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Stalingrad: Der Untergang der 6. Armee Überlebende berichten
Stalingrad: Der Untergang der 6. Armee Überlebende berichten
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eBook796 Seiten13 Stunden

Stalingrad: Der Untergang der 6. Armee Überlebende berichten

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Über dieses E-Book

Der Name dieser Stadt steht für eine der blutigsten und fatalsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs und für dessen Wende. Der Autor hat sich in den letzten Jahrzehnten der Erforschung dieses Themas gewidmet. Bei seiner bislang auf die Geschichte der Ärzte, des sonstigen medizinischen Personals sowie der Rolle der internationalen Hilfsorganisationen, vor allem des Roten Kreuzes, gerichteten Arbeit hat er im Laufe der Zeit auch eine größere Anzahl von Augenzeugenberichten aus Stalingrad sammeln können. Diese Berichte deutscher Soldaten aller Waffengattungen, die an der Schlacht um diese Stadt beteiligt waren, werden nun erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie spiegeln die Härte der Kämpfe wider, aber auch die langsam verebbende Hoffnung, aus dem Kessel befreit zu werden. Die meisten dieser Berichte waren bislang unveröffentlicht oder wurden nur an entlegener Stelle für einen kleinen Kreis publiziert. Busch hat sich damit nicht nur um die Publikation von Primärquellen eines militärisch zentralen Ereignisses des 20. Jahrhunderts verdient gemacht, sondern auch um die Darstellung eines menschlich zutiefst bewegenden Kapitels einer der größten Tragödien des Krieges.
SpracheDeutsch
HerausgeberAres Verlag
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9783902732798
Stalingrad: Der Untergang der 6. Armee Überlebende berichten

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    Buchvorschau

    Stalingrad - Reinhold Busch

    entlassen.

    TEIL I

    Verwundet und krank überlebt

    Rostow Mitte Dezember 1942: Ein ausgeflogener verwundeter Angehöriger der 6. Armee wird zur weiteren Versorgung in einen LKW gelegt.

    Michael Deiml:

    Letzte Landung im Kessel

    ¹

    Michael Deiml, wurde am 28. März 1918 in Auerbach/Oberpfalz geboren und verstarb am 9. Februar 2009 in Pegnitz. Als Kampfflieger ausgebildet, war er an Versorgungseinsätzen für die eingeschlossene 6. Armee beteiligt. Nach dem Ende des Krieges arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Polizeibeamter (→ Bildtafel III).

    Nach meiner Ausbildung zum Bordschützen und dann zum Bordmechaniker vom Dezember 1939 bis März 1940 bei der Großen Kampffliegerschule 4 in Thorn/Westpreußen und bei der Ergänzungskampfgruppe 3 in Krakau war ich vom 1. April 1940 bis zum 30. September 1940 beim Kampfgeschwader 55, dem „Greifengeschwader", eingesetzt.

    Mit meiner ersten Besatzung flog ich 20 Einsätze gegen Frankreich und 9 gegen England. Diese Besatzung mit Flugzeugführer Leutnant Müller wurde im Frühjahr 1941 beim Einsatz gegen England von englischen Jagdfliegern tödlich abgeschossen, wobei sie in den Ärmelkanal stürzte. Da ich zu dieser Zeit stationär wegen einer Mittelohreiterung im Luftwaffenlazarett München-Oberföhring lag, wurde ich durch den Feldwebel Simon vertreten, der somit für mich starb.

    Nach meiner Genesung bei der Genesenen-Kompanie der Kampfflieger-Sammelgruppe Quedlinburg kam ich am 1. Oktober 1941 wiederum zum Kampfgeschwader 55 zum Einsatz in Rußland. Hier kam ich zur 3. Gruppe, 7. Staffel, und bekam eine neue Besatzung. Mit dieser begann ich dann am 7. Oktober 1941 – meinen nunmehr 30. Feindflug – vom Flugplatz Kirowograd aus meine Rußlandeinsätze. Wegen meiner sehr vielen Fronteinsätze – es waren 387 Feindflüge – ist es mir nicht mehr möglich, diese einzeln zu kommentieren, jedoch will ich meine Teilnahme als Flieger am Kampf um Stalingrad etwas erläutern.

    Nach den Kaukasus- und anderen Einsätzen ums Schwarze Meer begannen für mich die Kampfeinsätze im Raum Stalingrad mit meinem 139. Feindflug. Am 21. August 1942 flogen wir gleich zwei Angriffe um 6.30 und 13.40 Uhr ab Flugplatz Kramatorskaja in den Raum westlich Stalingrad mit Angriffen auf russische Truppen. Nach täglich mehreren Einsätzen verlegten wir am 23. August 1942 zum Flugplatz Morosowskaja. Am 24. August 1942 begannen wir die konzentrierten Bombenangriffe auf Stalingrad. Wir flogen um 6.30, 11.30 und 15.15 Uhr drei Einsätze im Hochangriff auf die Stadt, unter anderem auf den Bahnhof. Wie des öfteren bekamen wir starke Flakabwehr zu spüren. So flog ich mit meiner Besatzung unter Oberfeldwebel Dietrich bis zum 3. Oktober 1942 fast täglich von den Flugplätzen Kramatorskaja, Morosowskaja und Tazinskaja Einsätze in den Raum Stalingrad mit Stadtgebiet. Somit waren es vom 21. August bis zum 3. Oktober 1942 – 6 Wochen – 58 Feindflüge, bei denen wir jeweils zwei bis viereinhalb Stunden in der Luft waren. Unser Auftrag lautete: Bombenabwurf über den Zielgebieten. In der dortigen Kalmükensteppe gab es viele Schluchten; eine besonders große – wir nannten sie „Gratschital (nordwestlich von Stalingrad gelegen) – mußten wir wiederholt angreifen sowohl, um russische Truppen als auch deren Bereitstellungen und Nachschubbasis zu bekämpfen. Im „Gratschital waren die Russen sehr stark vertreten. Zur Unterstützung unserer Bodentruppen waren wir sehr oft zur Bekämpfung russischer Truppen eingesetzt, in der Regel erfolgten die Einsätze bei Tag. Andere Ziele im Stadtgebiet, wie Bahnhöfe, Industrieanlagen und Flugplätze, auch östlich der Wolga, griffen wir sowohl bei Tag als auch bei Nacht an. Wiederholt wurden wir von Flak und Jagdfliegern beschossen, wobei wir mehrfach Treffer im Flugzeug abbekamen. Zum Glück wurde bei diesen Einsätzen kein Besatzungsmitglied getroffen.

    Erwähnen möchte ich besonders den letzten Feindflug mit meiner zweiten Besatzung (Dietrich); es war mein 196. Feindflug. Vom Flugplatz Kramatorskaja starteten wir mit unserem Flugzeug He 111 – Zulassungsnummer G1+BD, so die Beschriftung – am 2. Oktober 1942 um 20.45 Uhr. Gegen 23 Uhr erfolgte unser Nachtangriff auf Flugplätze östlich Stalingrads jenseits der Wolga. Bei gegen uns gerichteten Scheinwerfern wurden wir von russischer Flak beschossen, jedoch nicht getroffen. Durch den Ausfall unserer FT-Anlage, Funkempfänger „kurz und „lang, hatten wir keine Standortbestimmung. Unsere Bodenstelle konnte uns aber hören, da unsere beiden Sender noch funktionierten. Wie wir später erfuhren, flogen wir nah an unserem Einsatzgebiet vorbei und nunmehr orientierungslos in der Nacht dahin. Schließlich faßten wir den Entschluß, Richtung Süden zu fliegen, um das Asowsche Meer zu erreichen, weil man bei Nacht auch Wasser und Land unterscheiden und sich somit am Küstenverlauf orientieren konnte. Da wir aber nicht wußten, wo wir uns befanden, waren wir auch besorgt, auf russisch besetztes Gebiet zu geraten. So rief der Beobachter, Leutnant Winkler, dem Flugzeugführer Oberfeldwebel Dietrich mehrmals zu: „Willi, flieg nach Westen, wir kommen sonst zum Iwan!" Der Russe war damals allgemein gefürchtet. Nach einigem Hin und Her hielten wir aber trotzdem Kurs gegen Süden, denn das Flugbenzin wurde immer knapper. Gegen 4.30 Uhr erreichten wir die Küste des Asowschen Meeres. Als wir uns bei noch sehr düsterem Morgengrauen zurechtfanden, konnten wir die nächstgelegenen Flugplätze Nikolajew und Mariupol wegen Treibstoffmangels nicht mehr anfliegen. So mußten wir umgehend notlanden, und zwar mittels Bauchlandung auf einem Acker, 15 km nördlich von Berdiansk. Das Fahrwerk hatten wir schon ausgefahren, zogen es dann aber wieder ein. Bei einer Radlandung, wie vorgesehen, wären wir bei 150 km/h Landegeschwindigkeit in eine tiefer gelegene und von oben nicht sichtbare Feldstraße gerast, was beim Überschlagen der Maschine und entsprechender weiterer Folgen unser Tod gewesen wäre. Zu Fuß ging es dann etappenweise zurück zu unserem Einsatzflugplatz, zu dem wir nach einigen Tagen gelangten.

    Im Oktober wurde unser Flugzeugführer, Oberfeldwebel Dietrich, als Fluglehrer zur 4. Gruppe – Ersatzgruppe des KG 55 – versetzt, und meine bisherige zweite Besatzung wurde aufgelöst. Wir übrigen Besatzungsmitglieder wurden zu anderen Besatzungen versetzt, weil es dort immer wieder zu Verlusten einzelner Kameraden kam. Zunächst ohne Besatzung, kehrte ich dann nach einem Urlaub im Dezember 1942 zu meiner Staffel nach Rußland zurück. Unsere Einsatzgruppe lag nun auf dem Flugplatz Nowotscherkassk. Als Aushilfe bei der Besatzung von Unteroffizier Püschel flog ich am 18. Januar 1943 im Tiefflug einen Angriff auf Truppen am südlichen Don östlich von Nowotscherkassk.

    Danach kam ich zu meiner dritten Besatzung unter Unteroffizier Adrian. Ich war Bordmechaniker; Bordschütze Unteroffizier Werner Deiters, Funker Obergefreiter Werner Schubert, Beobachter Obergefreiter Willi König. Da unsere Truppen seit dem 22. November 1942 eingekesselt waren, flogen wir jetzt nur noch Versorgungseinsätze. Wir warfen unter anderem Verpflegungsbomben und Brotsäcke ab und holten bei Landungen im Kessel Verwundete, gelegentlich auch einen Kriegsberichterstatter und eine abgeschossene Flugzeugbesatzung, heraus.

    Den ersten Einsatz mit meiner dritten Besatzung, zugleich meinen 198. Feindflug, flog ich am 12. Januar 1943. Mit der He 111, Zulassungs-Nr. G1+DS, starteten wir um 7.45 Uhr in Nowotscherkassk und landeten um 9.55 Uhr auf dem Flugplatz Pitomnik. Dort befanden sich in Massen verwundete deutsche Soldaten, außerdem Leute der Organisation Todt², fast alle etwas ältere Kameraden. Sie waren mit olivgrüner Uniform leicht bekleidet. Gefragt, warum auch sie im Kessel mit eingeschlossen worden waren, erklärten sie, sie seien zum Instandhalten auf der Straße von Kalatsch nach Stalingrad tätig gewesen. Nachdem wir einen Obergefreiten einer Heereseinheit abgesetzt hatten, der bestimmte Ersatzteile für Geräte seiner Einheit aus Deutschland holen sollte und sie nun mit uns in den Kessel gebracht hatte, begannen wir mit dem Entladen der Verpflegungsbomben, wobei uns die Männer der Organisation Todt halfen.

    Danach entnahmen wir etwa 20 Säcke voller Brotlaibe aus dem Flugzeug und gaben sie dort ab. Nachdem wir acht verwundete Soldaten und einen Kriegsberichterstatter aufgenommen hatten, rollten wir zur Startbahn. Obwohl unser Flugzeug beim Hinflug durch schweren Flakbeschuß stark beschädigt worden war – das Leitwerk und der hintere Teil der Maschine waren mit etwa 50 Flakgeschossen durchsiebt –, war es noch flugtauglich! Da unser Flugzeug aber kein Transport-, sondern ein Kampfflugzeug war, mit Bombenschächten, Zusatztanks etc. im Innenraum, konnten wir nur acht Soldaten aufnehmen. Um 10.50 Uhr starteten wir in Pitomnik und landeten gegen 12.10 Uhr in Nowotscherkassk.

    Nachdem Pitomnik am 15. Oktober 1943 von den Russen eingenommen worden war, stand uns nur noch der Flugplatz Gumrak zur Verfügung. Da die Landungen wegen der sehr schlechten Platzverhältnisse – Granateneinschläge, umherliegende Fahrzeug- und Waffenteile etc. – mit erheblichen Gefahren verbunden waren, konnten nur noch jeweils Einzelne unter großen Schwierigkeiten aufsetzen. Die eingesetzten Fliegergeschwader bekamen nun vom Führer-Sonderbeauftragten, Generalfeldmarschall Milch³, den Befehl: „Es muß gelandet werden!" Durch laufende Verluste war unsere Kampfgruppe, 3. KG 55, von 27 auf 12 Besatzungen inzwischen deutlich geschwächt.

    Zum Einsatz am 18. Januar mit dem vorgenannten Befehl „Landung in Gumrak" waren von den 12 Besatzungen nur noch drei einsatzklar; die restlichen fielen durch beschädigte Flugzeuge, Kranke usw. aus. Mit einem Klein-LKW wurden wir drei Besatzungen unter den Flugzeugführern Leutnant Georg Leipold, Unteroffizier Peter Adrian und dem Obergefreiten Heinz Danz von der Unterkunft zum Flugplatz Nowotscherkassk gefahren. Es herrschte eisige Kälte, tiefer als minus 20 Grad, in der Höhe kälter als minus 40 Grad. Auf der Hinfahrt sagte Oberfeldwebel Lochner aus Bad Berneck noch zu uns, er habe bei diesem Einsatz ein ungutes Gefühl. Am Flugplatz angekommen, wurden gerade die Motoren unserer Einsatzflugzeuge vom Bodenpersonal mit Warmluftgeräten angewärmt. Nachdem der erste Wart die Motoren abgebremst und das Flugzeug startklar gemeldet hatte, stiegen wir ein und rollten zur Startbahn.

    Mit unserer He 111, Zulassungs-Nr. G1+AR, starteten wir um 20.40 Uhr und setzten etwa gegen 22 Uhr auf dem Flugplatz Gumrak zur Landung an. Wir konnten aber nicht landen, sondern mußten durchstarten, weil Hindernisse auf der Landebahn lagen: An der dritten Lampe des Landepfades stand ein vermutlich beschädigtes Flugzeug und wich nicht von der Stelle. Diesen Vorgang wiederholten wir acht- bis zehnmal, wobei wir immer wieder das Fahrwerk ein- und ausfahren mußten. Somit konnten wir trotz Befehl nicht landen, da wir sonst in dieses Flugzeug gerast wären. Wir warfen dann sofort unsere Verpflegungsbomben ab, öffneten die Einstiegsklappe der Bodenwanne und warfen, bei eisigem Luftzug über der Bodenwanne stehend, unsere mitgeführten 20 Brotsäcke ab. In der Nähe fliegende russische Jäger wurden uns nicht zur Gefahr. Der Besatzung Danz ging es genauso wie uns, so daß auch sie nicht landen konnte. Die Besatzung Leipold kehrte jedoch von diesem Feindflug nicht zurück und ist seitdem vermißt. Ob sie von den von uns wahrgenommenen russischen Jägern abgeschossen wurde, ist mir nicht bekannt.

    Ähnliche Hindernisse gab es dort bei unserem nächsten Einsatz am 20. Januar 1943, ebenfalls ein Nachteinsatz. Wir starteten mit einer He 111, Zulassungs-Nr. G1+ZR, um 1.30 Uhr in Nowotscherkassk und kreisten etwa eineinhalb Stunden um den Flugplatz Gumrak herum, ohne landen zu können. Wiederum warfen wir die Verpflegung ab und landeten nach knapp 4 ½ Stunden Flugzeit um 5.55 Uhr wieder in Nowotscherkassk. Da wir entgegen dem Befehl nicht gelandet waren, erstatteten wir einen schriftlichen Bericht, auf den wir jedoch keine Antwort bekamen. Bei einem Tageseinsatz nach Gumrak hätten wir bei einer Übersicht über den gesamten Flugplatz sicherlich eine Landemöglichkeit gefunden – wir wurden aber nicht mehr bei Tag eingesetzt!

    Nach dem Verlust von Pitomnik hatten wir vom 17. bis zum 21. Januar 1943 zehn Einsätze sowohl bei Tag als auch bei Nacht – mit Abwurf von Verpflegungsbomben und Angriffen auf russische Truppen und deren Waffen und Artilleriestellungen, unter anderem in der Nähe unseres Flugplatzes Nowotscherkassk und östlich Rostow am Don. Nachdem auch der letzte Flugplatz Gumrak, etwa 10 km westlich von Stalingrad, am 21. Januar verlorengegangen war, konnte nur noch auf dem Notflugplatz Stalingradskij gelandet werden, der noch näher an der Stadtgrenze errichtet worden war. Diese Möglichkeit bestand nur noch am 22. und 23. Januar, als Stalingradskij noch nicht von den Russen eingenommen worden war. Am 22. Januar 1943 um 9.05 Uhr starteten wir in Nowotscherkassk mit unserer He 111, Zulassungs-Nr. G1+CR, und landeten um 10.45 Uhr auf dem bei uns Stalingradskaja genannten Notflugplatz. Dort angekommen, hatten wir einen sehr traurigen Anblick. Bei den eisigen Temperaturen, minus 30 Grad und tiefer, trafen wir unsere Soldaten leicht bekleidet, mit nur dünner Uniform, ausgehungert, zusammengefroren und fast regungslos an. Beim Abnehmen der Verpflegungsbomben und Ausladen der Brotsäcke sagte ein dort noch tätiger Hauptmann der Flak zu mir, daß er der letzten Maschine sein Testament mitgebe, das er in seiner Manteltasche bei sich hatte. Am folgenden Tage bei unserer letzten Landung war der Hauptmann nicht mehr zu sehen. Während dieses Aufenthaltes mußten wegen der eisigen Kälte die Motoren mit rotierenden Propellern eingeschaltet und in Betrieb gelassen werden, da keine Warmluftgeräte zum Anwärmen von erkalteten Motoren vorhanden waren. Außer der Verpflegung entnahmen wir auch noch Benzin aus einem unserer Tanks für die Fahrzeuge am Flugplatz, die keinen Kraftstoff mehr hatten. Von den vielen anwesenden Verwundeten konnten leider nur einige mitgenommen und ausgeflogen werden; außerdem mußten wir fünf Mann einer Flugzeugbesatzung mitnehmen, die im Kessel abgeschossen worden waren. Um 11.25 Uhr starteten wir und landeten glücklich um 12.55 Uhr wieder in Nowotscherkassk.

    Nach dieser Landung mußten wir noch am selben Tag nach Stalino fliegen, wo unser Flugzeug mit Munitionsbomben, d. h. in Bombenhüllen verpackte Infanteriemunition, beladen wurde. Danach flogen wir um 16.30 Uhr ab Stalino in den Kessel und warfen für unsere Truppen diese Munitionsbomben ab. Um 19.50 Uhr waren wir wieder in Nowotscherkassk zurück.

    Mit derselben Maschine starteten wir am 23. Januar 1943 morgens um 7.25 Uhr in Nowotscherkassk und landeten um 9.20 Uhr in Stalingradskij. Beim Ausladen der Brotsäcke fielen plötzlich rundum Schüsse von russischen Jagdfliegern. Ich sprang sofort aus dem Flugzeug und schoß mit einem Maschinengewehr, MG 15, auf die angreifenden Flieger. Zum Glück wurden weder unser Flugzeug noch wir Besatzungsmitglieder oder die um uns anwesenden Verwundeten verletzt. Ein zweiter Angriff der Russen während unserer Anwesenheit erfolgte nicht. In Eile luden wir weiter unsere Brotsäcke aus. Plötzlich hörten wir einen dumpfen Schlag, und als wir in diese Richtung blickten, sahen wir, wie ein Soldat ohne Kopf neben dem rotierenden Propeller am linken Motor unseres Flugzeuges umfiel. Von den Kopfresten war nur noch Blut am linken Fahrwerk zu sehen. Von zwei Feldgendarmen wurde der Tote weggebracht und identifiziert. Trotz der Aufregung für uns alle mußten wir schnellstmöglich den Rest abladen, da mit erneuten Fliegerangriffen der Russen zu rechnen war. Nun rollten wir mit acht Verwundeten zur Startbahn. Sehr viele von ihnen, auch diejenigen, die wir schon am Vortage gesehen hatten, mußten leider im Kessel bleiben, so auch ein Verwundeter mit Gipsarm, der mir schon am Tag vorher aufgefallen war und jetzt wieder nicht mitkam. Vor dem Start sagte Adrian zu mir, ich solle aussteigen und am Heck das Höhenruder des Leitwerkes zurechtbiegen, damit es nicht mehr klemmte. Es war zuvor bei der Landung durch den Aufschlag auf den etwa 30 bis 40 cm hohen festgefrorenen Schnee beschädigt worden. Nach dem Öffnen der Einstiegsklappe an der Bodenwanne stieg ich aus, ging an das hintere Ende unseres Flugzeuges und bog das Höhenruder zurecht. Währenddessen stieg ein Verwundeter bei geöffneter Einstiegsklappe in das Flugzeug. Als ich ihm folgte, sah er mich aufgeregt, wie um sein Leben ringend, mit dem Wusch an, ihn im Flugzeug zu belassen. Diesen Anblick kann ich nie vergessen. Obwohl wir schon voll beladen waren, ließ ich ihn in der Maschine und sagte dem in der Kanzel am Steuer sitzenden Unteroffizier Adrian, der zugleich Kommandant der Besatzung war, nichts von der zusätzlichen Anwesenheit dieses Verwundeten. Bei all diesen Ereignissen und Tätigkeiten waren wir 1 ½ Sunden auf dem Flugplatz, so daß wir um 10.45 Uhr den Rückflug antreten konnten. Während unserer Anwesenheit sahen wir dort kein weiteres deutsches Flugzeug. Ob nach uns noch welche gelandet sind und wieviele, weiß ich nicht. Fest steht jedenfalls, daß Stalingradskij am selben Tag verlorenging und das letzte deutsche Flugzeug Stalingrad verließ.

    Vom 24. bis zum 29. Januar 1943 flogen wir noch sieben Einsätze mit Verpflegungsbomben, die wir im Kessel abwarfen, die letzten Einsätze in der Nacht vom 28. auf den 29. Januar. Mit unserer He 111, Zulassungs-Nr. G1+FR, starteten und landeten wir jeweils in Nowotscherkassk: am 28. 1. Start 20.55 Uhr, Landung 23.35 Uhr, Abwurf im Kessel etwa um 22.30 Uhr; am 29. 1. Start um 0.45 Uhr, Landung um 3.15 Uhr, Abwurf im Kessel etwa um 2.00 Uhr jeweils über dem südlichen, dem größten Kessel der Stadt. Die Mitte von Stalingrad befand sich schon in russischer Hand, und im Norden lag der kleinere Kessel. Wir mußten auf 300 Meter heruntergehen, damit die Verpflegung auch wirklich bei unseren Truppen landete. Im Tiefflug nach Osten, über Wolga und Kalmükensteppe auf Höhe gehend, flogen wir in 3500 Meter Höhe zu unserem Einsatzflugplatz Nowotscherkassk zurück. Der letzte Abwurf wurde noch vom Kessel aus per Funk bestätigt.

    Ich war mit insgesamt 81 Feindflügen im Kampf um Stalingrad beteiligt. Davon waren 59 Angriffs- und Kampfeinsätze und 22 Versorgungseinsätze mit Ausfliegen von Verwundeten aus dem Kessel. Meine genannten Daten sind in meinen Flugbüchern dokumentiert, die ich noch besitze. Das fliegende Personal mußte diese Bücher führen, in die sämtliche Flüge und damit auch die Feindflüge eingetragen wurden. Diese Angaben wurden von den jeweiligen Dienststellen bestätigt.

    Bei der Vielzahl meiner Feindflüge hatte ich mehrere lebensgefährliche Erlebnisse. Meine dritte Besatzung unter Unteroffizier Peter Adrian wurde am 5. März 1943 von russischen Jägern beim Dorf Marefa in der Nähe von Charkow tödlich abgeschossen – Aufschlagbrand. Wieder einmal war ich wegen Krankheit bei diesem Einsatz nicht dabei und wurde von Oberfeldwebel Ramsberger vertreten, der somit für mich starb. Die dritte der oben angesprochenen letzten drei Besatzungen unter dem Obergefreiten Heinz Danz stürzte am 10. August 1943 tödlich ab. Bei meiner letzten, vierten Besatzung unter Hauptmann Schmidt wurden im August 1943 bei einem russischen Jägerangriff der Funker neben mir im Flugzeug tödlich getroffen und der Beobachter verwundet. Ich kam trotz der zahlreichen Feindflüge nach fast vierjähriger Einsatzzeit von 1940 bis 1944 nach dem Krieg heil nach Hause.

    56 Jahre später, am 12. Mai 1999, flog ich zum 82. Mal nach Stalingrad, jetzt Wolgograd, und zwar mit der Fluggesellschaft Condor, zur Einweihung des Soldatenfriedhofs Rossoschka am 13. Mai zu Christi Himmelfahrt durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

    Wilhelm Eising:

    Als Kradmelder beim Divisionsstab

    Wilhelm Eising war als Kradmelder beim Stab der 16. Panzer-Division in Stalingrad eingesetzt. Nach einem Heimaturlaub im November 1942 kehrte er nicht mehr in den Kessel zurück.

    Wir brachen am frühen Morgen des 24. August auf. In zwei bis drei Stunden hofften wir wieder an der Wolga zu sein. Noch bevor wir die Bahnlinie und den Tatarenwall erreicht hatten, stießen wir auf eine Einheit der 3. Infanterie-Division, die im Gefecht lag. Wir kamen nicht weiter; in der Nacht hatten russische Einheiten aus der Flanke den Versorgungsweg nach Stalingrad angegriffen und vollkommen blockiert.

    Mit Unterstützung zweier Ju 88 konnte die Einheit der 3. Division den Weg öffnen. Wir passierten die freigekämpfte Rollbahn. Die Schlachtflieger hatten mit ihren Bordwaffen furchtbar gewirkt, aber ebenso furchtbar erschien uns folgendes Bild: Eine größere Nachschubeinheit war in der Nacht von den Russen aus der Flanke angegriffen und niedergemacht worden. Die LKW-Fahrer saßen erschossen in ihren Sitzen; Beifahrer, die noch versucht hatten zu fliehen, lagen erstochen oder erschlagen neben den Fahrzeugen. Wir fanden weder Verwundete noch Überlebende; die Fahrzeuge waren ausgeplündert und die Toten ihrer Habseligkeiten beraubt worden. Eine regelrechte Leichenfledderei hatte stattgefunden!

    Auf dem weiteren Wege zu unserer Einheit stießen wir in der Nähe der Bahnlinie auf russische Panzer. Wegen der günstigen Geländeverhältnisse konnten wir noch rechtzeitig verschwinden. Später mußten wir noch zweimal feindlichen Gruppen ausweichen. Zwei von Stalingrad zurückfliegende Stukas griffen uns im Tiefflug mit Bordwaffen an; den nachfolgenden Stukas konnten wir uns noch früh genug mit Rauchpatronen bemerkbar machen. Unser gesamter Weg führte durch Feindgebiet. Kurz vor Dunkelheit erreichten wir die rettende Balka⁵, unser zukünftiges Zuhause. Oberleutnant Heise erstattete Bericht. Im nachhinein erfaßten wir erst richtig, wieviel Glück wir auf dem Weg durch den vermeintlichen Korridor gehabt hatten.

    Die Division lag eingeschlossen an der Wolga; alle Nachschubwege waren abgeschnitten. Im Osten zog sich die Front entlang der Wolga von Akatowa im Norden über Winnowka und Lataschinka im Süden. Hier bog sie vom Ufer landeinwärts gegen Rynok und Spartakowka (Traktorenwerk) ab. An dieser gefährlichen sogenannten Winkelstellung begann die Südfront, die sich bis nordwestlich des Steppendorfes Orlowka hinzog. Die westlich des Gefechtsstandes beiderseits der Milchfarm verlaufende Westfront war mit Reserven stützpunktartig besetzt. Die beherrschenden Höhen im Norden bis hin zur Wolga, die sogenannte Nordriegelstellung, wurden an diesem Tage genommen und befestigt. So stand die Division als Igel mit drei Fronten an der Wolga. Der Divisionsgefechtsstand befand sich im Herzen des Igels in einer Balka etwa ein Kilometer nördlich von Orlowka. An der schmalsten Stelle trennten nur zwei bis drei Kilometer die Südvon der Nordfront. In der Balka war über Tag schon fieberhaft geschanzt worden. Winkelförmige Einmannlöcher, die in die Seitenwände der Balka gegraben wurden, boten sicheren Schutz. Auch der General⁶ begnügte sich in diesen Tagen mit solch einem Erdloch.

    Ende August brachte der Russe aus der Stadt Verstärkungen heran und griff mit überlegenen Kräften aus Rynok und Spartakowka die Südostecke – die Winkelstellung – an. Auch südwestlich von Orlowka, an der Nahtstelle zur 3. I.D. mot., die inzwischen nachgekommen war, entwickelten sich schwerste Kämpfe. Während des Dienstes beim Befehlsbus hörte man nur sorgenvolle Nachrichten: bewährte Offiziere waren gefallen, die Kompaniestärken schrumpften. Der gesamte Igel umfaßte nur ein Tal und zwei begrenzende Höhen! Jedes kleine Zurückweichen konnte sich verhängnisvoll für die gesamte Division auswirken. Da die Nachschubwege unterbrochen waren, fehlten Sprit und Munition; jedoch warfen Transportflugzeuge Versorgungsbomben ab. Die Verwundeten konnten von der Sammelstelle am Hauptverbandplatz nicht zurückgebracht werden und lagen zudem noch im Feuerbereich. Selbst Geleitzüge unter Panzerschutz schafften den Weg nach Westen nicht.

    Zwar wurde Rynok am 27. August genommen, mußte aber schon am folgenden Tage wieder aufgegeben werden. Ein Fahrzeugkonvoi mit Panzerschutz erreichte jedoch unsere Igelstellung. Der Versuch, die Schwerverwundeten zurückzutransportieren, scheiterte. Im Kräfteverhältnis kam eine Kompanie auf ein russisches Regiment. Franz Beerlage, mein Nachbar, sah keine Hoffnung mehr und malte alles in den dunkelsten Farben.

    Über dem nördlichen Stadtgebiet griffen pausenlos unsere Flieger an; Hafenanlagen und Fabriken brannten. Die Qualmentwicklung war mitunter so stark, daß sich die Sonne verfinsterte. Am Wolgaufer ballerte die russische Flak, und der Himmel war mit schwarzen Wölkchen der krepierenden Granaten gesprenkelt. Der Russe griff nicht nur von Süden und Norden an; vom Strom her brachten auch Kanonenboote Verstärkung. Hier hatten die Pioniere einen schweren Stand, brachten den Russen aber große Verluste bei. Während einer Fahrt zu ihnen besuchte ich meinen Freund Horstkötter⁷ aus Ochtrup von der 2. Pionier-Kompanie. Leider wurde mir einige Tage später von seinem Tod berichtet.

    Wir Melder lagen am 1. September noch in winkeligen Erdlöchern, die mit Zeltplanen gegen Regen abgedeckt waren. Bunkerbau war angesagt; Gefangene, die zum Verhör gebracht wurden, halfen uns dabei. Für Brot und Zigaretten waren alle hilfreich und willig. Als sie jedoch beim Ausbau von Bahnschwellen aus dem nahegelegenen Bahndamm mit gezieltem Gewehrfeuer eingedeckt wurden, wagten sie sich nicht mehr aus der Deckung heraus. In Gefangenschaft wollten sie nicht auch noch von eigenen Kugeln sterben! Erst nach Anbruch der Dunkelheit war wieder mit ihnen zu reden. Unter ihnen befanden sich auch Arbeiter aus den Stalingrader Fabriken, die erst seit einigen Tagen Waffen trugen. Einen älteren Arbeiter schickte der Ic mit einem bestimmten Auftrag in die Stadt zurück.

    Anfang September ließ die Kampftätigkeit an der Südfront zwischen Spartakowka und Orlowka nach. Die Russen schienen hier Kräfte abzuziehen, weil sich westlich von uns eine stärkere deutsche Armeegruppe dem Korridor und der Stadt bis auf zehn Kilometer genähert hatte. Auf einer am Befehlsbus angebrachten Karte, in die der Frontverlauf täglich mit Nadeln markiert wurde, verfolgten wir das Vorrücken dieser deutschen Verbände. In den Nächten erfuhr man durch die weithin sichtbaren Leuchtzeichen von der Frontänderung im Süden der Stadt, von wo schon Gefechtslärm zu hören war.

    Die Versorgungsstraße zum Don war am 2. September zwar wieder frei, blieb aber weiterhin an den Flanken bedroht. Während bei der Truppe angesichts der sich nähernden Armeegruppe Hoth⁸ Zuversicht aufkam, ahnten wir Melder aufgrund jüngster Nachrichten für die nächste Zukunft nichts Gutes. Aus dem Raum um Woronesch führte der Russe starke Kräfte heran. Unsere Führung rechnete mit schweren Kämpfen an der Nordriegelstellung, die der Russe in den folgenden Septembertagen mit vielfach überlegenen Kräften und mit dem Einsatz aller Waffen angriff. Der Horizont über den beherrschenden Nordhöhen war eine einzige schwarze Rauchwand. Ungeheuerlich war der Anblick der Stalinorgeln: Staubwolken von großer Höhe und Dichte erhoben sich und hüllten das Kampfgelände in schwarze Nacht, aus der die Einschläge hervorblitzten. Stärkste Panzerkräfte unterstützten die Angriffe der russischen Infanterie. Die Kompanien schrumpften zu kleinen Gruppen zusammen, und die Russen erzielten Einbrüche. Daher wurden von der Südfront Teile der Schützen-Regimenter in die Nordriegelstellung verlegt.

    Oberleutnant Heise wurde beauftragt, alle verfügbaren Leute im Divisionsstab zu sammeln und in die entblößte Winkelstellung vor Rynok und Spartakowka zu schicken; ich begleitete ihn als Melder. Wir bezogen einen gut ausgebauten Kompanie-Gefechtsstand, in den uns ein Feldwebel der 64. einwies. Nur in großen Abständen konnten wir die Stellung belegen, oft nicht einmal auf Sichtweite, da Unterholz uns hinderte. Ein Angriff der Russen in dieser Situation wäre verhängnisvoll gewesen! Aus dieser Stellung bargen wir noch zwei Tote, die nachts vom Troß abgeholt wurden.

    Während bei uns Ruhe herrschte, vernahmen wir vom Stadtrand her lebhaftes Treiben. Ständige Kettengeräusche ließen nichts Gutes ahnen; tagsüber störte der Russe mit Granatwerfern.

    Das Vorgelände war mit Gestrüpp bewachsen und ließ nur begrenzte Sicht zu. Vom Gefechtsstand aber konnte man mit dem Fernglas gut beobachten. Vor uns lagen die Häuserblocks von Spartakowka; eine in der Mulde liegende Kolchose konnten wir nicht einsehen. Über der Stadt standen Mitte September hohe Rauchsäulen. Luftangriffe und die von Süden und Westen angreifenden Truppen setzten ihr Vernichtungswerk fort.

    Mitte September wurde Oberleutnant Heise in die Balka zum Divisionsgefechtsstand zurückgerufen; auch ich bezog dort wieder meinen Graben. Der Kampflärm der von Süden vorrückenden deutschen Einheiten kam näher. Nachts kündeten Leuchtzeichen den Frontverlauf. General Hube verließ uns und wurde Korps-General.

    Mittlerweile kannte ich zwischen Rynok und Orlowka jeden Bataillonsgefechtsstand. Die dort in den Kompanien eingesetzten Kameraden versorgte ich mit Post. Eines Abends begegnete ich auf dem Weg zum Gefechtsstand Hauptmann Goldmann. Nach Passieren einer mir bekannten B-Stelle bemerkte ich im Dämmerlicht sich am Horizont abhebende Gestalten. Ich fuhr näher heran, stieg ab und ging auf die Gruppe zu. Da ich mich nicht auf dem richtigen Weg fühlte, fragte ich nach dem Gefechtsstand des Hauptmanns. Plötzlich erkannte ich Russen vor mir! Die schienen die Situation aber nicht zu erfassen; ich verkroch mich hinter Gestrüpp, verweilte eine Zeitlang dort und konnte entkommen. Die Leute der B-Stelle hatten meinen Irrtum wohl bemerkt, konnten mich aber nicht mehr rechtzeitig warnen.

    In einer anderen Nacht fuhr ich einen Kompanie-Gefechtsstand an, der unter einem abgeschossenen russischen Panzer eingerichtet worden war, und machte stundenlang Handgranaten scharf. Da ich von dort bis zum Hellwerden nicht wieder wegkam, mußte ich in der Frühe einen Angriff beim Regiment 64 mitlaufen. Einige Tage später erlebte ich ähnliches bei Orlowka.

    Auch bei der Gruppe Hauptmann Goldmanns blieb mir ein Angriff nicht erspart. Ein in der Mulde liegender Kolchos war das Angriffsziel. Die Einheit erlitt herbe Verluste: Etliche mir gut bekannte Unteroffiziere und Feldwebel des Feldgendarmerie-Trupps fielen. Sie waren drei Wochen vorher zusammen mit Leuten aus den Trossen erstmalig bei den Schützen zum Einsatz gekommen.

    Am Monatsende stand Orlowka im Mittelpunkt des Geschehens. Dieses Steppendorf, nur einige hundert Meter hinter der südlich von uns verlaufenden Bahnlinie gelegen, war von mehreren Balkas durchzogen und somit eine natürliche Festung. An einem schönen Herbstmorgen stürzten sich pausenlos Stukas auf den Ort, und Artillerie und Werfer bereiteten den Angriff vor. Der Ort konnte aber an diesem Tage nicht genommen werden. Am 30. September wiederholte sich das Schauspiel. Von unserem Gefechtsstand beobachteten wir, wie Orlowka am späten Nachmittag genommen wurde. Der Tag prägte sich in mein Gedächtnis: Auf einer am gleichen Tag erhaltenen Postkarte aus der Heimat notierte ich: „Stukas über Orlowka, 30. 9. 42".

    Gegen Abend schickte mich Rittmeister von Alvensleben⁹, Schlachtenbummler und Freund des Generals, ins zerbombte Dorf, um nach Ikonen zu suchen. Ich fuhr hin und glaubte den Ort feindfrei und geräumt. Die meisten Holzhäuser beiderseits der Hauptstraße waren zerstört. Weder sah ich Zivilisten noch deutsche Landser. Das Krad stellte ich in den Garten eines ansehnlichen Hauses. Ich schlich mich von einem Haus ins andere; überall herrschte Totenstille. Als ich die Straßenseite wechseln wollte, hörte ich plötzlich Gewehrfeuer, das mir galt; es pfiff bedenklich. Ich konnte mich hinter ein Haus retten. Da es bereits dämmerte, wartete ich die Dunkelheit ab, um zurückzufahren. Meine Fahrt war in der Balka nicht unbemerkt geblieben; unter den Offizieren gab es deswegen Ärger. Erst an den nächsten Tagen wurde Orlowka restlos gesäubert und galt als feindfrei.

    Anfang Oktober waren noch einige Kameraden bei den Grenadieren eingesetzt. In der Nähe des Gefechtsstandes von Major Wota¹⁰ traf mich ein Splitter, durchschlug die Hose und ritzte einige Zentimeter lang die Bauchdecke unterhalb des Nabels auf. Anfangs war es noch eine unbedeutende Wunde, die sich aber nach einigen Tagen entzündete und butterte [eiterte]. Ein Oberfeldwebel, ein Apotheker, der in der Balka nur 50 Meter entfernt beim Oberfeldarzt¹¹ Dienst tat, verarztete mich. Während dieser Zeit verbrachte ich in meinem Erdloch unbeschwerte Tage. Lediglich der morgendliche Besuch einiger Russenpanzer, die nicht weit von der Balka auftauchten, sorgte für Unruhe.

    Da seit über sechs Wochen in den Schützenlöchern keine Ablösung erfolgt war, sahen die Kameraden sehr heruntergekommen aus; sie waren unrasiert, verdreckt und verlaust. Das hatte man früher in der Division selten gesehen!

    Das neue MG 42 kam. Wir machten uns damit vertraut und mußten in der Balka an einem Pfahl die Wirkung dieser „Hitlersäge" demonstrieren. Alle waren beeindruckt, nur der Munitionsverbrauch war enorm hoch.

    In den ersten Oktobertagen kam der neue Divisionskommandeur, General Angern, in die Balka. Wir lernten ihn kaum kennen, weil er jeden Tag unterwegs war und zu den Gefechtsständen fuhr. Für diese Fahrten genügte ihm auch schon mal ein VW-Kübelwagen. So hatte eines Tages Fritz Giltjes das Glück, ihn fahren zu müssen. Nur war dem Fritz nicht jeder Gefechtsstand bekannt, so daß die beiden schließlich dort landeten, wo die Schützen ihr Zuhause haben: unmittelbar beim Russen! Alles verlief jedoch gut, und der General bewies Humor. Oft lachten wir noch darüber; nur Fritz ärgerte sich sehr.

    Am 10. Oktober erschien General Paulus auf dem Gefechtsstand. Danach erwarteten wir nichts Gutes! Franz Beerlage sah es richtig voraus, denn am 14. Oktober wurde noch einmal der Norden Stalingrads angegangen, und am Tage darauf entbrannte bei uns erneut der Kampf um Rynok und Spartakowka. Nach zweitägigem Ringen konnte der Westrand von Spartakowka unter hohen Verlusten genommen werden. Der Russe zog sich nach Rynok zurück, dem letzten verbliebenen Brükkenkopf. Hier aber blieben am Ortsrand alle Angriffe liegen. Die Verluste der Division waren hoch und erreicht worden war wenig.

    An den folgenden Tagen setzte Regen ein; die Balka wurde zur Schlammwüste. Es war naßkalt, und schaudernd dachten wir an den Winter. In dieser zweiten Oktoberhälfte sammelte Oberleutnant Heise wieder Leute zu einem Kommando. Diesmal führte er uns aber nicht nach Rynok und Spartakowka, sondern wieder an den Don, wo Winterquartiere eingerichtet werden sollten. Wir fuhren über Orlowka, Gorodischtsche und am Tatarenwall entlang nach Stalingrad-Mitte.

    Das Stadtzentrum durfte von Neugierigen nicht befahren werden. Da wir uns in einer Fahrzeuggruppe befanden, riskierten wir es und gelangten hinein. Wie in den Vorstädten waren auch hier die meisten Häuser aus Holz gebaut. Diese Häusermasse senkte sich von den Höhen zur Wolga hinab; die Stadtteile waren durch Schluchten oder Balkas getrennt. In der Mitte lag das alte Zarizyn; im Süden und Norden längs der Wolga befanden sich die Vororte mit den Industrie- und Hafenanlagen. Die Mitte der Stadt mit Hauptbahnhof und „Rotem Platz" war ein einziger Trümmerhaufen, die Hochhäuser waren zerschossen und ausgebrannt. Hier und da zeugten halb stehengebliebene Kamine von eingeäscherten Holzhäusern. Die Bevölkerung befand sich auf der Flucht oder hatte in den Vorstädten in Ruinen, Kellern und Höhlen Zuflucht gefunden.

    Wir fuhren über die Zariza in die südliche Stadt; an der Wolga fanden wir wieder ausgebrannte Hochhäuser. Auf unserem weiteren Weg sahen wir weitab den alles überragenden Getreidesilo und ringsum eine Trümmerlandschaft. Panzer- und Fahrzeugwracks säumten den Weg. In den vielen Schluchten waren Löcher in die Abhänge getrieben, und an den Balkawänden schachtelten sich Hütten und kleine Holzhäuser aus Trümmerresten. Die Höhlen waren mit ausgehängten Türen und Vorhängen abgeschirmt. Alte Leute, Frauen und Kinder, in Lumpen gehüllt, sah man an offenen Feuerstellen sitzen und sich aufwärmen. Alles war von einem undefinierbaren Geruch aus Brand, Abfall und Verwesung überlagert. An den Ausfahrtsstraßen sammelten sich die Leute und marschierten in kleinen Trecks Richtung Westen.

    In Karpowka fuhren wir eine höhere Dienststelle an. Hier erhielten wir nähere Anweisungen für den Ausbau der Winterstellungen am Don.

    Über Marinowka erreichten wir unser Ziel, einen Ort an einem kleinen Nebenarm des Don. Hier herrschte tiefster Friede. Die Bevölkerung wurde angewiesen, bunkergroße Erdlöcher auszuheben; die Arbeiten kamen aber nur schleppend voran. Nach einigen Tagen fuhren Fritz Giltjes und ich im VW-Kübel nach Stalingrad zurück, um Verpflegung zu holen. Über Nacht blieben wir in der Balka.

    Die Kampftätigkeit im Divisionsbereich hatte sich inzwischen beruhigt. Aber keine helle Mondnacht verging, in der sich die russischen Nachtbomber nicht unangenehm bemerkbar machten; dann waren die als „Rollbahneulen oder „Nähmaschinen verschrieenen Flugzeuge in rollendem Einsatz – keine Minute ohne Motorenbrausen, ohne Pfeifen und Aufprall der Bomben. Oft wunderten wir uns, daß die Opfer nicht größer waren.

    Nach einer solchen Nacht, die wir schon unzählige Male erlebten, verließen Fritz und ich die Balka, in der wir über acht Wochen in einem Loch unser Zuhause hatten. Wir fuhren in der Hoffnung an den Don zurück, daß im Winter die Kämpfe zur Ruhe kamen und die Winterquartiere in Ruhe bezogen werden konnten. Bevor wir uns Orlowka näherten, passierten wir noch einmal den Friedhof an der Bahnlinie, der in den letzten Tagen erschreckend angewachsen war. Täglich konnten wir hier die Leute von den Trossen beobachten, die ihre toten Kameraden abluden und beerdigten. Zum nahegelegenen Hauptverbandplatz führte ein ausgetretener Pfad, der von den Sanitätern herrührte, die des Nachts mit Tragen und Zeltplanen stetig diesen Weg zu gehen hatten.

    Über Orlowka fuhren wir wieder auf Gorodischtsche zu. Ostwärts bzw. links ließen wir die Vorstädte Spartakowka, den Nordteil der Stadt mit dem noch umkämpften Traktorenwerk, die Geschützfabrik „Rote Barrikade und das Hüttenwerk „Roter Oktober hinter uns und fuhren an der Peripherie der Stadt entlang bis zur Ausfallstraße nach Kalatsch weiter. Auf dieser Vormarschstraße herrschte ein enorm reger Verkehr, hier offenbarte sich auch ein bis dahin nicht gekanntes Flüchtlingselend. Kurz vor Kalatsch bogen wir nach Süden ab und erreichten nachmittags erwartungsfroh unsere kleine Gruppe mit Oberleutnant Heise.

    Mit dem üblichen Proviant hatten wir auch einige Liter Rotwein bekommen. In Ermangelung eines passenden Gefäßes hatte ich diesen Rotwein in einen in der Balka liegenden Wasserkanister gefüllt. Abends wurde Fritz Giltjes mit der Zubereitung eines Glühweins beauftragt. Wir befanden uns schon in seliger Runde, als der letzte Wein von Fritz aufgekocht wurde. Als wir mit den Fingern auf dem Wein schwimmenden Schimmel und dunkle, feine Schmutzreste abwischten, trank Fritz, von Haus aus überempfindlich, nicht weiter mit. Nichts Gutes ahnend tranken wir aber doch aus, nur Oberleutnant Heise nicht. Er kommandierte den Fritz: „Alter Banause, sauf aus!" Fritz, der vorher schon etwas geahnt hatte, trank unter Würgen. Als wir den Kanister näher untersuchten, stellte sich heraus, daß etliche eingetrocknete Mäuse auf dem Boden klebten! In der Balka hatten wir in den letzten Wochen eine unbeschreibliche Mäuseplage gehabt. Die Verpflegung hatten wir nur einigermaßen gesichert in verzinkten Munitionskästen aufbewahren können; offen herumliegendes Brot war in einer Nacht von den Mäusen aufgefressen worden.

    Neben der Herrichtung von Quartieren stahlen wir uns noch Zeit, Fische aus den Nebengewässern des Don zu angeln. Irgendwann kam jemand auf den Gedanken, mit Handgranaten sei das nicht so aufwendig. Das klappte zwar, aber die dicken Fische lagen auf dem Grund des Gewässers. Wenn es auch nicht tief war, konnten die Fische nur tauchend heraufgeholt werden. Niemand wollte hinein, da es bereits nachts gefroren hatte und das Wasser sehr kalt war. Wir ließen das Los sprechen, das mich traf. Weil die Fische sehr glitschig waren, waren sie mit den Händen schlecht zu greifen, und ich brachte sie nur unter Zuhilfenahme meines zugebundenen Hemdes an Land. Für die nächsten Tage war gute Kost gesichert!

    Anfang November führte mich der Weg zum Stabsquartier, das ich seit Makejewka nicht mehr gesehen hatte. Hier regierte unser Spieß, Oberfeldwebel Kohl. Ich glaubte nicht recht zu hören, als verkündet wurde, ich sei an der Reihe und könne in Urlaub fahren. Der Gruppe um Oberleutnant Heise werde man diesbezügliche Nachricht geben. Kurz und trocken wurde ich entlassen. Am anderen Morgen begab ich mich auf den Weg zum Bahnhof Tschir und landete nach sechstägiger Fahrt in meinem Heimatort.

    Oberleutnant Gustav Heise und Unteroffizier Franz Beerlage blieben in Stalingrad vermißt.

    Andreas Engel:

    Ein bedrückendes Erlebnis

    ¹²

    Andreas Engel, geboren am 24. Juni 1915 in Bebra, war Schriftsetzer und ab 1936 Berufssoldat. Mit dem Regiment 15 nahm er an den Feldzügen gegen Polen und Frankreich teil; in Stalingrad war er Feldwebel im Stab des I. Bataillons des Grenadier-Regiments 15, 29. Infanterie-Division (mot.).

    Am 18. oder 19. November lag das I. Bataillon des Grenadier-Regiments 15 in Balkas, in tiefen Gräben in der Steppe, ca. 60 Kilometer südlich von Stalingrad in Ruhestellung. Nach den schweren Kämpfen in und um die Stadt war es personell und materiell voll aufgefrischt worden. Wie man munkelte, sollte die Division in den Kaukasus verlegt werden, um an der Eroberung Astrachans teilzunehmen. Die Stimmung war gut; wir hatten Holz, Türen und anderes Baumaterial aus Stalingrad herangeschafft und uns recht wohnlich eingerichtet.

    Das Vergnügen dauerte jedoch nicht lange. Ein überraschender Einsatzbefehl unterbrach unsere wohlverdiente Ruhe. In kürzester Zeit rückten die Gefechtsteile mit unbekanntem Ziel ab; die Trosse verblieben vorerst im Ruheraum. Ich selbst bekam vom Bataillonskommandeur, Major Müller von Berneck, der wenige Tage vorher das Bataillon übernommen hatte, den Befehl, am folgenden Tage mit einem LKW, beladen mit Wurfgranaten und MG-Munition, dem Bataillon zu folgen. Aus östlicher Richtung war starkes Artilleriefeuer zu vernehmen, das sich laufend verstärkte.

    Am anderen Mittag fuhren der Stabsgefreite Michels und ich mit unbekanntem Ziel los. Als wir die Balka verlassen hatten, stellten wir zu unserem Erstaunen fest, daß unsere 29er-Artillerieabteilung schon hier in Stellung gegangen war und in die Richtung feuerte, in die wir befehlsmäßig fahren sollten. Da wir danach keinen deutschen Soldaten mehr sahen, fuhren wir mit äußerster Wachsamkeit weiter.

    Plötzlich näherten sich zwei Jagdflugzeuge im Tiefflug. Ich war der Meinung, es handele sich um deutsche, denn ich erkannte deutlich das Balkenkreuz. Zu unserer Verblüffung schossen sie mit ihren Bordwaffen auf uns. Ich bekam einen Schlag an den linken Oberschenkel; daraufhin ließ ich mich instinktiv aus dem Fahrzeug fallen. Kamerad Michels hatte etwas an der Ferse abbekommen, auch er lag auf der Rollbahn. Da das Gelände abschüssig war, rollte das Fahrzeug zu unserem Glück weiter und blieb nach ca. 100 Metern stehen. Wie wir erleichtert feststellten, hatte die Munition nichts abbekommen.

    Von vorn näherte sich jetzt ein ungeordneter Haufen Soldaten in erdbraunen Uniformen. Unsere Annahme, es handle sich um Russen, bestätigt sich zum Glück nicht. Es waren Rumänen, die das Weite suchten. Sie verbanden uns notdürftig und fuhren unser Fahrzeug, bei dem lediglich der Kühler und die Reifen zerschossen waren, zu uns zurück. Auf unsere Bitte hin hoben sie uns ins Fahrzeug. Wir fuhren los, hielten alle 50 Meter und erreichten so unseren Troß.

    Kamerad Wetzlar, unser Kraftfahrzeug-Staffelführer, brachte mich zum nächsten Verbandplatz. Nach zwei Stunden wurde dieser jedoch in aller Eile geräumt; über Kalatsch sollten wir abtransportiert werden. Diesen Ort erreichten wir nie, denn der Russe saß schon dort und hatte uns damit den Weg nach Westen abgeschnitten.

    Die Sankafahrer machte kehrt und lieferten uns mitten in der Nacht bei der Armee-Verwundeten-Sammelstelle ab. Kaum hatte man mich auf Stroh gebettet, vernahm ich MG-Feuer. Wer noch laufen konnte, verließ fluchtartig die ungastliche Stätte. Wir waren nur noch wenige, die einem ungewissen Schicksal ausgeliefert schienen. Einem Feldwebel, der mit seinem Zug den Schutz der Verwundeten-Sammelstelle übernommen hatte, verdankten wir es, daß wir hier noch herauskamen. Mit Waffengewalt hielt er flüchtende Fahrzeuge auf und ließ uns verladen, und weiter ging die Fahrt in Richtung Osten.

    Beim Verbandplatz der 100. Jäger-Division wurde ich abgeliefert. Hier lag ich bis nach Weihnachten in einem primitiven, kalten Schuppen. Mir ging es nicht gut: Durch unsachgemäße Behandlung der Wunde hatte sich eine Phlegmone [eine eitrige Infektionserkrankung der Weichteile] eingestellt. Die Verpflegung wurde immer geringer; jeden Tag eine Schnitte Brot und ab und zu etwas Pferdebrühe. Die Stimmung war entsprechend schlecht.

    Nach Weihnachten kroch ich in der Hoffnung, ein vorbeifahrendes Fahrzeug unserer Division zu erwischen, aus dieser unwirtlichen Behausung. Wenn ich schon sterben sollte, dann bei den Kameraden unserer Einheit! Als sich ein Fahrzeug näherte, schleppte ich mich auf die Fahrbahn. Das Fahrzeug mußte wohl oder übel halten; es handelte sich um ein Nachrichtenfahrzeug der Flak. Der Truppführer, ein Wachtmeister, nahm mich bis zum nächsten Flugplatz mit.

    Das Gedränge hier war unvorstellbar! Meine Hoffnungen sanken auf den Nullpunkt. Am anderen Morgen kam ein Flugzeug; nur mit Waffengewalt konnte der Ansturm auf die Maschine gestoppt werden. Als Nichtgehfähiger hatte ich jedoch das große Glück, doch noch einen Platz in der Maschine zu ergattern und ausgeflogen zu werden.

    Etwas später landete unsere Maschine auf einem Feldflugplatz. Wir atmeten auf, denn mit russischen Jägern und Flak war wohl kaum noch zu rechnen. Der Kessel von Stalingrad lag wie ein wüster Traum hinter uns! Die Besatzung verließ die Maschine; Sanitäter erschienen und befreiten uns aus den Papiersäcken, in die man uns gesteckt hatte. Eine nahegelegene Steinbaracke nahm uns auf. Ein Offizier verpflichtete uns, nichts über unsere Erlebnisse und die Lage im Kessel verlauten zu lassen – dies sei Führerbefehl! Mich befremdete das, aber es interessierte mich nicht besonders, denn das Glück, draußen zu sein, überwog alles andere.

    Essen, schlafen und nicht mehr frieren, das wollten wir! Das Essen ließ auch nicht lange auf sich warten. Bei nur noch 89 Pfund Lebendgewicht war auch keine Zeit mehr zu verlieren. Leider behielt ich das „Huhn mit Reis, auf das ich mich mit Heißhunger gestürzt hatte, nicht lange bei mir. Der schnellstens geholte Arzt „unterhielt sich sehr laut mit dem Sanitäter, der es mir offensichtlich wider ärztliche Anordnung gereicht hatte.

    Nach wenigen Stunden ging unsere Reise weiter in ein Luftwaffen-Feldlazarett. Unfaßbar der Luxus für einen Infanteristen – ich kam mir vor wie im Himmel! Entlaust, ein schneeweißes Bett und Verpflegung, die von Tag zu Tag besser wurde. Hier hätte ich es monatelang aushalten können, jedoch rückte die Front näher, so daß man uns schnellstens nach Stalino¹³ schaffte. Hier entschied ein Arzt, ich sei nicht transportfähig. Da wurde ich munter, denn ich wollte vorsichtshalber „Land gewinnen". Mit Hilfe einer Krankenschwester, die vollstes Verständnis für meine Situation hatte, schaffte ich es, nach zwei Tagen in einen provisorischen Lazarettzug verladen zu werden, der aus notdürftig hergerichteten Güterwagen bestand. Pritschen waren eingebaut; in der Mitte stand ein Kanonenofen, um den ringsherum Steinkohlen geschüttet waren. Auf den vom Ofen etwas entfernten Pritschen hielt man es nicht lange aus, denn die Wärme erreichte sie nicht. Wer dazu in der Lage war, verlegte seinen Liegeplatz daher auf den Kohlenhaufen. Bald sahen wir aus wie die Mohren – aber wen störte das schon? Wie lange wir bis nach Kiew brauchten, konnte ich nicht sagen. Mancher gute Kamerad wurde unterwegs ausgeladen; die irdische Reise war für ihn beendet.

    Feldwebel Andreas Engel blieb nur kurze Zeit im Feldlazarett 505 in Kiew, dann wurde er im Lazarettzug über Krakau nach Oberschreiberhau im Riesengebirge transportiert, wurde dort im Teillazarett „Lehrerheim von katholischen Schwestern aufopfernd gepflegt und traf im Juni 1943 bei der Genesenen-Kompanie in Kassel ein, mit der er einige Wochen später nach Italien zum II. Bataillon des Panzergrenadier-Regiments 15, seinem „alten Haufen, abgestellt wurde. Im Dezember 1944 wurde er erneut verwundet und im Lazarett Cortina d’Ampezzo behandelt. Nach dem Krieg arbeitete er bei der Stadtverwaltung Kassel; er starb am 30. Juli 2002 in Kassel.

    Eitel-Heinz Fenske:

    Mit Dosen in den Hosen

    ¹⁴

    Eitel-Heinz Fenske wurde am 8. August 1924 in Neuendorf (Freistaat Danzig) geboren, besuchte die Berufsfachschule in Marienwerder, trat am 1. April 1941 in die gehobene Beamtenlaufbahn ein und wurde am 1. Oktober 1941 außerplanmäßiger Regierungsinspektor. Am 5. Dezember wurde er eingezogen und in Allenstein zum Telefonisten und Funker ausgebildet. Am 13. Mai 1943 kam er zur 44. Infanterie-Division und am 18. Mai in Balakleja/Don als Nachrichtenmann zum Stab des III. Bataillons des Infanterie-Regiments 131.

    Es war vor Mitternacht des 17. November 1942. Es wurde kälter und kälter; der Mond machte die Nacht hell. Ab 22 Uhr hatte ich Dienst am Klappenschrank der Feldtelefonanlage des Bataillons und sollte voraussichtlich gegen 2 Uhr abgelöst werden. Bei den Leitungskontrollen zu den Gefechtsständen und sonstigen angeschlossenen Einheiten gab es keine besonderen Vorkommnisse.

    Von den Kameraden bei den Kompanien wurde jedoch gemeldet, daß auffallend starke Motorengeräusche zu vernehmen waren. Hierauf verließ ich einen kurzen Augenblick meinen Posten, um mich selbst davon zu überzeugen – Meldung an den Adjutanten. Dann urplötzlich krachte es gegen 2 Uhr infernalisch links von uns bei der rumänischen 3. Infanterie-Division. Ein derartiges Feuer aus Artilleriegeschützen und Werfern, den gefürchteten Stalinorgeln, hatte ich noch nie erlebt! Der Vollmond machte das Geschehen für das bloße Auge sichtbar. Meine Kameraden von den Kompanie-Gefechtsstellen wollten alle gleichzeitig Meldung erstatten. Alle Klappen an meinem Telefonschrank fielen; ich konnte eine „Sammelantwort" geben.

    Unser Kommandeur wurde selbst wach und erschien bei mir; von unserem kleinen Hügel aus schauten wir uns das Inferno an. Wir sahen, daß sich die Feuerwalze langsam von den Laufgräben zu den Gefechtsständen verlagerte und daß sich die rumänischen Soldaten wie schwarze Ameisen absetzten – dieser Vergleich drängte sich auf, weil die rumänischen Soldaten dunkle Mäntel und schwarze Pelzmützen aus Karakul-Schafsfell auf dem Kopf trugen. Der Stoßkeil der Russen kam aus dem Raum Kletskaja und Serafimowitsch. Wir sahen unendlich viele Kettenfahrzeuge mit aufgesessener Infanterie, aber auch Pferdewagen mit angehängten Granatwerfern und Troß-Munitionsfahrzeuge unmittelbar nach der Feuerwalze. Der russische Vorstoß ging bis zum Don-Brückenkopf.

    Am 19. November erhielt ich über Telefon von der 44. Infanterie-Division die Nachricht, die ich sofort an den Bataillonskommandeur weiterzugeben hatte: „… die deutschen Verbände der 6. Armee sind eingeschlossen, der Kessel von Stalingrad ist Tatsache! Das II./131 setzt sich in Richtung Südost ab und räumt seine Stellungen!"

    Wir bauten unsere Nachrichtenzentrale ab, verstauten sie auf unsere pferdebespannten Troß-Wagen und nahmen alles mit, was uns wert erschien. Da ich als Telefonist mit weiß-grün-grauer Winterkleidung versorgt worden war, weil ich, oft allein auf mich gestellt, zerschossene Telefonleitungen zu reparieren hatte, besaß ich gegenüber meinen anderen Kameraden einen ganz besonderen Vorteil: einen mit Baumwollflocken gefüllten Anorak, der je nach Wetterlage graugrün oder weiß gewendet und über der Uniform getragen wurde. Dieser Tarnanzug hatte für mich nicht nur wegen der auf minus 40 Grad absinkenden Temperatur, ohne ein Dach über dem Kopf, eine überlebenswichtige Funktion.

    Als wir bei unseren Absatzbewegungen an einem riesigen Verpflegungs- und Materialdepot vorbeikamen, ging fast jeder Landser in das Lager, um sich zu versorgen. „Warum hat man uns in den Wochen und Tagen zuvor nicht hieraus mehr versorgt?" war unsere Frage. Vom Wachpersonal wurden wir mit vorgehaltenen Waffen daran gehindert, das Lager zu betreten. Einige Mutige erklärten den Wachsoldaten, sie würden auf der Stelle erschossen, wenn sie nicht den Weg freimachten! Die Wachen verschwanden, der Weg war frei für uns. Die Raucher deckten sich mit Stangen und Großpackungen von Nil, Attika, Johnny und anderen Rauchwaren ein; französischer Cognac war ebenfalls ein Ziel. Welch eine Fehleinschätzung der künftigen Wochen!

    Als nichtrauchender Soldat sah ich über diese „Leckerbissen" hinweg und füllte die Hosenbeine meiner Winterschutzkleidung mit portugiesischen Ölsardinen-Dosen auf, die an ihrer Unterseite mit einem Öffnerschlüssel versehen waren. Das sollte sich als ausgesprochener Glücksfall herausstellen. Zwei Flaschen Cognac im Brotbeutel waren die Zugabe. Ich dachte mir, wenn es weiter so kalt blieb wie jetzt, dann sei aufgetauter Schnee mit einem Schuß Cognac ein regelrechter Überlebenstrank.

    So war es – für die nächsten Wochen hatte ich regelrecht vorgesorgt, denn Brot bekamen wir auch noch auf unserem Rückzug in Richtung Stalingrad in kleinen Mengen. Eine Dose Ölsardinen pro Tag sorgte für fettreiche Kost, um der Kälte besser zu widerstehen.

    Am 21. November stieß ein russisches Reiter-Regiment bei Werchnaja-Businowka, unterstützt von Infanterieverbänden, gegen unsere neu aufgebaute Verteidigungslinie vor. Hätten wir nicht unsere Sturmgeschütz-Abteilung 177 gehabt, wäre es schlimm für uns ausgegangen. Die Kameraden waren einfach toll!

    Am 23. November wurde die neue Hauptkampflinie im Golobajatal bei Ludsiyenskoje aufgebaut und der Don-Brückenkopf befestigt. Von meinem Kommandeur erhielt ich den Auftrag, die Lage dort zu erkunden und laufend Funkmitteilungen an meinen Kameraden beim Stab des Bataillons durchzugeben. Ich marschierte in Richtung Westen bis an den Don beim Akimaski und sah fast ausschließlich rumänische Versprengte, die sich auf eigene Faust, teilweise ohne Waffen, in Richtung Westen absetzten. Ich überquerte die von deutschen Pionieren erbaute Donbrücke; auf der Westseite standen vereinzelte Häuser. Es wurde Nacht. Da ich nur bei Tageslicht den neuen Bataillonsgefechtsstand wiedererkennen konnte, mußte ich mir ein Nachtquartier suchen. Ich quartierte mich im Obergeschoß eines Hauses ein, nahm meinen durchgeladenen und gesicherten Karabiner an mich und als Kopfkissen mein Sprechfunkgerät. Weil ich nicht wußte, ob ich den Rumänen trauen konnte, die zu Dutzenden im gleichen Haus Zuflucht genommen hatten, wurde es eine unruhige Nacht. Vor dem Einschlafen dachte ich noch: Würden sie mir meine Waffe, meine Schutzkleidung und mein Funkgerät mit Gewalt rauben oder mich gar umbringen? Als ich erwachte, stellte ich fest, daß ich noch alles besaß, was mir gehörte.

    Meine Gedanken aber wanderten auch in Richtung Westen. Hätte ich Mut gehabt, wäre ich für mich alleine als Versprengter auf dem Weg zu den deutschen Truppen gewesen, die außerhalb des Kessels von Westen her gekommen waren. Ich entschied mich für die Rückkehr zu meinen Kameraden und zur Ausführung des Melder-Befehls, ging wieder über die Donbrücke nach Osten, erreichte am Nachmittag den Bataillonsgefechtsstand und berichtete über meine Erlebnisse. Unser Kommandeur wollte wissen, ob sich unsere Division über den Don in Richtung Westen absetzen könne. Alles nur Theorie!

    Eine Gruppe von Soldaten erschien, unter ihnen einige Generäle. Urplötzlich erhielt ich den Befehl, mich dort einzufinden und über meine Erkundigungen zu berichten. Ich stand vor den Generälen von Seydlitz und Paulus. „Gefreiter Fenske, berichten Sie, was Sie gesehen haben!" Daraufhin schilderte ich ihnen meine Erlebnisse und die Situation an der massiven Holzbrücke. Später erfuhr ich, daß man seinerzeit plante, über diese Brücke in den Westen durchzubrechen.

    Am 28. November wurde der Brückenkopf aufgegeben, und die Holzbrücke wurde von unseren Pionieren gesprengt. Trotzdem konnten die Russen über die Reste der Brücke das Ostufer erklimmen. Bei Baburkin wurde eine neue HKL [Hauptkampflinie] aufgebaut. Links von uns lag das Regiment 134, dann das I.R. 132 bzw. das, was noch übriggeblieben war. Die uns unterstellte Sturmgeschützabteilung 177 hielt uns die russischen Panzer vom Leibe; mit den Infanteristen wurden wir fertig. Der am 4. Dezember erfolgte große Panzerangriff der Russen wurde mit ihrer Hilfe abgewehrt. In vier Wochen wurden fast 100 T-34-Panzer abgeschossen! Wir starteten einen Gegenstoß in Richtung Höhe 124,5 bei Baburkin; unsere vorausfahrenden Sturmgeschütze wurden von den russischen Panzerabwehrgeschützen – „Ratsch-Bum" genannt – heftig beschossen. Dabei traf mich ein Splitter am linken Handgelenk, und plötzlich hatte ich eine eiergroße blutunterlaufene Beule. Als ausgebildeter Sanitäter handelte ich richtig, machte mit meinem scharfen Seitengewehr einen kleinen Stich, so daß das Blut abfließen konnte. Die verwundete Stelle hielt ich an die eiskalten Panzerplatten. Zu meinem Glück war der große Splitter nur ein Abpraller, sonst hätte ich meine linke Hand verloren.

    Am Spätnachmittag des 12. Dezember starteten wir einen Gegenstoß, nachdem die Russen in unsere Stellungen eingebrochen waren. Ungefähr um 17 Uhr schlug plötzlich eine Granate etwa 100 Meter links von uns ein, eine zweite ca. 50 Meter rechts von uns, und die dritte traf unsere aus sieben Mann bestehende Kampfgruppe voll. Die Nacht um mich herum war still; ich hatte nur ein helles, lilafarbenes Licht gesehen und einen lauten Knall gehört. Als ich mir meiner Situation bewußt wurde, stellte ich fest, daß ich meine rechte Seite nicht mehr bewegen konnte. Ich kann nicht aufstehen, es hat minus 40 Grad, ich werde erfrieren, waren meine Gedanken. Totenstille um mich herum; von unserer Gruppe lebte nur noch einer, der aber nicht mehr sprechen konnte. War das nun mein Leben? Ich war doch erst achtzehn Jahre alt! Die 15 cm-Granate hatte volle Wirkung.

    Plötzlich hörte ich das Schnauben eines Pferdes und leise Pferdekommandos. Ein Schlitten kam in unmittelbarer Nähe an mir vorbei. Als ich erkannte, daß es ein Deutsch sprechender Pferdeführer war, machte ich mich bemerkbar. Der Kamerad hielt an und fragte, wieviele noch am Leben seien. Ich entgegnete, außer mir würde nur noch einer leben, der sich röchelnd meldete. Der Kamerad brachte uns bis in die Nähe des Feldflugplatzes und lud uns in einer Unterkunft des Bodenpersonals ab.

    Noch am Abend wurde ich verbunden. 48 Granatsplitter hatten meinen Körper auf der rechten Seite getroffen. Einige Tage später schwoll der Oberschenkel aus dem Verband heraus – Gasbrand, Blutvergiftung und Fäulnis am rechten Bein! Es gab nur zwei Alternativen: entweder Amputation des Oberschenkels oder Anlegen von Drainagen unter Einsatz starker Arzneien. Unterarzt Dr. Hubert Haidinger¹⁵ hatte den Mut, den zweiten Weg zu wählen. So blieb mein Bein erhalten; ich behielt jedoch eine Peroneuslähmung. Was wäre mit mir Schwerstverwundetem bei einem Ausbruch aus dem Kessel geworden?

    Weihnachten 1942 hatten die Russen das Geschütz- und Gewehrfeuer eingestellt. Die Sanis befestigten Wattefetzen auf Distelsträuchern und stellten diese als Christbäume auf. Wir erhielten eine Flasche Champagner und eine halbe Tafel belgische Schokolade – dazu die Hitler-Ansprache aus dem Lautsprecher. „Aufhören, Abdrehen!" war von allen Seiten des Strohlagers zu hören. Unser Divisionspfarrer Czygan¹⁶ schrieb für mich einen Brief an meine Schwester und meine Eltern, der im März tatsächlich daheim ankam.

    Der 28. Dezember war der Tag meiner Erlösung. Wir wurden in sogenannte Lufttransportsäcke eingepackt, ca. zwei Meter lange, dreifachlagige Papiersäcke, damit wir bei minus 50 Grad in der Luft nicht erfroren.

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