FLEUR JAEGGY
Ich bin der Bruder von XX
Übersetzt von Barbara Schaden
Düsternis herrscht im Erzählband von Fleur Jaeggy. Die Figuren der italienischsprachigen Schweizerin stehen im Nirgendwo und unter magmatischem Druck. Manche betäuben ihren Schmerz, andere wählen den Freitod. Oder der Jammer entlädt sich in blankem Grauen: „Meine Mama hat dich nicht gemocht“, sagt der trauernde Sohn zu seiner Frau, sperrt sie in den Vogelkäfig und zwingt sie zu einem perversen Götzendienst. „Ist dir warm, Madame?“, fragt das Waisenkind seine Wohltäterin und berauscht sich am Flammentod der edelmütigen Dame. Die Autorin leuchtet Abgründe aus, als Gestalterin profaner Höllen und als sensible Betrachterin von Porträts. Verspürt der ins Leere blickende Edelmann den Wunsch, für immer zu gehen? Lodert hinter den Augen der Mystikerin nicht sündiges Begehren? Und das Foto von Jaeggys Mutter bei der Papstaudienz: Warum dieser traurige Blick? Fleur Jaeggy verhandelt Fragen von Sein, Schicksal und Schuld: schonungslos klar und feinfühlig. Fiktion und Autobiografie wechseln einander ab, manchmal verlaufen die Grenzen fließend. Streiflichter fallen auch auf enge Freunde: Ingeborg Bachmann, Oliver Sacks und Joseph Brodsky, für den jeder Ort ein „Negde“ war, ein Nirgendwo. (wal)
Bodenlos schaurig und hochpoetisch: Diese Prosa hat die Sogwirkung eines Malstroms.
SUHRKAMP, 114 Seiten, 22 Euro
MIRANDA JULY
Auf allen Vieren
Übersetzt von Stefanie Jacobs
Es gibt im Leben „die Einparker“ und „die Fahrer“ – gereizt von dieser Party-Theorie ihres Mannes beschließt die 45-jährige Ich-Erzählerin kurzerhand für ihre anstehende Reise von L. A. nach New York auf das Auto umzusatteln. Und wird innerhalb kürzester Zeit zur Geisterfahrerin – denn bereits an der ersten Autobahnabfahrt nimmt sie sich nach einem sexy Augenkontakt mit einem jungen Typen wie ferngesteuert ein Motelzimmer. Was nun folgt, ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Sie hat eine zutiefst triebgesteuerte Affäre, aber ohne Sex. Sie bleibt in dem abgeranzten Motelzimmer, aber lässt es zu einer Luxus-Suite umgestalten. Randvoll mit Liebeskummer kehrt sie nach Hause zurück und schmiedet einen verrückten Plan. Miranda July gelingt etwas sehr Seltenes mit diesem Roman über eine weibliche Midlife-Crisis: Sie überrascht, sie berührt, sie verführt. Denn sie zieht wirklich blank, nimmt uns mit in abgründige Selbstzweifel-Orgien und lustvolle Selbstbefriedigungsfantasien. Sie schreibt großartig über Sex und Lust, transformiert ihre kopfgesteuerte Heldin hin zu animalischen Instinkten. Doch weil er nicht kommt, kommt letztlich