlich war Emilia trotz ihrer sechsundachtzig Jahre sowohl körperlich als auch geistig noch relativ gut in Schuss. Klar, die Gelenkigkeit war ein wenig auf der Strecke geblieben. Und sie hatte an Kilos verloren. Die Altersdürre eben. Dagegen war man machtlos.
Von der Kurstraße bog sie in die Feodora-Promenade ein, und wurde so abrupt von einer eisigen Windbö erfasst, dass sie um ein Haar gestrauchelt wäre. Sie zog sich den selbst gestrickten grauen Wollschal fester um ihre schmalen Schultern und die Baskenmütze noch etwas tiefer ins Gesicht. Sie würde sich dem Winter niemals beugen! Schließlich war sie eine Frau Sunna.
Eine halbe Ewigkeit war das jetzt her – in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch Emilia erinnerte sich noch gut daran. Sie sah das prächtige Paillettenkleid vor sich, die goldene Krone, die sie voller Stolz getragen und die so gut zu ihren strohblonden Haaren gepasst hatte. Auch der ausdrucksvolle Text und die schwungvollen Gesten, mit denen sie den Winter vertrieben hatte, waren ihr noch so gut im Gedächtnis, als wäre es gestern erst geschehen. Nein, eine Frau Sunna kriegte man nicht so schnell klein.
Unverzagt schritt sie voran. Ihr Blick fiel auf den verschneiten, von Bäumen und Sträuchern gesäumten Promenadenweg, der, da es erst vor einer Stunde aufgehört hatte zu schneien, beinahe unberührt vor ihr lag. Nur eine einzige Spur schlängelte sich durch das Weiß, eine Spur, die sich eindeutig der Gattung Homo sapiens zuordnen ließ. Es handelte sich um Schuhabdrücke, wahrscheinlich Stiefel, auffällig groß, tief eingedrungen und mit einem geriffelten Profil. Ein großer, schwerer Mann war hier vor Kurzem in die gleiche Richtung gelaufen.
Während sie das dachte, spürte Emilia, wie ihr ein Schauer über den Rücken rieselte. Schnell wischte sie das ungute Gefühl beiseite. Man musste ja nicht immer gleich das Schlimmste denken, nicht wahr? Sonst wurde man noch völlig meschugge. Wahrscheinlich war es auch bloß ein nächtlicher Wanderer, jemand, der die Einsamkeit und Stille der Nacht genauso bevorzugte wie sie. Trotzdem musste sie damit rechnen, dass er den Weg, der zur Waldschänke führte, auch wieder zurückgelaufen kam.
Sie presste die Lippen aufeinander, wie sie es immer tat, wenn sie sich auf die Begegnung mit einem anderen Menschen vorbereitete. Ihre Gedanken verhielten sich jedoch wie ein hakenschlagendes Kaninchen und kehrten umgehend zu dem pittoresken Wirtshaus am Ende der Promenade zurück.
Emilia dachte an die unzähligen sonntäglichen Ausflüge, die sie mit ihrer Familie früher dorthin unternommen hatte. Die vielen glücklichen Augenblicke, die, in ein warmes goldenes Licht getaucht, nun vor ihrem inneren Auge auftauchten. Die großzügige Außenterrasse mit den voll besetzten Tischchen, davor ein kleiner Weiher, an dem ein paar Kinder spielten. Die brombeerfarbenen Sonnenschirme. Fröhliches Geplauder. Selbst gemachte Waldmeisterlimonade. Dazu Quarkkuchen mit Rosinen, frisch aus dem Ofen. Alles, ja sogar das Leben selbst, schien leicht und unbeschwert. Kein Schatten bedrohte diese Idylle. So war das wirklich gewesen, damals.
Heute wusste Emilia, dass es die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen war. Möglicherweise kam sie ja deshalb immer wieder hierher. Damit sie dieser goldenen Zeit noch einmal nahe sein konnte.
Plötzlich blieb Emilia stehen. Vor ihr war eine der Laternen erloschen. Bis zur nächsten Lampe war es ein ganzes Stück, und sie würde einige Meter durch die Dunkelheit laufen müssen. Vielleicht sollte sie besser umkehren?
Ach was! Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Hier gibt es nichts, wovor du dich zu fürchten brauchst. Der Weg ist gerade und ohne Unebenheiten. Außerdem sind es doch bloß ein paar Meter. Und von dem mysteriösen Unbekannten ist auch nichts zu sehen. Also vorwärts, Emilia! Jetzt sei nicht so eine Memme.
Sie ging weiter. Mit jedem Schritt gelangte sie tiefer in die Dunkelheit dieser mondlosen Nacht. Nur der Schnee spendete noch etwas Helligkeit. Doch da Emilias Augenlicht seit einigen Jahren vom grauen Star beeinträchtigt wurde, war es für sie so finster, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Sie fluchte leise. Ausgerechnet jetzt musste Kurti auch noch anfangen zu zerren.
»Aus, Kurti, aus!«, bellte sie, doch er beachtete sie gar nicht, sondern zog wie ein Berserker auf ein dunkles Gestrüpp zu.
Schon erstaunlich, welche Kraft in einem Dackel steckte. Schnüffelnd und schnuppernd zog er sie mit sich. Offenbar hatte er etwas gewittert.
Emilia spitzte die Ohren. Was war das da für ein Geräusch? Es klang wie ein lautes Schnaufen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Äste knackten. In dem Gebüsch bewegte sich etwas. Sicherlich bloß ein Tier.
Wieder fegte ein Windstoß um sie herum. Es war ihr, als würde etwas abgrundtief Böses in der Dunkelheit lauern. Ein Dämon, der sie beobachtete und nur auf den richtigen Moment wartete, um sich auf sie zu stürzen. Eine tödliche Gefahr.
Im nächsten Moment hielt sie das jedoch für einen höchst törichten Gedanken und schalt sich selbst eine hysterische alte Schachtel. Wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit zu viele Horrorfilme im Fernsehen gesehen.
Endlich ließ Kurti von dem Gebüsch ab, und sie setzten ihren Weg fort. Als sie den Lichtkegel der nächsten Laterne erreichten, atmete Emilia auf.
Es dauerte nicht lang, und ihre Erinnerung holte sie erneut ein. Sie dachte daran, wie sie hier mit ihren Schulkameraden Verstecken gespielt hatte. Breite Baumstämme, hinter die man sich kauern konnte, hatte es auch damals schon mehr als genug gegeben. Am allerliebsten aber hatten sie »Räuber und Gendarm« gespielt und sich mit lautstarkem Gebrüll die ganze Promenade entlanggejagt. Emilia war dabei immer der Gendarm gewesen.
Sie folgte der sanften Biegung, die Augen konzentriert auf den Boden vor sich gerichtet. Da fiel ihr am linken Wegrand plötzlich etwas auf.
Zuerst sah sie nur die Hand. Sie dachte, dass es schon sehr leichtsinnig war, bei diesem Wetter ohne Handschuhe vor die Tür zu gehen, dann erst wurde ihr bewusst, dass die Hand im Schnee lag. Sie ging vorsichtig näher und sah, dass an der Hand ein Arm war. Ein nackter Arm, schlank und nicht besonders muskulös. In den darauffolgenden Sekunden wurde sie schließlich des ganzen menschlichen Körpers gewahr, Stück für Stück, Körperteil für Körperteil, als wollte ihr Unterbewusstsein sie schonend auf den grausigen Anblick vorbereiten.
Hätte Emilia über ein zarteres Gemüt verfügt, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen oder hätte einen Infarkt erlitten. Zwar wummerte ihr Herz wie ein Presslufthammer, und ihre Knie fühlten sich an, als bestünden sie aus weichem Gummi, doch alles in allem war sie robust genug, um diese Situation zu überstehen. In den Krimiserien war sie schon oft Zeugin davon geworden, wie ein Mensch eine Leiche fand. Meistens stieß derjenige einen Schrei aus oder sank bewusstlos zu Boden. Emilia hingegen blieb einfach nur stehen. Sie rührte sich keinen Millimeter und zwang sich, ganz genau hinzusehen.
Es war der Körper einer Frau. Sehr jung. Höchstens Anfang, Mitte zwanzig. Sie war vollkommen unbekleidet, und unterhalb der linken Brust klaffte ein großes rundes Loch, so als wäre dort etwas Spitzes hineingerammt und wieder herausgezogen worden. In der rechten Hand hielt sie irgendeinen kleinen Gegenstand, was genau, ließ sich aber nicht erkennen.
Emilia hatte keinen Zweifel, dass die Frau tot war. Die schwere Verletzung unweit des Herzens, die starren, leblosen Augen, die gen Himmel blickten, und die fahle, blasse Haut ließen keinen anderen Schluss zu. Auch konnte die Tote noch nicht lange hier liegen, denn der Körper war nirgends mit Schnee bedeckt.
Emilia dachte an die frischen Schuhabdrücke. War sie die ganze Zeit einem Mörder gefolgt?
Ein kurzes, energisches Bellen riss sie aus ihren Gedanken. Kurti saß direkt neben ihr und sah sie, den Kopf leicht zur Seite geneigt, aus treuen Knopfaugen an. Er machte keinerlei Anstalten, an der Leiche zu schnüffeln, stattdessen war es, als ob er Emilia fragen wollte, was sie nun zu tun gedachte.
Sie blickte sich unsicher um, denn sie hatte noch immer das Gefühl, dass jemand sie aus der Dunkelheit beobachtete. Jetzt bloß nicht panisch werden, dachte sie. Contenance. Sie band sich die Hundeleine um die Taille, öffnete ihre Handtasche und kramte, am ganzen Leib zitternd, nach ihrem Seniorenhandy.
9. März
Jenny rutschte unruhig auf ihrer Yogamatte hin und her. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Es war nicht zu kalt. Nicht zu warm. Ihr Atem ging langsam und regelmäßig, trotzdem konnte sie sich einfach nicht auf die Übungen konzentrieren. Und entspannen schon gar nicht. Selbst die plätschernde Meditationsmusik im Hintergrund und die Lavendelräucherstäbchen waren da keine Hilfe.
»Lasst die Gedanken kommen und gehen«, hörte sie die Yogalehrerin mit ruhiger und angenehm gedämpfter Stimme sagen. »Betrachtet sie und lasst sie vorbeiziehen wie Blätter, die auf einem Fluss davontreiben.«
Jenny dachte an das Hörselstauwehr am Rothenhof, wo sie manchmal nach ihrer Arbeit spazieren ging. Sie