Rote Lackn: Roman
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Buchvorschau
Rote Lackn - Brita Steinwendtner
Jahrhunderte.
I
Ich war ein Kind, das nicht in der Roten Lackn spielte. Ich war ein Kind, das Angst hatte.
Noch bevor ich den Schulweg ging durch die Wiesen am Teich, hörte ich die Erzählungen aus der Zeit der Bauernkriege, der Konfessionskriege, der Eroberungskriege, der Vernichtungskriege, der Rassenkriege. Der Kriege. Da drüben hat man sie gehängt, die Rädelsführer, auf dem Hügel über der Roten Lackn.
Da hingen sie.
Da hängen sie.
Da schnitt eine junge Frau ihren Liebsten vom Seil und stach ihrem Kind das Messer ins Herz und stach es in ihr eigenes. Und über Nacht war der Teich rot.
Die Wege queren die Hänge. An der Nordseite, wo der Schnee lange liegt. An der Südseite, wo die reicheren Höfe stehn. Gewundene Wege über die Hänge hin, hinaus, hinab, den grünen Fluß entlang, der sich aus den Karsthöhlen des Gebirgsstockes speist.
Weg durch Gehöfte, durch Dörfer, Märkte, durch die Stadt. Weg durch Wälder, Wiesen, Felder, vorbei am Narrenturm, entlang der Schienen, der getriebenen Rä-der, der Kanäle, der Schmieden, der Fabriken. Weg der Menschen, der Erinnerungen, die erwachen, wenn man sie totsagt.
Weg der großen Geschichte und der kleinen Geschichten. Weg durch eine Talschaft.
Lose in die größeren Streuhöfe eingebunden, stehen sie oft ein wenig abseits, die meist nur zwei- oder dreizimmrigen Häuser mit den kleinen Fenstern. Sie sind den Alten zugedacht, wenn der Hof an die Jungen übergeben ist. „Austraghäusl" nennt man sie im Tal der Roten Lackn.
Aus-tragen, etwas zu Ende und fertig. Die gichtigen Glieder, die gekrümmten Rücken, das Kommen und Gehen, die Zeit, die zerreißt wie der Faden der immer dünner werdenden Tage. Austragen das Lied und das Leid eines Lebens.
Ein Koffer stand in unserem Austraghäusl über dem roten Wasser. Rauhleder, abgegriffen. Nicht groß. Ich ließ ihn in seiner Ecke. Ich mied ihn. Ich vergaß ihn. Einmal, viel später, irgendwann, stand das vergessene Bild vor mir: der Tränenblick meiner Mutter, als sie das Köfferchen zwischen zwei alten Matratzen im Mansardeneck versteckte.
Schatten berühren die Mitte der Erde.
Die Türklinke aus Holz ist eckig.
Von draußen der ferne Strahlton des Brunnens.
Verlorene oder erdachte Fährten.
Es kam, wie es war bei vielen. Die Briefe meines Vaters. Eines Vaters. Gefallen in den Nebeln eines Novembers im großen Krieg. Im Glauben an ein Feld der Ehre, an einen Gott, einen Führer, einen Sieg. Die Briefe eines Toten und derjenigen, die ihn liebte. Eine Geschichte, die oft geschrieben wurde. Es ist nicht diese Geschichte. Aber der Satz einer jungen Frau. Im letzten Brief, der ungeöffnet zurückkam ins Austraghäusl an der Roten Lackn. Mit dem roten Stempel Gefallen für das Vaterland. Der Satz:
... wann ist es endlich genug?
Sie starb nicht am Messer, aber still nach Jahren, ließ zwei Kinder als Waisen.
Ja, es ist Frieden, schon lange.
Und ich gehe unbehelligt die Wege entlang an den Hängen der Talschaft, kehre da ein und dort, im Jetzt und im Damals, und die Tage sind wie alle.
Das Rot sickert sanft durch das Leben.
Nichts ist so still wie die Stille am Hof zu Mittag. Die Sonne steht hoch, unter ihrer Hitze ist gut schlafen. Die frische Mahd vom Morgen wird dürr und leicht und verströmt im Sterben ihren Duft. Der Mostkrug unter dem Birnbaum leer, ein Heuschreck schützt sich in seinem Schatten. Der Hund döst auf dem kalten Stein, im Stall das Dunkel und das vereinzelte Schnaufen der Rinder zwischen Wiederkäuen und Rast. Kein Ruf nach den Kindern, kein Klappern von Geschirr, die Sensen sind gedengelt. Das Wasser des Brunnens fließt leiser, der Strahl zersprüht in den Farben des Regenbogens.
Zwischen Schlaf und Wachen liege ich in der Mansarde, sehe das Spiel der Sonnenringe auf den rotkarierten Vorhängen. Die Rosse schrecken mich auf: Wenn sie vom Grasweg auf die steinige Straße kommen, hört man sie von weitem. Der Leiterwagen ächzt, das Kummet klirrt. Der dicke Schatthof-Nachbar-Franzl, schwarz das Haar, dunkel die Haut, sitzt auf dem Bock, hebt mich zu sich, beim Brunnen bleibt er stehen. Schön sind die zwei mächtigen, leeren Fässer auf dem Wagen, außen rauh und grau schattiert, innen glatt und rehbraun glänzend.
So, kein Wasser, sagt der alte Luger-Bauer, als er endlich kommt. Franzls Stimme ist dünn und hoch, seinen Rücken macht er krumm, fast rutscht er aus auf einem Hühnerdreck. Neun Wochen kein Regen, kein einziger Tropfen, die Quelle ist still, die Zisterne leer, die Rote Lackn fast trocken. Nur die zwei Fässer voll, der Vater tät’ schön bitten...
So, sagt der hager-große Luger, dem das steife Bein nichts von seinem Stolz zerschlagen hat, kein Wasser also bei euch. Und bevor er zurückgeht ins Haus, wirft er dem Buben ein paar Worte hin. Der wird immer kleiner, als müßte er sich bücken danach.
Der Schatthof-Nachbar-Franzl, dessen Großeltern erst, wie ich später erfahre, aus dem Süden, aus dem Windischen, in dieses nördliche Tal von Blonden gezogen sind, füllt die Fässer mit frischem Brunnenwasser, schaut mich nicht mehr an, steigt auf den Wagen, schlägt die Zügel auf die schweißnassen Rücken der schweren Norikerpferde.
Der Weg zum Schatthof steigt vom Luger, der selbst schon hoch über dem Dorf liegt, noch einmal an. Er zieht sich durch die Waldschlucht, hinauf zum Farnriedl, dann erst kommen die steilen, zum Teil sumpfigen Wiesen des Hofes. Der Neuschnee macht sie sanfter. Ich stapfe in den Spuren meiner Mutter, den kleinen Nachkriegs-Hamster-rucksack unter dem Wetterfleck. Wir haben keine Schatten. Um diese Zeit kommt keine Sonne über den Berg, nur ein blausilberner Schimmer liegt über den Kristallen. Manchmal blitzt einer auf im Widerschein von etwas anderem. Wie geborgtes Licht über dem Gehöft. Das Wohnhaus in die Mulde geduckt, Stall und Tenne ein Stück entfernt im Geraden. Zu Mariä Lichtmeß erst ein heller Streifen über den Dachgiebel hin, dann über den Holunderbusch im Vorgarten und wieder ein paar Tage später am Stubenfenster vorbei.
Die Worte gehen seltener um diese Zeit von einem zum andern, die Hände sind müder, die Milchkannen schwerer, die Gedanken haben sich eingenistet in den Schattenfugen. Die Zeiger der Zeit drehen woanders ihre Kreise. Drüben, auf der Sonnseite vielleicht, oder droben, wo der Habicht pfeift, langgezogen, doppelt hörbar in der Kälte.
Da bleibt was frei für das Brotbacken. Da gibt es einen Laib für uns. Am Schatthof haben sie nicht viel, aber sie geben gern. Das ganze Haus im Duft von Sauerteig. Eine junge Frau mit ihrem Buben ist zu Besuch. ’s Marieli wird sie von ihrer Mutter genannt, der Sennerin Franziska, einer Verwandten des Schatthofbauern. Schön und dunkel ist sie. Im Gewölbe des Vorhauses steht der Holztrog mit dem Teig. Kinderhände im Weichen, Warmen. Kneten und Quatschen zwischen den Fingern, Fäden ziehen bis zum Riß. Abklopfen die Rundung der geformten Masse. Bestreichen mit Wasser. Dann warten. „Gehen lassen".
’s Marieli singt mit uns Lieder in der Stube. Traurig ist ihre Stimme und traurig die meiner Mutter. Und Polenland ist abgebrannt, aber eigentlich ist das bei uns, nur die Gräber sind weit, weit weg. Im Novemberschlamm des Ostens liegt das meines Vaters. Aber ein Birkenwäldchen muß drüber stehn, sonst kann ich es mir nicht vorstellen. Und die Blätter werden gelb und fallen.
Formen der Laibe. Und wieder gehen lassen und wieder warten. Wohin und wie lange? Ins Größere und auf andere Zeit? Schwere Buchenscheiter in den Backofen, Hitze, Rot und Marielis heiße Hände, als sie meine Zöpfe zurückstreicht. Langer Schuber, glatt der Stiel, dünn das Eisen, von dem die Laibe auf den engen Rost über der Glut rutschen.
Der Laib wärmt meinen Rücken durch den Rucksack