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Sommerzeit: Jugendroman
Sommerzeit: Jugendroman
Sommerzeit: Jugendroman
eBook390 Seiten5 Stunden

Sommerzeit: Jugendroman

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Über dieses E-Book

Es ist ein heißer Sommer, als Familie van Boysen von Hamburg in ein Dorf im Münsterland zieht. Auf ihren Sohn Erik (17) und ihre Tochter Viola (13) warten jede Menge Überraschungen- und nicht nur gute.
Es gibt eine strenge katholische Schule, unangenehme Mitschüler und zu viel Natur um sie herum.
Es gibt Wildpferde, denen ein schlimmes Schicksal droht und die gerettet werden müssen. Es gibt einen beinahe tödlichen Unfall und die Suche nach einem Täter.
Und es gibt Julia. Erik verliebt sich ganz gegen seinen Willen und Viola versucht, einen Roman zu schreiben.
Ein spannender Jugendroman, in dem sich zwei Jugendliche aus der Großstadt mit dem Leben auf dem Land anfreunden müssen. Sie lernen das Dasein als Außenseiter kennen, das überraschenderweise nicht nur schlechte Seiten hat, erleben die hartnäckige Entschlossenheit einer "Pferdeflüsterin", treffen auf Tassilo Tenhumberg, den alle "Tasse" nennen - ein Mobbingopfer, das wunderbar Orgel spielen kann.
Der gefürchtete Anführer Carlo und seine Gefolgsleute machen Erik das Leben schwer, es kommt zu folgenschweren Beschuldigungen und Prügeleien. Währenddessen forscht Viola nach der Vergangenheit ihres Bruders und will ein Geheimnis lüften ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Nov. 2016
ISBN9783743184664
Sommerzeit: Jugendroman
Autor

Ulla Schneider

Ulla Schneider wurde 1951 in Lüdenscheid geboren. Sie studierte Deutsch und Kunst in Münster und arbeitete als Redakteurin bei einer Tageszeitung, als Lehrerin und Autorin. Unter anderem sind von ihr die Romane "Tropfen auf kalten Stein" und "Grüne Wasser sind tief" (Piper Verlag) erschienen. Ulla Schneider lebt und arbeitet in Münster.

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    Buchvorschau

    Sommerzeit - Ulla Schneider

    Für Julie Marie

    ... Life is for living....

    (in the summertime / von Mungo Jerry)

    Ulla Schneider wurde 1951 in Lüdenscheid geboren und wohnt in Münster. Sie arbeitet als Journalistin, Autorin und Lehrerin. Unter anderem veröffentlichte sie die Romane:

    Tropfen auf kalten Stein und

    Grüne Wasser sind tief (Piper Verlag)

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 49

    Kapitel 46

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Kapitel 52

    Kapitel 53

    Kapitel 54

    Kapitel 55

    Kapitel 56

    Kapitel 57

    Kapitel 58

    1

    Wenn er aus dem Fenster sah, konnte er den Mond sehen. Er war rund und so hell, dass er das Gefühl hatte, draußen leuchte eine Neonröhre. Es war drei Uhr nachts und der Gedanke an eine Neonröhre, die sein Zimmer mitten in der Nacht in ein weißes, kaltes Licht tauchen würde, war vollkommen absurd. Draußen gab es nichts außer einer dunklen Nacht.

    Er war nicht mehr in Hamburg. Er war in einem Dorf. In einem gottverlassenen Dorf. Die einzige Neonröhre leuchtete hier in der Imbissbude an der sogenannten Hauptstraße, in der es außer Currywurst und Pommes auch Pizza gab, die aussah wie eine belegte Torte und auch fast genauso schmeckte.

    Erik lag auf dem Rücken und starrte durch das weit geöffnete Fenster hinaus. Der Mond war eine fahle runde Scheibe mit einigen dunklen Flecken darauf. Er hatte noch nie von seinem Bett aus den Mond sehen können. Und ihm war noch nie aufgefallen, wie eiskalt dieser Mond war, eiskalt, weiß und grau.

    Es war ein heißer Tag gewesen. Die Nachtluft war immer noch warm. Und sie roch anders als die Luft in der Stadt – nach Erde vielleicht und nach etwas, das Erik nicht kannte. Er starrte weiter den Mond an, in Hamburg war ihm der Mond nicht aufgefallen oder egal gewesen. Hier war er einfach nicht zu übersehen.

    Ihm fielen die Wölfe ein, die angeblich den Mond anheulten. Er schloss die Augen und horchte. Kein Wolfsgeheul, leider.

    Nur Stille. Er spürte, wie sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Haut bildete und warf die Bettdecke mit einem wütenden Schwung auf den Boden. Er konnte nicht schlafen. Er stand auf und stellte sich an das geöffnete Fenster. Die leisen Geräusche der Nacht drangen zu ihm hinauf. Das Knistern unter einem Busch im Garten, der Schrei eines Käuzchens, weit entfernt in den dunklen Bäumen, die sich vom hellgrauen Nachthimmel abhoben. War es wirklich ein Käuzchen? Woher sollte er wissen, wie sich der Schrei eines Käuzchens anhörte? Aber der klagende, unheimliche Ton war so, wie er sich den Ruf dieses seltsamen Tieres vorstellte, von dem er nur wusste, dass es Federn haben musste. Er stemmte sich gegen den Fensterrahmen, bis seine Handgelenke schmerzten. Die Nacht vor seinem Fenster war fremd und feindlich. Alles, was ihm vertraut gewesen war, war aus seinem Leben verschwunden. Hamburg war in unendliche Ferne gerückt, es schien ihm weiter entfernt zu sein als dieser eiskalte Mond, den er heute Abend zum ersten Mal in seinem Leben wirklich gesehen hatte.

    Vielleicht war er ja krank. Sofort stürzte er sich auf diesen Gedanken. Krank- das wäre eine Chance, den Anforderungen des morgigen Tages zu entgehen. Keine Ermahnungen und Belehrungen, keine Verpflichtungen, keine Schule, nur einfach krank sein und im Bett bleiben. Musik hören.

    Erik zog mit einem Ruck den Vorhang vor das Fenster, so heftig, dass eine der Schlaufen des transparenten, zarten Stoffes zerriss. Er warf sich auf sein Bett. Seine Mutter, die ihm diese Gardinen aufgedrängt hatte, würde ihn mit stillem Vorwurf ansehen. Er wünschte sich, sie würde aus der Haut fahren und ihrem Ärger einmal richtig Luft machen, aber das würde sie nicht tun, sie war eine zurückhaltende norddeutsche Lady.

    Er vergrub seinen Kopf in den Kissen, und der Schlaf erlöste ihn von seinen anstrengenden Gedanken.

    Seine Mutter rüttelte an seiner Schulter und er wachte auf. Der Radiowecker lief auf voller Lautstärke, er hatte ihn nicht gehört. Er drehte sich auf die andere Seite.

    „Ich bin krank. Lass mich schlafen."

    „Du musst zur Schule." Die Stimme seiner Mutter hatte bereits einen leichten Anflug von Hysterie.

    „Nein, muss ich nicht."

    „Natürlich musst du. Komm, es ist schon spät, das Frühstück ist fertig."

    „Ich bin krank. Ich habe keinen Hunger."

    Seine Mutter stand neben dem Bett, sie schwieg. Erik wusste, dass sie nun die kaputte Gardine entdecken würde, er hörte ihr leises Seufzen, dann verließ sie den Raum und ließ die Tür einen Spalt breit offen stehen.

    Geschafft, dachte er. Aber er fühlte sich nicht wie ein Sieger.

    2

    Der Kunstunterricht verlief wie üblich. Drei Schülerinnen kamen ein paar Minuten zu spät und hatten eine mehr als fadenscheinige Ausrede, die Lehrerin regte sich ein wenig auf, die Schülerinnen gelobten Besserung und alles in allem herrschte eine angenehme Atmosphäre.

    Es roch nach Farbe, die Tische zeigten deutliche Abnutzungserscheinungen und die meisten Schüler werkelten zufrieden vor sich hin. Julia bemühte sich, mit expressionistischen Pinselstrichen- Expressionismus war das Thema der Unterrichtsreiheein Stillleben aufs Papier zu bringen, während sie die Ereignisse des Wochenendes mit ihrer Freundin Lena beredete, möglichst so, dass niemand sonst es mitbekam. Diesmal ging es um einen Jungen, der nicht zu einer Party gekommen war, aber hätte kommen müssen, wenn er Interesse gehabt hätte.

    Ihre angeregte Unterhaltung wurde jäh von Frau Schumann unterbrochen, die den mangelhaften expressionistischen Ausdruck in Lenas Gemälde kritisierte.

    „Mehr Gefühl, mehr Ausdruck, mehr Farbe. Sei ein bisschen mutiger." Julia grinste.

    Frau Schumann war als Lehrerin gar nicht so schlecht. Wenn sie etwas mehr Wert darauf gelegt hätte, sich modisch anzuziehen und nicht jeden Tag einen übergroßen Pullover über einem wadenlangen Rock getragen hätte, wäre das sicher besser für ihr Image gewesen, aber irgendwie gewöhnten sich Schüler an die Schrullen ihrer Lehrer. Frau Schumann wählte jedenfalls interessante Themen aus und traf bei mit ihren Urteilen oft den Nagel auf den Kopf. Gerade hatte sie zum Beispiel eine ziemlich genaue Beschreibung von Lenas Charakter abgegeben.

    Julias Freundin war tatsächlich eine etwas ängstliche und zurückhaltende Person, die ihre Gefühle gut unter Kontrolle hatte. Dann warf Frau Schumann einen Blick auf Julias Stillleben, das keineswegs still aussah, sondern in grellen bunten Farben prangte.

    „Schön, die Lehrerin lächelte erfreut, „wild, ausdrucksvoll und leidenschaftlich. Die Klasse kicherte.

    „Wie das Bild, so der Künstler", sagte Armin laut und warf Julia einen Luftkuss zu.

    „Ich bin kein Künstler", beteuerte Julia nachdrücklich, ihr war die Situation peinlich. Aber ihr wäre besser ein passender Spruch eingefallen.

    „Aber wild und leidenschaftlich, Armin hatte Mühe, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, „ wie man ja an deinem Bild erkennen kann. Wieder allgemeines Gekicher.

    Frau Schumann griff ein, indem sie einen Vortrag über die Erscheinungsformen und die revolutionäre Kraft des Expressionismus hielt, was ein bisschen unterging im Getuschel über den vorangegangenen Dialog über Julias Leidenschaftlichkeit.

    Als wieder Ruhe eingekehrt war und Lena versuchte, ihren Pinselstrich wilder zu gestalten und Julia noch mehr Farbe auf ihr Blatt verteilte, kamen die beiden Freundinnen wieder auf eines ihrer Lieblingsthemen zurück- Klatsch und Tratsch rund um den ansonsten langweiligen Schulalltag. Seit zwei Wochen gab es nämlich ein hochinteressantes Thema, das sie nicht zum ersten Mal ausführlich von allen Seiten beleuchteten.

    Der Neue aus der Jahrgangsstufe Elf. Ein aus Hamburg zugereister Typ, der so cool war, wie noch nie jemand hier an dieser Schule je gewesen war.

    „Ich finde ihn voll.... bescheuert", sagte Julia mit Nachdruck. Lena nickte.

    „Seine Klamotten ...teurer geht’s gar nicht... er ist der totale Angeber. Lena nickte wieder und fügte hinzu: „Wer sich so anzieht, hat es nötig. Kein Selbstbewusstsein, nehme ich an.

    Diesmal war Julia an der Reihe, ihrer Freundin zuzustimmen. Sie pinselten eine Weile schweigend an ihren Stillleben, waren aber in ihren Gedanken weder bei den Vasen und Zitronen, sondern bei Erik van Boysen. Der Neue war ein großer, schlanker Junge mit langen dunklen Haaren und dunklen Augen, ein südländischer Typ, der einen nicht zu ihm passenden nordischen Namen trug.

    „Obwohl...er ist wahrscheinlich nicht so cool, wie er tut", sagte Julia schließlich.

    „Kann sein", sagte Lena. „Aber das sagst du eigentlich immer. Du glaubst, dass einer wie er ein sensibles Innenleben hat.

    Aber du hast noch kein Wort mit ihm geredet."

    „Das ist Intuition, sagte Julia lässig, „trotzdem finde ich ihn bescheuert. Sie verschwieg, dass sie sehr wohl schon ein Wort mit dem Neuen geredet hatte, ein einziges.

    Es war vor drei oder vier Tagen gewesen. Er hatte sie nach ihrem Namen gefragt, als sie nebeneinander vor dem schwarzen Brett gestanden hatten, wo die Vertretungsstunden angezeigt wurden. Und anstatt mit einer frechen, schlagfertigen Bemerkung auf seine Neugierde zu reagieren, hatte sie ganz brav „Julia" gesagt. Und sich dann nicht einmal nach seinem Namen erkundigt. Den er auch nicht gesagt hatte, weil er wohl davon ausging, dass ihn sowieso jeder wusste. Ganz schön überheblich dachte Julia und ärgerte sich immer noch über diese Begegnung. Und zu allem Überfluss musste sie seitdem an den Blick denken, mit dem er sie angesehen hatte. Seine Augen waren fast schwarz, schwer zu ergründen, was er dachte und fühlte.

    „Er wird Probleme mit Carlo und Co. kriegen", setzte Lena ihre Überlegungen fort und Julia stimmte ihr zu, dankbar, dass sie nicht mehr an diese Begegnung denken musste, in der sie das klassische blöde Landei gewesen war.

    „Die Elfer haben bestimmt keine Lust, einen Konkurrenten zu kriegen.., fuhr Lena fort, „und er bekommt sicher auch Probleme hier im Dorf, die ganze Familie wahrscheinlich.

    Sie sind anders als die Leute hier."

    Julia seufzte übertrieben: „Der Arme, er wird leiden.

    Aber wenn er wirklich so cool ist, wie er tut, dann wird er das wohl überleben. Außerdem leben wird nicht mehr im Mittelalter. Und Hamburg liegt nicht auf dem Mars." Sie zog sorgfältig eine dunkelgraue Linie um die rote Zitrone ihres Stilllebens.

    „Das stimmt. Alles halb so wild. Lena dachte nach. „Sollen wir ihn mal fragen, ob er reiten kann?

    „Wie bitte?" Julia starrte ihre Freundin verblüfft an.

    „Wieso nicht? Lena malte mit unbewegtem Gesicht weiter an ihrem Stillleben, das langsam etwas wilder und farbiger wurde. „Wir könnten jemanden wie ihn in der Scheune gut gebrauchen.

    „Ja, das könnten wir, wiederholte Julia, „aber es wäre ein Wunder. Er kommt aus der Großstadt! Außerdem gibt es fast keinen Jungen, der reiten will.

    Lena ließ sich nicht beirren. „ Aber er sieht so aus, als ob er es könnte. Ich meine, er könnte auch Spanier oder Italiener sein, irgendetwas südländisch Romantisches..."

    „Oder Zigeuner", bemerkte Julia und grinste.

    „Das sagt man nicht mehr, bemerkte Lena streng „es heißt Roma.

    „Dann hört es sich nicht mehr so romantisch an, beschwerte sich Julia. „Das wäre doch mal was, ein Zigeuner, äh Roma, auf einem Wildpferd, mit der Geige in der Hand....

    „Klar, und der Vollmond scheint... also bitte, träum weiter, sagte Lena trocken, „wahrscheinlich ist er in Buxtehude geboren. Sie kicherten und malten dann eine Weile schweigend.

    Dann sagte Lena, diesmal weniger träumerisch: „Männer haben mit Pferden nichts am Hut, das wissen wir doch, sie tauchte den Pinsel in schwarze Farbe und umrandete noch ein paar Gegenstände auf ihrem Bild. „Sie haben keine Lust, den Stall auszumisten und Pferde sind ihnen ganz einfach egal, sagte Julia verächtlich, „sie werden erst wieder interessant, wenn man mit ihnen Geld oder Medaillen gewinnen kann.

    Und das wird bei diesem arroganten Schönling nicht anders sein." Dann übermalte sie die Zitrone mit einem kräftigen Blau. So gefiel sie ihr besser.

    3

    Viola van Boysen saß zur gleichen Zeit, nur ein Stockwerk höher, auf ihrem Platz am Fenster in der letzten Reihe des viel zu kleinen Klassenraums der Acht b und begann, eine Geschichte vorzulesen. Sie war das Ergebnis von einer Woche Arbeit.

    So lange hatten die Schüler Zeit gehabt, sich eine Geschichte auszudenken, die in der Zukunft spielen musste, dabei möglichst spannend, vielleicht auch witzig und natürlich fantasievoll sein sollte. Aber trotz aller Fantasie sollte es glaubhaft bleibenalso bitte keine fliegenden Hunde und sprechenden Kühe erfinden, hatte Deutschlehrer Terhorst angemerkt.

    Franz-Josef Terhorst lehnte am Fenster und war nur mäßig gespannt auf das Ergebnis. Leider neigten seine Schüler dazu, entweder vollkommen fantasielos zu sein oder den Text mit haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten zu spicken.

    Natürlich gab es auch positive Ausnahmen und darüber konnte er sich auch nach über dreißig Jahren im Schuldienst noch freuen. Allerdings hatte er in letzter Zeit Mühe, sich immer wieder aufs Neue zu konzentrieren. Es gab ganz einfach zu viele Schüler und zu viele Geschichten. Die jahrelange Aufmerksamkeit hatte ihn langsam zermürbt, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

    Er sah aus dem Fenster und beobachtete, wie ein Traktor über einen holprigen dunkelbraunen Acker fuhr und dabei immer langsamer wurde. Die nasse Erde klebte an seinen Rädern und es schien, als würde die Maschine kaum noch die Kraft aufbringen, das rettende Grün zu erreichen.

    Dann drang die klare, laute Mädchenstimme von Viola van Boysen in seine Gedanken ein und er wandte seine Aufmerksamkeit seiner neuen Schülerin zu.

    Das blonde, viel zu dünne Mädchen saß aufrecht und las konzentriert und schnell mit der genau richtigen Betonung.

    Ihr Text war voll von fantasievollen Beschreibungen, er war witzig, spannend und originell. Dabei logisch und nachvollziehbar, nie übertrieben und mit großem Sprachgefühl verfasst.

    Eine Familie im Jahr 2200, die beschließt, ein Experiment zu wagen und mitsamt Hund und drei Kindern in eine schon aufgegebene Raumstation auszuwandern.

    Die Schüler hörten gebannt zu, sie saßen bewegungslos und stumm auf ihren Stühlen, ein Zustand, den ihr Lehrer innerlich als einen historischen Moment bezeichnete.

    War es tatsächlich möglich, dass dieser Text aus der Feder eines dreizehnjährigen Mädchens stammte? Viola las Seite um Seite, strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr, zögerte manchmal einen Moment, als wolle sie sich vergewissern, dass um sie herum wirklich absolute Aufmerksamkeit herrschte, dann fuhr sie mit der Lesung fort.

    Sie hatte fünfundzwanzig Seiten geschrieben, Franz-Josef Terhorst hatte das Umblättern gezählt. Als sie schließlich ihr Heft zuklappte, applaudierten ihre Mitschüler, auch das ein bemerkenswerter Augenblick, stellte ihr Lehrer fest, ging es doch sonst darum, jede Gefühlsregung möglichst zu vermeiden.

    Violas Gesicht blieb ausdruckslos. Franz-Josef Terhorst wusste nicht, wie er reagieren sollte. An ihm nagten starke Zweifelhatte das Mädchen den Text wirklich selbst geschrieben?

    Aber seine Zweifel konnte er in diesem Moment nicht äußern. Es war nicht der Moment für Zweifel oder Kritik, seine Schüler waren noch im Bann des gerade Gehörten.

    „Sehr schön, Viola, sagte er. „Du hast wirklich sehr viel Fantasie. Das war ein lahmes Lob, dessen war sich Terhorst durchaus bewusst, aber ihm fiel im Moment absolut nichts ein, was angemessen gewesen wäre. Violas Gesichtsausdruck blieb ausdruckslos, sie warf jedoch einen kurzen Blick in die Runde ihrer Mitschüler, aber niemand machte eine Bemerkung oder erwiderte ihren Blick. Der Klassenlehrer sah ebenfalls in die Runde und forderte seine Schüler zu einer Stellungnahme auf. Aber außer der knappen Äußerung, dies sei eine sehr gute Geschichte gewesen, war nichts aus ihnen herauszuholen.

    Terhorst war froh, als ihn die Pausenklingel vor weiteren pädagogischen Maßnahmen bewahrte.

    Die Schüler drängten aus dem engen Klassenraum, es gab Rempeleien und ein paar der üblichen dummen SprücheLärm und Gelächter, aber niemand sprach mit der neuen Schülerin, die sich gerade als Schriftstellerin vorgestellt hatte.

    Viola trödelte als letzte an ihrem Klassenlehrer vorbei.

    „Viola, kannst du noch einen Moment dableiben?" Er wollte mit dem Mädchen über seine Zweifel sprechen.

    Als sie vor dem Pult stand, musste er sich einen Ruck geben, um ein Gespräch zu beginnen. Das Mädchen sah krank aus.

    Unnatürlich blass und unnatürlich dünn.

    „Das war ganz toll. Es war sicher nicht das erste Mal, dass du etwas geschrieben hast."

    „Nein, ich schreibe... ziemlich viel."

    Franz-Josef Terhorst wusste nicht, wie er seine Zweifel zum Ausdruck bringen sollte. Stattdessen trat er die Flucht nach vorne an.

    „Hast du schon mal an einem Wettbewerb teilgenommen? Ich könnte mich erkundigen... "

    „Das brauchen Sie nicht. Ich schicke meine Geschichten nach Hamburg, da kenne ich jemanden, der will sich um die Veröffentlichung kümmern. Es gibt Wettbewerbe für junge Autoren, wie Sie wahrscheinlich wissen."

    „Ach so, gut, dann... bist du ja schon eine Schriftstellerin...", der Deutschlehrer kam sich irgendwie dumm vor, aber er war jetzt ziemlich sicher, dass seine Schülerin den Text selbst geschrieben hatte. Ansonsten wäre sie ein sehr ausgefuchstes Mädchen gewesen, dass mit allen Tricks arbeitete, um Lehrer und Mitschüler hinters Licht zu führen. Und das konnte er sich einfach nicht vorstellen.

    Viola sah ihn abwartend an.

    „Ja, gut, das wollte ich dir sagen. Und... schön, dass du jetzt hier bei uns bist."

    Zum ersten Mal zeigte Viola die Andeutung eines Lächelns. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür.

    Franz-Josef Terhorst hatte angefangen, sich mit dem Inhalt seiner Lehrertasche zu beschäftigen und hörte nur ein schwaches Seufzen und gleich darauf einen Laut, als fiele ein nicht allzu schwerer Gegenstand vom Tisch herunter.

    Als er aufblickte, sah er Violas kleine Gestalt auf dem Boden liegen. Die Haare waren wie ein Schleier über ihr Gesicht gefallen. Er sprang zu ihr hinüber und versuchte sie aufzurichten. Dabei rief er laut ihren Namen. Er hatte geahnt, dass sie krank war, so schrecklich dünn wie sie war...

    Violas Augen waren geschlossen. Er schob seine Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Sie war sehr leicht, trotzdem war es nicht einfach, sie die Treppe hinunter zum Sekretariat zu tragen. Er schwitzte vor Anstrengung und vor Sorge.

    Im Sekretariat legte er seine federleichte Last auf die Liege, die hier für Krankheitsfälle bereitstand. Die erschrockene Sekretärin wollte gerade die Nummer des Notarztes wählen, als Viola die Augen aufschlug.

    „Ich will nach Hause."

    „Was ist los mit dir?" Franz-Josef Terhorst war erleichtert und verwirrt zugleich.

    „Rufen Sie bitte meine Mutter an. Sie soll mich abholen."

    Viola nannte die Telefonnummer und alles Weitere verlief so reibungslos und routiniert, dass dem Lehrer der Gedanke kam, es sei nicht das erste Mal, dass dieses Mädchen in Ohnmacht fiel und von seiner Mutter abgeholt werden musste.

    Miriam van Boysen war sofort am Telefon und schien von dem Anruf nicht überrascht zu sein. Fünfzehn Minuten später stand sie im Sekretariat, nahm ihre Tochter in den Arm, bedankte sich höflich für die Mühe, und Terhorst brachte die beiden zum Schultor. Er sah Mutter und Tochter über den Schulhof gehen.

    Miriam van Boysen hatte den Arm um Viola gelegt – wie ähnlich sich die beiden waren - und ihm war klar, dass er ein Gespräch mit Frau van Boysen würde führen müssen. Seine neue Schülerin war ein unglaublich begabtes Mädchen, aber offenbar hatte sie auch einige nicht zu übersehende Probleme. Er ging noch einmal ins Sekretariat zurück, um seine Tasche zu holen, ein hilfsbereiter Schüler hatte sie in der Zwischenzeit aus dem Klassenzimmer nach unten gebracht. Die Sekretärin warf ihm einen freundlichen Blick zu: „Ein schwieriges Mädchen, sagte sie, „wenn ich ihre Mutter wäre, würde ich sie sofort in eine Klinik stecken, dann wendete sie sich wieder ihrem Computer zu.

    Das ist wohl nicht so einfach, dachte Terhorst, Viola hat da sicher auch noch ein Wort mitzureden. Aber er musste der Sekretärin recht geben, in einem solchen Fall sollte man sich über den Willen des Mädchens hinwegsetzen. Er würde den Gesprächstermin so schnell wie möglich vereinbaren.

    Terhorst nahm seine Tasche, die neben dem Korb mit den eingezogenen Handys abgestellt war und zählte kurz durch - bis jetzt waren es sieben Smartphones, aber bis heute Nachmittag kamen sicher noch ein paar dazu. Die normale Quote. Er bedankte sich noch einmal bei der Sekretärin und verschwand in Richtung Lehrerzimmer, von seiner Freistunde waren noch zehn Minuten übrig. Das reichte für einen Kaffee.

    4

    Erik lag schon den ganzen Tag im Bett, hörte Musik und starrte an die Decke seines Zimmers. Sie hatte eine hübsche Stuckrosette in der Mitte, fast so schön wie in seinem alten Zimmer in Hamburg. Die Lampe allerdings, die von dort herabhing, war ätzend hässlich. Ein moderner Kronleuchter mit geschwungenen Armen und vielen farbigen Birnen. Ein teures Designerstück.

    Er hatte sich nicht gewehrt, als seine Mutter ihn aufhängen ließ, es war ihm vollkommen gleichgültig gewesen, welche Lichtquellen sich in seinem Zimmer befanden, genauso gleichgültig wie Tapeten und Gardinen und alle anderen Einrichtungsgegenstände. Aber jetzt ging ihm das modisch verzierte Teil auf den Geist. Er würde den Kronleuchter gegen eine Glühbirne austauschen. Eine normale, schlichte Glühbirne. Sie sollte das Zimmer hell machen, mehr nicht.

    Er drehte sich träge auf die andere Seite und versuchte, die Musik zu genießen, die aus seiner neuen Anlage dröhnte. Sein Musikgeschmack wechselte ständig, zur Zeit war gerade Nirvana aktuell. Flüchtig dachte er daran, seine Gitarre in die Hand zu nehmen und die Anlage auszumachen. Die Gitarre, die seit vielen Wochen unberührt in der Zimmerecke stand, erst in Hamburg, jetzt hier am Ende der Welt.

    Er könnte versuchen, ein Stück von Andres Segovia zu spielen, seinem absoluten Vorbild. Er dachte daran, wie er sich erschrocken hatte, als ihm ein Foto des Spaniers in die Hände fiel. Segovia, der Gitarre spielte wie aus einer anderen Welt, war ein alter Mann mit weißen Haaren und einer dicken Hornbrille, er trug stets einen schwarzen Anzug. Nie hatte er gedacht, dass sein Idol so aussehen würde, vor allem nicht so alt.

    Dann hatte er sich damit abgefunden- der Mann war alt und er war ein Genie. Und das war es schließlich, worauf es ankam. Erik wälzte sich auf die andere Seite und verwarf seine Gitarrenspielpläne. Zu viel Action. Er wollte das Nichtstun genießen. Obwohl - er hatte sich das Kranksein schöner vorgestellt.

    Er hatte viel Zeit zum Nachdenken und das war in der jetzigen Situation wenig angenehm. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Irrgarten. Seine Gedanken waren ein bleischweres Gewirr ohne Anfang und ohne Ende. Mit jeder Menge unentwirrbarer Knoten darin.

    Was würde passieren, in einer Woche, in einem Jahr? Was wollte er tun, was musste er tun, wer würde er sein, würde er durchhalten, hier, in diesem Dorf, in dieser Schule? Aber welche Alternative gab es? Letztendlich, nach all seinen verworrenen Gedankengängen , war ihm klar, dass es eine Alternative nicht gab. Er musste durchhalten. Der Gedanke an ein Internat- seine Eltern hatten ihm dies bei ihrem Umzug in Aussicht gestellt- war im genauso unangenehm wie der an ein Leben in Mariafeld. Also konnte er genauso gut hier seine Zeit absitzen, bis er endlich machen konnte, was er wollte.

    Fast freute er sich, als es an seiner Tür klopfte und seine Mutter das Zimmer betrat. Sie erlöste ihn aus seinen Grübeleien.

    Miriam van Boysen hatte eine Tablett in der Hand und lächelte ihn aufmunternd an. Er wusste, was auf dem Tablett transportiert wurde- Zwieback mit heißer Milch und Zimtzucker, dazu einen Pfefferminztee, ihr traditionelles Krankenessen, egal um welche Krankheit es sich handelte. Der Zimtgeruch verbreitete sich im Zimmer und Erik musste sich gegen das Gefühl von Geborgenheit und Wärme wehren, das ihn zu überfallen drohte. Er war keinesfalls bereit, sich in Wohlbefinden aufzulösen.

    Gerade noch hatte ihn der Weltschmerz in seinen Fängen gehabt. Frau van Boysen stellte das Tablett auf das Tischchen neben das Bett und legte ihm mit einer routinierten Bewegung die Hand auf die Stirn.

    „Nicht mehr so heiß wie heute morgen", murmelte sie.

    Dann stand sie ein wenig unschlüssig im Zimmer herum. Erik stellte sich das Tablett auf den Bauch und fing an, den Zwiebackbrei zu löffeln. Er war genau richtig, lauwarm und noch ein bisschen knackig.

    „Brauchst du noch irgendwas? Soll ich dir noch einen Kakao kochen?" fragte seine Mutter.

    Erik schielte aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. Sie sah aus wie seine kleine Schwester Viola, nur eben einige Jahre älter und natürlich nicht so dünn. Er schüttelte den Kopf, dann sagte er, noch mit vollem Mund: „Danke, schmeckt gut."

    Er fügte hinzu: „Tut mir leid, mit der Gardine, ich wollte sie nur zuziehen."

    Seine Mutter nickte und setzte sich auf den Rand des Bettes. Erik löffelte schweigend seinen Zwiebackbrei und auf geheimnisvolle Art und Weise zogen die vielen Jahre an ihnen vorbei, in denen eine Krankheit oder auch nur ein Weltschmerz mit Zimt und Zwieback erfolgreich bekämpft worden waren.

    Erik hatte immer gewusst, ob er nun ernsthaft krank war, was sehr selten vorkam, oder auch nicht, dass sein Mutter mit einem Tablett in der Tür stehen würde.

    Der Zwiebackbrei näherte sich seinem Ende und Erik hatte plötzlich den Wunsch, mit seiner Mutter über ein ganz bestimmtes Thema zu sprechen, vielleicht, weil ihm sein Wohlgefühl nicht ganz geheuer war und er einen kleinen Stachel brauchte, um sich wieder schlechter fühlen zu können.

    „Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich......macht dir das gar nichts aus? Ich meine, denkst du manchmal daran, dass ich gar nicht dein Sohn bin?"

    Seine Mutter sah ihn überrascht an, dann lächelte sie. Es war so viel Liebe in ihrem Lächeln, dass Erik ein schlechtes Gewissen bekam. Er hätte das Thema nicht ansprechen sollen, es war vollkommen überflüssig, aber jetzt war es zu spät.

    „Warum sagst du so etwas? Du weißt doch, dass du für mich mein Sohn bist, es ist ganz egal, ob ich dich geboren habe oder nicht." Seine Mutter sagte es mit Nachdruck und leichtem Vorwurf in der Stimme.

    „Aber.. findest du nicht, dass ich irgendwie anders bin... anders aussehe.." Erik hörte seine Stimme und dachte, das ist eine dumme Bemerkung, er wusste ja, dass er anders aussah als der Rest der Familie und hatte nicht das geringste Problem damit.

    Das war es nicht, womit er sich seit einiger Zeit herumschlug und was er nicht benennen konnte.

    „Du siehst tatsächlich anders aus als ich, hörte er seine Mutter belustigt sagen, „und ich würde sogar behaupten, du siehst besser aus als ich.

    Erik grinste: „Das sagst du nur, weil du nett sein willst und ich krank bin und du mein Selbstvertrauen fördern willst..."

    „Dein Selbstvertrauen brauche ich nicht zu fördern, das ist schon so ganz in Ordnung", seine Mutter tätschelte die Bettdecke, nahm ihm das Tablett vom Bauch und stand auf.

    „Gibt es denn ein Problem...

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