Frau Raabe, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben Sie im Berliner Maxim Gorki Theater eine Lesung mitorganisiert, bei der Texte ukrainischer, russischer und belarussischer AutorInnen gelesen wurden. In Ihrer Einleitung sagten Sie damals den Satz, in der russischen Bevölkerung hätten sich nicht nur die Hirne, sondern auch die Herzen verhärtet. Eine bittere Aussage. Welche persönlichen Erfahrungen stehen dahinter?
Die persönliche Erfahrung, dass sich viele Bekannte und Freundinnen in Russland zunehmend bedroht fühlen. Sie werden angegriffen für das, was sie sagen und schreiben. Das hat sich seit Beginn des Krieges entsetzlich verschärft. Ein Beispiel: Eine unserer Autorinnen lebt in einer Provinzstadt östlich von Moskau. Auf einem Spielplatz hörte sie, wie eine ältere Frau in Gegenwart zweier kleiner Kinder eine verächtliche Bemerkung über die Riege im Kreml machte. Darauf wurde sie von dem Älteren der beiden in strengem Ton zurechtgewiesen. Konformismus, Misstrauen gegen abweichende Meinungen und antiwestliches Ressentiment – das wird den Kindern schon in der Schule eingeimpft. Ich