Die Stimme einer Toten
Von Olaf Kemmler
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Über dieses E-Book
Ein junges Mädchen wird ermordet.
Für Laura, eine junge Büchereiangestellte aus Bergisch Gladbach, die Stiefschwester der Toten, beginnt eine dramatische Suche nach der Wahrheit.
Ein uraltes Buch scheint eine entscheidende Rolle in diesem verzwickten Fall zu spielen. Und jemand ist bereit, für dieses Buch zu töten.
Das spannende an dieser Geschichte ist gewiss nicht allein, herauszufinden, wie das Opfer ums Leben gekommen ist, sondern Laura dabei zuzusehen, wie sie diese unmögliche Aufgabe angeht. Sie schlüpft in viele Rollen und Verkleidungen und stolpert unermüdlich von einer sonderbaren Situation in die nächste.
Olfa Kemmler über das Buch:
Die Figur der Laura Herbst als Hobby-Detektivin spukt mir schon sehr lange im Kopf herum. Allein es fehlte ein Fall. Die Idee dazu kam mir eines Tages auf einem Mittelaltermarkt, als ich über ein altes Buch mit Hexenrezepten gestolpert bin. Mit dem Verlag stand ich eigentlich in Verhandlung, um an einer Serie von Weltraumabenteuern mitzuschreiben. Bei einem Treffen auf dem Buchmesse-Con erwähnte ich am Rande, dass ich im Moment eigentlich lieber einen Regional-Krimi schreiben würde. Jörg Kaegelmann vom Blitz-Verlag sah mich mit großen Augen und meinte, dass er eine Reihe mit Regional-Krimis im Programm habe. Ich solle ihm mein Konzept mal schicken. Das ist ein Zufall, wie man ihn als Autor kaum glauben kann. Oder doch Schicksal?
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Die Stimme einer Toten - Olaf Kemmler
Olaf Kemmler
DIE STIMME EINER TOTEN
img1.jpgBereits in dieser Reihe erschienen:
7001 Stefan Melneczuk, Marterpfahl
7002 Frank W. Haubold, Die Kinder der Schattenstadt
7003 Jens Lossau, Dunkle Nordsee
7004 Alfred Wallon, Endstation
7005 Angelika Schröder, Böses Karma
7006 Guido Billig, Der Plan Gottes
7007 Olaf Kemmler, Die Stimme einer Toten
7008 Martin Barkawitz, Kehrwieder
7009 Stefan Melneczuk, Rabenstadt
7010 Wayne Allen Sallee, Der Erlöser von Chicago
Olaf Kemmler
DIE STIMME EINER TOTEN
Thriller
img2.png© 2014 by BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbildgestaltung: Mark Freier
Innenillustration vom Autor
Satz: Winfried Brand
All rights reserved
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-312-4
Kapitel 1
Jede Geschichte endet auf einem Friedhof. Früher oder später. Das pflegte ihr Nachbar immer zu sagen, der alte Horst Kowalski.
Im Moment konnte Laura Herbst noch nicht begreifen, warum sie hier zwischen all den stummen Grabsteinen stand, vor einem kleinen Haufen lockerer Erde. Die Spätsommersonne war geeignet, sie an einen sorglosen Urlaubstag auf dem Land denken zu lassen. Die Luft war so klar wie seit Monaten nicht mehr. Alles wirkte friedlich. Mit einer beiläufigen Geste schob sich die junge Frau eine Strähne ihres braunen Haares aus dem Gesicht und blickte auf zu den hohen Kronen uralter Bäume, denen der Lenneper Waldfriedhof seinen Namen verdankte. Hätte das Gelände nicht diese Hanglage oberhalb der Altstadt gehabt, könnte man glauben, sich in dem gepflegten Park eines barocken Schlosses zu befinden. Der Wind strich ihr über die Unterarme, und obwohl er mild war, bereitete er ihr eine Gänsehaut. Einen unwirklichen Moment lang hatte Laura den Eindruck, Nadine würde neben ihr stehen und hätte sie berührt. Dass ihre Stiefschwester in dieser aufwendig gearbeiteten Holzkiste liegen sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Das war schlichtweg absurd.
Bis jetzt hatte Lauras Bewusstsein die monotone Stimme des Pfarrers erfolgreich ausgeblendet, so als ob sie das alles nichts anginge. Aber plötzlich weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Mit einem leichten Stirnrunzeln betrachtete sie den ziemlich beleibten Mann in der würdevollen Robe. Seine kurzen Arme reichten gerade weit genug, dass er die Bibel vor seinem runden Bauch halten konnte. Die grobporige Gesichtshaut glänzte im Sonnenlicht, das gelegentlich im Rhythmus der vom Wind bewegten Äste fröhlich über den Köpfen tanzte, als wollte es die Trauergemeinde verhöhnen.
„Verstehen wir diesen tragischen Unfalltod als Warnung, sagte der Pfarrer gerade. „Doch wollen wir nicht vergessen, dass Nadine Maybach ihr Schicksal selbst mit einer Macht herausgefordert hat, die bei all ihren Lieben nur Ratlosigkeit und Hilflosigkeit hervorgerufen hat. Wie auch andere junge Menschen hat sie sich von der Kirche abgewandt, hat von den wahren Werten, die uns in einer ruhelosen Zeit Halt geben, nichts mehr wissen wollen. Sexuelle Freizügigkeit ist es, was viele junge Menschen heute suchen. Das Sakrament der Ehe ist ihnen nicht mehr heilig. Sie leben in wilder Ehe, ohne zu begreifen, dass sie Gottes Segen damit ablehnen. Sie stellen die Symbole des Satans kess zur Schau und beschwören das Unheil leichtsinnig herauf. Sie suchen extreme Erfahrungen und nehmen Drogen, als ob der Körper ein unverwüstlicher steinerner Tempel wäre, aber das ist er nicht. Nadine Maybachs Tod führt uns wieder vor Augen, wie verletzlich der Mensch in Wahrheit ist.
Hatte er tatsächlich sexuell freizügig gesagt? Lauras Gehirn übersetzte die Worte unwillkürlich ins Hochdeutsche. Was der Geistliche gerade pietätvoll umschrieb, war eine unerhörte Lüge. Hätte er Klartext geredet, was ihm bestimmt gefallen hätte, würde das ungefähr so geklungen haben: Nadine Maybach war ein treuloses Flittchen, hat den Teufel angebetet und sich den Kopf mit Drogen zugedröhnt. Wäre sie ins Kloster gegangen, würde sie heute noch leben.
Der Pfarrer fuhr fort: „Es war ein Unfall, gewiss, aber war es nicht einer, der unnötig gewesen ist? Wenn ihre ruhelose Seele Halt gesucht hat, sie hätte ihn bei Gott gefunden. Oder hatte sie einen festen Anker im Leben gar nicht vermisst? Betrübt nehmen wir zur Kenntnis, dass auch heutzutage immer noch viele Jugendliche ihr Glück bei wechselnden Geschlechtspartnern suchen, bei Alkohol und Drogen."
Laura schnappte nach Luft. Sie spürte eine Woge des Entsetzens in sich aufsteigen. Nadine hatte einen derartigen Nachruf nicht verdient. Laura hatte gute Lust, dem dicken Mann das Buch aus der Hand zu reißen und ihn damit zu schlagen.
Zugegeben, ihre Stiefschwester hatte sich gerne in Schwarz gekleidet und mit Silberschmuck behängt, der neben keltischen Ornamenten auch satanistische Symbole darstellte. Ja, sie tat mit ihrem Äußeren wie alle ihre Freunde eine gewisse Auflehnung kund und machte sich einen Spaß daraus, ihre Mitmenschen mit den Zeichen des Bösen zu schockieren: Totenköpfe, Pentagramme, Spinnen, umgedrehte Kreuze. Vielleicht konnte niemand genau sagen, wogegen sie sich eigentlich auflehnten, aber man durfte Nadine kaum als freizügig bezeichnen, denn sie hatte einen festen Freund gehabt und mit Hingabe eine anspruchsvolle Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Assistentin begonnen, war also durchaus angepasst. Ein besonderes Interesse hatte sie für Naturheilkunde entwickelt. Letzteres war ihr vielleicht zum Verhängnis geworden, denn gestorben ist sie an der giftigsten Pflanze, die man in Mitteleuropa kennt: am Blauen Eisenhut. Warum das Gift in ihre Blutbahn gelangt war, konnte durch die Polizei nicht restlos geklärt werden. Angenommen wurde, dass es sich um ein misslungenes Experiment mit einer Hexensalbe handelte, oder sie hatte ohne hinreichende Kenntnisse versucht, eine Medizin aus der Giftpflanze herzustellen. Wie Laura in Erfahrung gebracht hatte, gibt es tatsächlich Medikamente für Herzerkrankungen, die in geringen Mengen Substanzen des Eisenhutes enthalten, und in früheren Jahrhunderten waren bei Apothekern heikle Eisenhut-Rezepte in Umlauf gewesen. Auf jeden Fall handelte es sich um einen Unfall und nicht um einen exzessiven Drogenkonsum, wie es der Pfarrer gerade darstellte!
Laura kochte vor Wut. Am liebsten hätte sie den selbstgerechten Geistlichen sofort und lautstark zur Rede gestellt. Allein ihr Anstand und die Rücksicht auf die anderen Trauernden hielten sie davon ab. War sie denn die Einzige, die die wahre Botschaft hinter der Grabrede erkannte?
Sie warf einen Blick in die Runde.
Nadines Mutter, Cordelia Maybach, war mit ihrem neuen Lebensgefährten und ihrer Schwester gekommen. Sie war eine äußerst hagere Person, schwach und zerbrechlich. Cordelia war Alkoholikerin. Das war sie schon gewesen, als Lauras Vater, Klaus Herbst, sie kennen und lieben gelernt hatte. Ihre grauen Haare trug sie inzwischen als Stoppelfrisur, ihr stierender Blick sah so irre aus wie immer. Ständig schienen ihre aufgerissenen Augen den Horizont nach einer schrecklichen Gefahr abzusuchen. Die Zuckungen um ihren Mund waren schlimmer geworden. Von ihrer kränklichen Erscheinung und von ihrem Problem sollte man sich jedoch nicht voreilig eine Meinung bilden, denn Cordelia war eine ganz wundervolle Person. Als Stiefmutter war sie viel verständnisvoller und aufmerksamer gewesen als Lauras leibliche Mutter, die abgehauen war, noch bevor Laura die Pubertät erreicht hatte. Im Moment fiel es Cordelia sichtlich schwer, sich überhaupt aufrecht zu halten. Ihr Freund musste sie stützen. Laura vermutete, dass sie die Beerdigung ihrer Tochter nicht überstanden hätte, wenn sie nüchtern hergekommen wäre.
Nadines Freund, Mario Escher, war ebenfalls anwesend. Er war mit seinen Eltern gekommen. Auch Katrin Neuenhaus, Nadines Busenfreundin, erwies der Verstorbenen die letzte Ehre. Beide fielen wie Nadine durch ihre schwarze, provokant extravagante Kleidung und die satanistischen Schmuckstücke auf. Sein Blick war seltsam leer und gleichgültig. Trauer, Verzweiflung oder irgendeine andere Regung suchte man in seinem Gesicht vergebens. Kurz huschte ein unerhörter Gedanke durch Lauras Kopf und kitzelte ihr Zwerchfell. Katrin und Mario hatten sich für die Beerdigung nicht extra neue Kleidung kaufen brauchen, sie waren jeden Tag ihres Lebens passend für den Friedhof gekleidet. Nicht umsonst nannte man sie scherzhaft Gruftis. Auch sie selbst bezeichneten sich gerne so.
Anders als Mario war die etwas füllige Katrin in Tränen aufgelöst. Die Wimperntusche hinterließ schwarze Spuren auf ihrer weißen Gesichtshaut, wie ein mit Ruß durchsetztes Rinnsal auf frischem Schnee. Eine einzelne feuerrote Strähne flammte in ihrem schwarz gefärbten Haar auf, vermochte aber nicht, ihrem Antlitz so etwas wie Lebensfreude zu verleihen.
Dass Mario Escher mit seinen Eltern hier erschienen war, kam nicht von ungefähr. Ihnen gehörte die Apotheke in Bergisch Gladbach, in der Nadine ihre Ausbildung gemacht hatte. Natürlich munkelte man, dass sie den Ausbildungsplatz nur bekommen hatte, weil sie die Freundin des Sohnemanns war. So wird es wohl auch gewesen sein. Tatsache war aber, dass sie den Beruf mit Enthusiasmus gelernt hatte und hinter dem Ladentisch hatte sie gerne auf Piercings und schwarzen Lippenstift verzichtet.
Marios Vater, Martin Escher, war ein großer, hagerer Mann mit fast schulterlangen, gewellten grauen Haaren. Seine ausgeprägten Nasolabialfalten waren leicht nach oben gezogen und zeichneten in seinem Gesicht einen Ausdruck großen Leids. Mitfühlend hatte er die Hand auf Marios Schulter gelegt, obwohl es so aussah, als ob er selbst gerade mehr Trost bräuchte. Auf den ersten Blick wirkte der Vater wie ein vornehmer Intellektueller, wie ein Kunstprofessor. Ein Seidenschal unter dem dünnen Kurzmantel rundete das Bild ab.
Die Mutter hingegen, Hannelore Escher, war Laura im Moment ein Rätsel. Die brünette Frau trug ein strenges, dunkelgraues Kostüm mit violetten Applikationen. Sie blickte mit erhobenem Haupt auf den Sarg hinab. Es wirkte fast arrogant. Oder war es sogar Verachtung, die man in ihrer ansonsten versteinerten Miene lesen konnte? Nun, es soll häufig geschehen, dass Mütter ihren Schwiegertöchtern nicht freundlich gesinnt sind. Zwischen ihr und Nadine war es wohl so gewesen.
Dass Lauras Vater heute nicht hier war, hatte einen guten Grund. Nach der Trennung von Cordelia hatte er sich dafür entschieden, sein Dasein als Frührentner im sonnigen Florida zu fristen. Bestimmt lebte es sich dort ganz angenehm. Laura hatte kaum noch Kontakt zu ihm. Zwei oder drei Telefonate im Jahr, eine Postkarte zum Geburtstag. Ihre letzte Verbindung zur Kindheit, die sie gelegentlich noch gepflegt hatte, war Nadine gewesen. Immer noch wollte sie nicht wahrhaben, dass die kleine Stiefschwester gleich in einer Holzkiste unter der Erde verschwinden würde. Von diesem Tag an konnte sich Laura getrost als Vollwaise bezeichnen.
Warum nur? Wie hatte das geschehen können? Ein Unglück, hieß es.
Der Pfarrer erhob gerade wieder seine Stimme zu einer Mahnung. Niemand der Anwesenden schien an seinen Lügen Anstoß zu nehmen. „Ohne das geringste Gefühl für Scham hat die tragisch Verunglückte ein T-Shirt mit der Aufschrift Ich hab’ keinen Glauben, ich hab’ nur mein Lied, Ach ich bin von dieser Welt so müd’ getragen. Wer aber keinen Glauben hat, der hat keine Anleitung im Leben, der hat keine Hoffnung und keinen Trost. Liebe Trauergemeinde, sollten wir in Zukunft noch wegsehen, wenn ein junger Mensch, der uns nahesteht, eine derart gotteslästerliche Botschaft zur Schau stellt? Jetzt sollte wohl allen klar sein, dass ein solches Verhalten ein Alarmsignal ist, vielleicht das allerletzte." Er warf einen strengen Blick hinüber zu Mario und dann zu dessen Eltern. Die Mutter verzog keine Miene, der Vater bemerkte es nicht einmal.
Laura war ein solches T-Shirt bei Nadine nie aufgefallen. Wie war sie nur darauf gekommen, diese kuriosen Worte auf ihrer Kleidung zu tragen? Sicher, viele Leute in der Grufti-Szene redeten gerne über Selbstmord, aber Nadine war nie ein depressiver Mensch gewesen. Im Gegenteil. Kaum jemand hatte so vor Lebensfreude gestrahlt wie sie. Die schwarze Kleidung war nicht mehr als eine freche Attitüde gewesen, ein Lebensstil.
„Lasset uns beten für die Seele der Verstorbenen, dass der Herr sich ihrer erbarme. Möge er ihr den Irrweg vergeben, auf den die Lebensumstände sie geführt haben."
Das war zu viel. Lauras Mund bewegte sich wie von selbst. Sie sprach nicht laut, aber alle konnten es hören: „Hat er gesagt, den Irrweg vergeben? Stehe ich hier am richtigen Grab? Weiß vielleicht jemand, wo Nadine beerdigt wird?"
Alle blickten sie an, aber das war ihr ziemlich gleich. Nach anfänglicher Verwirrung zeichnete sich im Gesicht des Pfarrers Zorn ab. Cordelia hingegen blickte sie mit einer gewissen Dankbarkeit an.
Nach der Beerdigung kam ihre Stiefmutter zu ihr herüber. „Kommst du mit zum Leichenschmaus?", fragte sie und stierte sie mit ihrem irren Blick an.
Laura umarmte sie kurz. „Nein, sagte sie. „Ich muss gleich noch zur Arbeit. Ich weiß nicht, wie dicht der Verkehr ist. Bis Gladbach ist es noch ein Stück.
Das war untertrieben. In Wahrheit kommt es einer halben Weltreise gleich, wenn man von Lennep nach Gladbach fahren will. Einen direkten Weg gibt es eigentlich nicht. Laura überlegte, dass es wohl am besten wäre, an Kürten vorbeizufahren. Es war ihr im Moment kein Trost, dass sich das Bergische Land entlang der Strecke von einer seiner schönsten Seiten zeigte: alter Laubbaumbestand, Nadelwälder, sanft geschwungene Hügel mit saftigen Wiesen, auf denen die schwarz-weißen Kühe weiden, die man von vielen Milchpackungen kennt. Enge Serpentinenstraßen, wie man sie in den Alpen nicht kurvenreicher finden kann, winden sich geradezu lustvoll durch die Landschaft. Aber jede Kurve war ein echtes Ärgernis, wenn man es eilig hatte.
„Kannst du nicht doch noch kurz mitkommen? Nadine zuliebe. Die Eschers werden auch nicht bleiben. Es wird sonst ein sehr einsames Essen."
„Geht wirklich nicht, sagte Laura und seufzte. „Wenn ich zu spät komme, lyncht mich die alte Kretschmer.
„Wenn es wirklich nicht geht. Cordelia wirkte betrübt, dann kam ihr noch etwas anderes in den Sinn. „Ich wollte übermorgen noch mal in ihre Wohnung. Mir anschauen, was ich von ihren Sachen verkaufe oder verschenke. Möchtest du nicht mitkommen?
Laura versprach es ihrer Stiefmutter, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und wandte sich um. Innerlich war sie zerrissen. Gerne hätte sie Cordelia den Gefallen getan. Außerdem fand sie sowieso, dass das Essen nach einem Begräbnis eine merkwürdige Sitte war. Allein der Klang des Wortes war schon seltsam: Leichenschmaus. Als ob man die Kadaver der Angehörigen mit Genuss verzehren würde. Genauso unglücklich fand sie den Begriff Reuessen. Was gab es denn bei einer Beerdigung zu bereuen? Es sei denn, man hatte den Toten selbst umgebracht. Wahrlich schrullige Begriffe hatten sich im Laufe der Zeit eingebürgert.
Laura seufzte. Sie hatte dieses Jahr schon einige Fehlzeiten angehäuft. Wenn sie an den ewigen Psychoterror ihrer Vorgesetzten in der Stadtbücherei dachte, hielt sie es für klüger, heute pünktlich zu erscheinen. Sie warf einen letzten Blick auf die Kränze am Grab und ging hinunter zur Hackenberger Straße, die hier von zweigeschossigen Altbauten gesäumt war. Ihren kleinen, roten Ford Ka hatte sie in einer Seitenstraße geparkt. Hektisch fingerte sie in der Handtasche nach den Wagenschlüsseln. Als sie sie endlich fand, fielen sie ihr klirrend auf die Straße. Beinahe wäre ein kleiner Junge mit seinem Fahrrad darüber gefahren. Gerade noch rechtzeitig konnte Laura ihre Hand mit dem Schlüssel zurückziehen. Sie wusste nicht, was los war, aber sie schaffte es nicht, das Schloss zu treffen und den Wagen aufzuschließen. Das also war der Grund, warum man die Zentralverriegelung mit Fernsteuerung erfunden hatte. Damit sich Besoffene oder Leute, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen, immer noch ans Steuer setzen können. Aber dem kleinen Wagen fehlten so einige Extras, die heute selbstverständlich waren. Dafür hatte er niedliche Alufelgen und war im hinteren Bereich mit silbernen Hibiskusblüten verziert. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen und laut wieder zuzuschlagen, holte Laura erst einmal tief Luft. Ihre Finger zitterten. Nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, startete sie den Motor und fuhr los. Zunächst hoch zur Bundesstraße 51, dann Richtung Bergisch Born. Sie fuhr zu schnell und zu unkonzentriert. Ihr Gehirn fühlte sich an, als ob es jemand in eine Waschmaschine gesteckt und auf Schleudern gedrückt hätte. Immer wieder hörte sie die Worte des Pfarrers in ihrem Ohr. Gotteslästerliche Botschaft, sexuell freizügig, stellte kess die Symbole des Satans zur Schau, extreme Erfahrungen und Drogen … Nein! Das war nicht Nadine, die der dicke Mann in der Priesterrobe beschrieben hatte. Eigentlich müsste man eine Entschuldigung von ihm verlangen. Konnte die Stiefschwester, mit der sie ihre Jugend verbracht hatte, die gleiche Person sein, die sich selbst leichtsinnigerweise mit Eisenhut vergiftet hatte? In Lauras Innerem regte sich mit der Gewalt einer Sturmflut heftiger Widerspruch. Da passte etwas nicht zusammen.
Kapitel 2
Mit Schrecken stellte Laura fest, dass sie es kaum noch pünktlich zur Arbeit schaffen würde. Sie hörte schon die gemeinen Worte der Kretschmer im Ohr. Auf der Landstraße verlangte sie ihrem kleinen Wagen das Letzte ab. Für gewöhnlich ließ sie das Auto zu Hause stehen und fuhr mit dem Bus zur Arbeit. Von Paffrath aus waren es nur ein paar Minuten. Es gab zwei Möglichkeiten: Sie könnte in den Parkkeller unter dem Bürgerzentrum fahren, ein kleines Vermögen bezahlen und garantiert zehn Minuten zu spät kommen oder hoch pokern, auf einen Parkplatz direkt vor der Bücherei hoffen und es noch auf die Sekunde genau schaffen. Laura entschied sich für ein Pokerspiel. Von Romaney kommend, schoss sie durch eine Häuserschlucht die Odenthaler Straße hinab und bog mit quietschenden Reifen rechts in die Hauptstraße ein. Sie fuhr nun direkt auf die Bibliothek zu, die in einem verkehrsberuhigten Bereich lag. Natürlich war keine der Parktaschen frei. Sie hätte es wissen müssen. Jetzt würde sie mindestens eine Viertelstunde zu spät kommen. Sofort hatte sie einen Alternativplan parat. Stress und Adrenalin können in kleinen Dosen eine beflügelnde Wirkung haben. Sie musste nun über einen weiten Umweg zur Paffrather Straße fahren, der um das neue Einkaufszentrum herumführte, die Rhein-Berg-Galerie. Die Zeit verstrich, die Ampeln störte das wenig und vor ihr schienen sich nur Leute zu befinden, die gerade erst aus einer Narkose erwacht waren. Wie sie es gehofft hatte, gab es am Seitenstreifen der Paffrather Straße noch eine Parklücke. Die Geschäfte abseits der Fußgängerzone waren kaum frequentiert. Nur wenige verirrten sich hierher. Auf der Rückseite der schillernden Shoppingmeilen wirkte jede Stadt grau, trotz des einen oder anderen frischen Farbauftrags. Laura setzte mitten auf der Straße zurück und zwang die folgenden Autos zum scharfen Abbremsen. Das unvermeidliche Hupkonzert überhörte sie geflissentlich. Hektisch bog sie in eine Lücke ein. Wie immer, wenn sie es eilig hatte, gelang ihr nicht einmal ein simples Manöver wie dieses. Sie musste zurücksetzen und es noch einmal versuchen. Diesmal war sie viel zu steil. Der Wagen würde halb auf dem Bürgersteig stehen und mit dem Hintern noch auf die Straße hinausragen. Es war einfach zu wenig Platz, um herumzulenken. Sie kurbelte die Scheibe hinunter, blickte sich um und setzte wieder zurück.
„Entschuldigen Sie bitte, aber so geht das wirklich nicht", sagte jemand.
Laura blickte auf. Da stand ein junger Mann in einer Wildlederjacke. In der Hand hielt er eine grüne Tasche, in der sich nur ein Saxofon befinden konnte. Er war unrasiert, seine braunen Haare hätten etwas Shampoo vertragen können und zudem wirkte er recht unausgeschlafen. Die Ringe unter den Augen legten den Verdacht jedenfalls nahe, dass ihm die eine oder andere Stunde Schlaf fehlte. Ein dahergelaufener Kerl, der ihr Ratschläge gab, hatte ihr gerade noch gefehlt. Schlimm genug, dass die alte Kretschmer ihr gleich eine Standpauke halten würde.
„Was geht Sie das an?", fauchte Laura.
„In so eine Lücke kann man nicht vorwärts einparken."
„Ich kann ja wohl einparken, wie ich will!"
„Grundsätzlich schon. Nur leider ist es in dem Fall physikalisch nicht möglich, weil sich die bewegliche Achse vorne befindet. Sie müssen …"
Laura fuhr aus der Haut. Warum sahen sich Männer immer genötigt, Frauen das Autofahren beizubringen? „Setzen Sie sich lieber in die Fußgängerzone und spielen für ein paar Münzen auf ihrem dämlichen Saxofon! Hektisch kurbelte sie am Lenkrad. Dann lehnte sie sich noch einmal aus dem Fenster und fügte hinzu: „Sie Stoppelgesicht!
Der Mann blickte leicht irritiert zwischen seinem Instrument und Laura hin und her. „Ich wollte wirklich bloß helfen. Versuchen Sie es wenigstens mal."
„Haben Sie heute schon genug erbettelt oder woher nehmen Sie die Zeit, andere zu belästigen?"
Der ungepflegte Mann zuckte die Schultern und ging kopfschüttelnd weiter. Als er sich noch einmal umdrehte, blickte er auf die silbernen Blüten und sagte laut: „Wenigstens Ihr Auto macht einen netten und freundlichen Eindruck."
„Du kannst mich mal!", meinte Laura leise. Auf gute Ratschläge konnte sie im Moment verzichten. Als sich einige nachfolgende Autos um sie herumquälten und die Fahrer wütend gestikulierten, dachte sie sich, dass es vielleicht nicht schaden konnte, es doch einmal rückwärts zu versuchen, aber wenn es eins gab, was sie hasste, war das Rückwärtsfahren. Die Zeit verrann inzwischen zusehends. Ob sich die alte Kretschmer von einer Beerdigung als Entschuldigung erweichen ließ? Laura schlug das Lenkrad ein und es geschah ein kleines Wunder. Auf Anhieb stand ihr Wagen so in der Parklücke, wie es sich gehörte. Hätte sie mehr Zeit gehabt, wäre das ein Grund gewesen, sich zu freuen. Sie zog noch schnell einen Parkschein und lief dann die Straße hinunter, die in den Konrad-Adenauer-Platz mündete.
Just in dem Moment ließ die Rathausuhr ein paar helle, schöne Glockenschläge erklingen. Ungläubig warf sie einen Blick nach links auf das alte Gemäuer. Dreizehn Uhr. Es war also noch gar nicht so spät, wie Laura gedacht hatte. Alle ihre Zeitmesser mussten falsch gehen, denn auf die Rathausuhr konnte man sich erwiesenermaßen verlassen. Wie die Vergangenheit gezeigt hatte, erklangen die Glocken sogar dann pünktlich, wenn die Zeiger nicht mehr funktionierten und vollkommen absurde Zeiten anzeigten.
Der ganze Stress war also umsonst gewesen. Wäre sie nicht in unnötige Hektik verfallen, hätte sie es vielleicht noch pünktlich schaffen können. Das war typisch für sie. Sie blickte sich um und bemerkte auf einmal all die Leute, die an ihr vorübergingen. Ein paar Tauben flogen dicht über ihren Kopf hinweg. Sie überkam ein Gefühl, als sei sie plötzlich aus einer Hypnose aufgewacht und würde sich mitten in der Stadt wiederfinden, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Wer in Eile ist, wer durch die Welt hastet, blendet das ganze Leben um sich herum aus, dachte sie, der hat nur sein kleines Ziel vor Augen, auf das er zustrebt wie ein abgeschossener Pfeil. Der Glockenschlag hatte sie aus diesem Zustand befreit. Aber gerettet hatte er sie nicht, denn auf eine Auseinandersetzung mit Ursel Kretschmer musste sie sich immer noch seelisch vorbereiten.
Sie zog unwillkürlich einen Schmollmund und schob eine Strähne aus ihrem Gesicht. Scheiß drauf!, dachte sie und ging weiter über den Platz, aber lange nicht so hektisch wie noch vor einem Augenblick. Das kleine Zentrum der Stadt war übersichtlich um den Konrad-Adenauer-Platz herum angeordnet. Für Studenten der Architektur war dies kein uninteressanter Ort. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr Vater ihr das als kleines Kind erklärt hatte. Mit einem einzigen Rundumblick sah man viele verschiedene Baustile. Man konnte auch sagen, dass hier eigentlich nichts so recht zusammenpasste. Aber genau das war es schließlich, was alten, gewachsenen Städten ihren Charme verlieh: Man konnte das Wachstum nachvollziehen und an jeder Ecke gab es etwas anderes zu entdecken.
Das Rathaus zur Linken war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im sogenannten historistischen Stil erbaut worden. Was nichts anderes hieß, als dass man sich bei Baustilen vorhergehender Epochen schamlos bedient hatte. Romanische Ritterburg, Fachwerkhaus oder Stadtvilla aus der Renaissance, alles in einem Haus zusammengewürfelt. Authentisch hingegen war die romanische Kirche gegenüber. Das dominierende Gebäude aber war ein sehr modernes: der ganz in Weinrot gehaltene Bergische Löwe, das Bürgerzentrum mit zahlreichen Veranstaltungssälen. Für Laura gehörte es seit ihrer Kindheit fest zum Stadtbild. Die vielen kleinen Details wie die stilisierten Korbmarkisen über den Fenstern bewahrten der kühlen Moderne einen Rest Wärme. Ganz besonders reizvoll fand Laura, wie die übrig gebliebenen Gebäudeteile des alten Bürgerhauses in den Komplex integriert worden waren; als sei der Neubau ein organisches Wesen, das langsam um den Altbau herum gewachsen war, die Vergangenheit dabei umarmte und festhielt, ohne sie zu erdrücken. Ihre Eltern hatten gegen dieses moderne Ungetüm gewettert. Laura konnte daran nichts Befremdliches entdecken.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes wurde die Fußgängerzone noch ein Stück weit fortgesetzt. Dahinter lag die Stadtbücherei. Ein schmuckloser Betonklotz aus Fertigplatten, wie er vor allem in den Siebzigern für öffentliche Bauten beliebt gewesen war. Freudlos, seelenlos und ohne erkennbaren Gestaltungswillen. Wenn man aber die Bücherei betrat, fand man sich in einer anderen Welt wieder. Hell, freundlich, über mehrere Ebenen übersichtlich gestaltet. Eine Kollegin saß bereits an der Verbuchung und hatte einen Stapel CDs vor sich. Ihre Chefin konnte sie zum Glück nicht entdecken. Sie grüßte Sabine und ließ sich rasch auf einen Stuhl fallen. „Gerade noch geschafft!"
„War der Bus spät dran?", fragte Sabine.
„Ich komme gerade von einer Beerdigung", antwortete Laura.
Sabine war in ihrem Alter, hatte lange, mittelblonde Haare und bevorzugte genau wie Laura eher Kleidung in gedeckteren Farben. „Jemand, der dir nahestand?", erkundigte sie sich.
Laura nickte. „Meine Stiefschwester."
„Oh, das tut mir leid. War das nicht die Schwarzhaarige, die dich neulich hier besucht hat?"
„Ja, sagte Laura und wurde nachdenklich. „Komisch, das hat sie bis zu dem Tag noch nie gemacht. Ein Buch hat sie nicht ausgeliehen, eigentlich hat sie auch nur wenig mit mir geredet, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas sagen wollte. Wenn an diesem Tag bloß nicht so viel zu tun gewesen wäre.
Sabine wirkte aufrichtig bestürzt. „Sie war doch noch so jung! Ein Unfall oder eine schwere Krankheit?"
„So etwas Ähnliches wie ein Unfall. Eine sonderbare Sache. Sie hat in einer Apotheke gearbeitet und sich sehr für Heilkräuter interessiert. Die Polizei nimmt an, dass sie sich versehentlich selbst vergiftet hat. Ein missglücktes Experiment."
In dem Moment ertönte eine Stimme, wie sie Horrorfilmproduzenten nicht schauriger erfinden konnten. Eine Mischung aus quietschender Tür und rostigem Auspuff. Wenn man sich das nicht vorstellen kann, darf man sich glücklich schätzen. „Freut mich, dass Sie auch endlich den Weg aus dem Bett gefunden haben! Ist ja erst Mittag." Ursel Kretschmer, ihre Vorgesetzte, kam aus der Kinderbuchabteilung zurück in den Vorraum. Sie wirkte dabei wie eine Dampfwalze: langsam, aber nicht aufzuhalten. Und sie war wieder einmal gekleidet, dass sich jedes gesunde Auge beleidigt fühlen musste. Zwar war auch Laura Herbst weit davon entfernt, ein Modepüppchen zu sein, aber selbst wenn die Haute Couture die ganze Welt erobern sollte, würde ihre Chefin immer noch auf der Rückseite des Mondes leben. Über einem förstergrünen Faltenrock trug sie eine leuchtend blaue Strickjacke. Beides für sich genommen war kein besonderer Fehlgriff, aber als Ensemble eine echte Augenpeitsche. Um ihren mächtigen Hals spannte sich eine Kette mit großen Plastikperlen. Und außerdem war Ursel Kretschmer bestimmt die letzte Frau ihrer Generation, der entgangen war, dass alle anderen ihre Lockenwickler entsorgt hatten.
„Tschuldigung, sagte Laura kleinlaut. „Der Verkehr. Es sind ja nur drei Minuten.
„Auch drei Minuten zu spät zu kommen ist Diebstahl! Sie betrügen ihren Arbeitgeber um das Geld, das er dafür bezahlt."
„Bestimmt wird es heute Abend sowieso wieder zehn Minuten länger."
„Das hat damit gar nichts zu tun!, meinte Ursel Kretschmer wütend und fuchtelte erregt mit ihrer fleischigen Pranke in der Luft herum. „Wer hier Bücher ausleiht, ist ein ganz normaler Kunde, der ein Recht darauf hat, dass wir pünktlich öffnen! Kapiert ihr jungen Dinger das nicht? Habt ihr nur noch Partys und schicke Schuhe im Kopf? Wo bleibt das Pflichtgefühl?
„Meistens bin ich doch früher hier und bleibe oft länger. Es gibt doch keinen Grund, sich aufzuregen", verteidigte sich Laura.
„Meistens?", äffte Kretschmer sie nach. „Wir müssen jeden Tag pünktlich öffnen. Ich bin in dreißig Jahren nicht einen einzigen Tag zu spät erschienen."
Ein paar junge Kerle kamen hereingeschlendert. Ursel Kretschmer betrachtete ausgiebig deren auffällige Kleidung. Die Hosenbünde hingen unterhalb der Hintern, sodass die bunten Unterhosen hervorlugten, die weiten Jacken drohten fast von den Schultern zu rutschen. Ihr seltsam schwingender Gang nahm viel Raum in Anspruch.
„Die können mit Sicherheit nicht lesen, sagte Kretschmer und zog angewidert die Oberlippe hoch. „Die leihen sich bloß Gewaltfilme aus. Ich verstehe diese jungen Leute nicht. Wie wollen die jemals einen Arbeitsplatz finden? Wer stellt schon jemanden ein, der so zum Vorstellungsgespräch erscheint?
„Ja, da haben Sie wohl recht, sagte Laura. „Die Jugend von heute ist vollkommen missraten. Faul, ungebildet und nur noch an billigem Vergnügen interessiert, und die geckenhafte Kleidung ziert jeden Affen.
Bei den letzten Worten musterte sie hinter Kretschmers Rücken bewusst auffällig den grünen Rock und die grelle, blaue Strickjacke. Sabine wäre fast in lautes Lachen ausgebrochen. Sie drehte sich rasch um, hielt sich eine Hand vor den Mund und kniff sich mit der anderen in den Oberschenkel. Dennoch kamen ein paar sonderbar glucksende Geräusche aus ihrem Mund heraus.
Laura dachte an Nadine und ihre schwarz gekleideten Freunde. Es war gerade einmal eine Stunde her, dass sie eine ganz ähnliche Rede über junge Leute gehört hatte. Pfarrer Brinkmann und Frau Kretschmer würden sich bestimmt auf Anhieb gut verstehen.
„Zu meiner Zeit hätten wir uns in Grund und Boden geschämt, wenn wir so albern gekleidet über die Straße gelaufen wären!", behauptete die Kretschmer.
Laura verdrehte die Augen. „Wie heißt es doch in der Literatur? Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, es gibt zuletzt doch noch ’nen Wein. Man sieht, die Jugend hat sich zu allen Zeiten sonderbar verhalten, und zumindest Goethe scheint das Phänomen etwas gelassener gesehen zu haben, aber Goethe war ja auch ein großer Geist."
Kretschmer bedachte sie mit einem Blick, der nicht zu deuten war. „Da vorne ist ein Stapel