Geschrieben am 18. November 2004 von für Litmag, Porträts / Interviews

Claudio Magris im Porträt

© Peter-Andreas Hassiepen

Arche Noah aus Papier

Über den italienischen Intellektuellen und Schriftsteller Claudio Magris, ‚Brückenbauer‘ zwischen der deutschsprachigen und der italienischen Kultur und Literatur.

Wer sich mit dem Werk von Claudio Magris beschäftigen will, nähert sich ihm nicht über seine Kommentare zum Zeitgeschehen, auch nicht über die Literatur, ja nicht einmal über sein Lebensthema die ‚Habsburger Literatur‘. Man nähere sich ihm stattdessen vom Meer und den Flüssen her, auf jedem Fall vom Wasser. Seine „Éducation sentimental“, die sich dann in seinem gesamten Werk widerspiegelt, ist durch und durch vom Wasser, den Flüssen, dem Meer geprägt. Sein Werk sei, so schreibt die italienische Literaturwissenschaftlerin Ernestina Pellegrini in ihrer großen Abhandlung über den Schriftsteller Claudio Magris, eine einzige „Epik des Wassers“. Und auch Magris selbst widerspricht dieser Interpretation nicht.
„Dem Wasser“ verdanken viele meiner Bücher tatsächlich ihre Entstehung. Die Idee für „Donau“ wäre nicht entstanden ohne jenen Nachmittag im September 1982 zwischen Wien und Bratislava wo das Glitzern des Wassers in das Gras der Donauauen übergeht. „Das andere Meer“ wäre nicht entstanden ohne den Abend, an dem ich in das alte seit Jahrzehnten geschlossene Haus trat, in dem für viele Jahre mein Protagonist gelebt hatte, dessen Spuren zu rekonstruieren mein Ziel war. Während ich seinen alten Koffer öffnete, hörte ich genauso wie einst er in diesem, in einem Wald unweit des Meeres gelegenen Haus das Rauschen des Windes und der Wellen. Die Erzählung „Il Conde“ wäre nicht entstanden ohne ein Herumreisen in Portugal im Umkreis der Mündung des Douro.“

Ein Flaneur durch die europäische Kultur

Und diese Interessen und Leidenschaften für das Fließen, Verfließen und Verzweigen, für die Lagunen, das Delta, das Meer und die Unendlichkeit des Horizonts macht es auch schwer, den 1939 in Triest geborenen und dort auch heute noch lebenden Schriftsteller, Germanisten und Publizisten Claudio Magris zu porträtieren. Es gibt da keine klaren Grenzen, keine eingefassten Ufer, keine Staumauern, allenfalls Schleusen. Er ist ein international renommierter Germanist, der als Wissenschaftler verführerisch poetisch zu schreiben versteht und ein Schriftsteller, der sein profundes akademisches Wissen fein in das literarische Schreiben hineinwebt. Ein leidenschaftlicher Liebhaber alles Fließenden, des Meeres und der Flüsse, dessen Schreiben aber gleichzeitig fest in der urbanen Kultur Mitteleuropas wurzelt, in Turin, Prag, Budapest, Wien. Ein leidenschaftlich Reisender und passionierter Flaneur durch die europäische Kultur, dessen Anker aber unübersehbar in seiner Heimatstadt Triest liegen. Ein Stammgast im triestiner Cafè „San Marco“ in der Via Cesare Battisti mit einer großen Sehnsucht zu den Piemonteser Hügeln, die er in seiner Studienzeit in Turin so sehr geliebt hat. Ein unentwegter Entdecker verschollener oder neuerer Literatur Mitteleuropas, der aber immer wieder auf wenige Portalfiguren der literarischen Moderne zurückkommt: auf Italo Svevo, Joseph Roth, Jorge Luis Borges, Franz Kafka, Robert Musil, Isaak Singer. Ein Intellektueller, der Manes Sperber, einen der unbestechlichsten Zeugen wider die Verbrechen des Kommunismus zu seinen engsten Freunden zählte, aber der sich weigert, den Siegesfeuern für gewonnene Schlachten gegen den Kommunismus auch noch den intellektuellen Brennstoff zu liefern. Er hat in den schmerzhaften Zeiten der jüngsten Kriege auf dem Balkan die Aggressionen des Milosevic-Regimes öffentlich verurteilt, aber keinen Moment die Solidarität mit befreundeten serbischen Schriftstellern unterbrochen. Claudio Magris verdanken italienische wie deutschsprachige Leser viel an Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit zwischen ihren jeweiligen Literaturen und Kulturen. Uns hat er Umberto Saba und Ippolito Nievo nahegebracht, den Italienern Roth und Canetti. Grenzen sind lebenswichtig, aber nicht als Abschottung gegenüber der Welt. Deshalb vielleicht auch seine Liebe zum Fließen. Flüsse münden schließlich immer in das grenzenlose Meer.

Habsburger Mythos

Der Anfang seines Schreibens liegt aber auf dem Festland, in den Tiefen des alten Habsburger Reiches. Mit seiner 1966 erschienen (und vom Münchener Hanser-Verlag vor einigen Jahren neu aufgelegten) Studie über den „Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur“ wurde der damals gerade 24jährige Magris mit einem Schlage als einer der ausgewiesensten Kenner der „Habsburger Literatur“ bekannt. Alles an diesem Buch ist von gestern: über dem „Habsburger Reich“ liegen längst dicke Spinnweben in den Abstellkammern der europäischen Geschichte. Ob es einen „Habsburger Mythos“ je gab oder sogar noch gibt, bewegt allenfalls noch von der Zeit längst ins Abseits gedrängte kleine Zirkel von alternden Politikern und Intellektuellen. Und die in dem Buch erwähnten Autoren der modernen österreichischen Literatur reichen bis Heimito von Doderer, einem gewiss bedeutenden, aber doch nicht ernsthaft als modern zu bezeichnenden Schriftsteller. In dem einleitenden Kapitel begründet Magris, wo er die Aktualität dieser scheinbar so verstaubten Studie sieht:
„Ich glaube, dass mir der Parameter einer – freilich zerbrochenen – Totalität, den ich mit dem Habsburgischen Mythos gewonnen habe, auch erlaubt hat, das Zerbrechen jeder Totalität besser zu beobachten – und ihre Relikte, die wir sind.“
Zerbrochene Totalität und Entzauberung, die beiden alle kulturkritischen Essays von Claudio Magris durchziehenden Schlüsselthemen, sind auch die Portalthemen fast aller in der sogenannten Habsburger Zeit entstandenen bedeutenden literarischen Werke. Ob bei Joseph Roth oder Franz Werfel, Hugo von Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler, bei Stefan Zweig oder Robert Musil immer wieder stoßen wir auf jenes genaue Sezieren des Untergangs, eines Reiches ebenso wie einer Familie oder auch, wie zum Beispiel in Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“, eines einzelnen Menschen. Die Literatur dieser Zeit, so die These von Magris, lebte und zehrte von der Erinnerung oder der Verteidigung eines ‚Mythos‘, eben des Mythos von einer einstmals intakten, heilen, Schutz gewährenden „Habsburger Kultur“. In der Literatur der Habsburger Jahre findet Magris einen hochempfindlichen Seismographen der erschöpften europäischen Agonie in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts. „Orientierungslos in der neuen, chaotischen Welt“, die aus den Trümmern des Jahres 1918 hervorgegangen war, klammerten sich die österreichischen Intellektuellen an jene idealisierende und verzaubernde habsburgische Tradition und nahmen damit die entfremdende Mythisierung der historischen Wirklichkeit, die das ganze Zeitalter Franz Josephs gekennzeichnet hatte an oder zumindest auf sich.“

Weit von wo?

Vergisst man einmal alle heute längst Geschichte gewordenen Bezüge zu der Habsburger Zeit, dann kommt man auch schnell zu aktuellen Assoziationen nach dem Zerfall des ‚realsozialistischen Blockes‘ mit seinen aufwühlenden Folgen nicht nur für den Osten Europas. Und brechen zum Beispiel mit der Durchsetzung radikal neuer globaler Kommunikationssysteme oder den Möglichkeiten der Gen-Technologie heute nicht auch noch andere Weltbilder zusammen, die uns jahrzehntelang zur Orientierung in den, um Thomas Mann zu zitieren, „Tumulten unserer Zeit“ dienten? Nur wessen Weltbild alle tiefen Geschichtsumbrüche, politischen und technischen Revolutionen seit dem Ende des XX. Jahrhunderts ohne jeden Riss überstanden hat, wird unter dem scheinbaren Staub der frühen Studie von Claudio Magris den aktuellen Bezug nicht entdecken können. In der Folgestudie „Weit von wo“ – 1974 in einer miserablen Übersetzung erschienen und seitdem nicht wieder aufgelegt, untersuchte er die literarische Tradition „der verlorenen Welt des Ostjudentums“, so der Untertitel, vornehmlich am Beispiel des Werkes von Joseph Roth.Noch in den Grenzen der alten K.u.K. Monarchie, aber bereits auf italienischem Boden, ist die 1986 erschienene erste kleinere literarische Arbeit von Claudio Magris „Mutmaßungen über einen Säbel“ angesiedelt, in der er von den letzten Tagen einer mit den Nazis kollaborierenden Kosakenarmee im Karstgebirge des Friaul erzählt. Es ist ein in die Form eines langen Briefes gekleidete sehr real erscheinende Geschichte, von der man aber nicht genau weiß, ob sie nicht doch nur eine Legende ist, die in den Karnischen Bergen als ein Gerücht von Generation zu Generation weitergereicht wird. Wirklichkeit und Fiktion, Geschichte und Erzählung fließen hier bis zur Ununterscheidbarkeit zusammen.

Verteidigung des Marginalen

1987 kehrte Magris dann wieder zur wissenschaftlichen Essayistik zurück. Es erschien die deutsche Übersetzung des großen, zusammen mit dem Historiker Angelo Ara verfassten, Essays über „Triest – Eine literarische Hauptstadt Mitteleuropas“ . Wie unter einem Brennglas kann man hier am Beispiel der Stadt Triest entdecken, wie reich die Kultur in der Mitte Europas einmal war und wie zerbrochen sie heute ist – oder auch nur scheint, wie Magris vielleicht vorsichtiger sagen würde. Die Scherben sind nicht verschwunden, sondern überall in Triest, einer Stadt an der Grenze von Zeit und Raum, noch auffindbar. Man muß nur sehr genau hinschauen, um diese Partikel der Vergangenheit unter der heute auch alle Städte Italiens einhüllenden Kommerzialiserung und Standardisierung zu entdecken. Triest ist für Magris nichts mehr als eine Chiffre für die mitteleuropäische Kultur, in der die „Verteidigung des Marginalen und Peripherischen, des Vergänglichen, Schwachen und Unbedeutenden gegen die anmaßenden großen Synthesen und ihre Opferung des Individuellen im Namen irgendeines Allgemeinen eine der vornehmsten Aufgaben ist.“

Von der Quelle bis zur Mündung

Fortgesetzt hat Claudio Magris seine Suche nach Spuren des vergangenen Mitteleuropas dann in der Literatur mit seiner großen Reisereflexion „Donau. Biographie eines Flusses“ (1988). Dieses ruhig dahin fließende Buch, in dem Magris Tagebuchnotizen, literarische wie philosophische Reflexionen, Landschaftsskizzen und kleine Prosa zu „Fragmens d’un voyage sentimental“ (Boudon de Saint-Amans) zusammengewoben hat, ist international zu einem Bestseller mit erstaunlich hohen Auflagen auch in Donau-fernen Ländern geworden. Von Jean Paul gibt es den Rat, man solle auf seinen Reisen „Bilder, alte Vorworte, Theaterzettel, Gespräche auf der Poststation, Gedichte und Auseinandersetzungen, Grabinschriften, Zeitungsausschnitte, Anschläge in Gasthäusern und Pfarrämtern sammeln und aufschreiben“.
Magris hat sich diese Aufforderung für seine Reise entlang der Donau zu Herzen genommen. Seine Aufzeichnungen beginnen an der Donauquelle bei Donaueschingen und enden im rumänischen Donaudelta, das sich in das Schwarze Meer verzweigt. Magris führt die Leser entlang der Donau mit einem bewunderungswürdigen Detailwissen vornehmlich um die Kultur- und Literaturgeschichte der einzelnen Stationen (Ulm, Regensburg, Passau, Wien, Budapest, Belgrad und viele andere, weniger bekannte Orte). Kundig, geistreich und belesen läßt Magris hier Ereignisse und Gestalten in Berichten, Anekdoten, Kommentaren und Reflexionen lebendig werden, sinnt historischen Reminiszenzen nach, gibt sich Impressionen hin. Sein Vorbild ist mehr der Flaneur und Spaziergänger als der Massentourist mit einem präzisen Reiseplan in der Tasche und einem Video-Gerät vor dem Bauch. Man achtet nach der Lektüre mehr auf die vergessenen Details am Rande, die „Anschläge in Pfarrhäusern“ und verwitternden Grabinschriften.

„Corriere della Sera“

Begleitend zu diesen umfangreichen literarischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten, schreibt Magris seit Jahrzehnten schon mit großer Kontinuität auf der Prima Pagina, der ersten Seite der angesehenen Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“ seine Kommentare zu Phänomen der Zeit jenseits oder unterhalb aktueller politischer Ereignisse. Dass ein so sehr in der alt-europäischen Tradition stehender Intellektueller wie Claudio Magris in Distanz steht zu einem lediglich im Kapitalismus heimischen Silvio Berlusconi, versteht sich von selbst. Aber wenn die üblichen Kommentare politischer Journalisten die Oberfläche der Tagesaktualität selten verlassen, zieht Magris immer größere Bögen, hinein in die europäische Geschichte, vornehmlich aber in die Literaturgeschichte. Dass einem das Wissen um die Romane etwa von Franz Kafka, Joseph Roth oder auch von Alessandro Manzoni und Italo Svevo hilft, eine Orientierung in aktuellen Konflikten zu finden, kann man aus den Kommentaren von Magris im „Corriere della Sera“ lernen. Neben Umberto Eco gehört Claudio Magris mit seinen ‚Interventi‘ sicherlich zu den derzeit einflußreichsten intellektuellen Kommentatoren Italiens. In dem bei Hanser erschienenen Band „Utopie und Entzauberung“ (2002) ist eine kleine Auswahl aus den unzähligen Zeitungskommentaren von Magris nachzulesen.Längere Porträts von Svevo, von Hofmannsthal, Robert Walser und anderen sind unter dem von Nietzsche entlehnten Titel „Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur“ auch in deutscher Übersetzung erschienen (1987). Man zögert, dieses Buch nur als einen bloßen Sammelband von Einzelporträts zu klassifizieren. Alle Beiträge verknüpft Magris durch ein im Einleitungs- und im Schlußkapitel ausführlich entwickeltes Bündel von Thesen zur modernen Literatur. „Das Leben wohnt nicht mehr im Ganzen“, zitiert Magris hier in der ersten Zeile des Buches Friedrich Nietzsche und jeder der folgenden Essays bezieht sich direkt auf dieses Schlüsselmotto. Magris sieht in der modernen Literatur keinen Platz mehr für großes episches Schreiben und die stilvolle Beschwörung von Zusammenhang und Totalität.
„Literatur bietet die Möglichkeit, sich vor den Unbilden der Gegenwart zu schützen, indem man sich in die weiten Gefilde der verstrichenen Zeit und des schon gelebten Lebens zurückzieht, ins Erzählen, das heißt in die Erinnerung und das Abbild, in die Sicherheit des Unwirtlichen, wo die Hiebe keine Striemen mehr zurücklassen.“

Das Leben ist anderswo

Der endgültige Durchbruch als Prosaschriftsteller gelang Magris dann 1992 mit der Erzählung „Ein anderes Meer“. Sie lebt von dem Atem zwischen den Zeilen, von den stillen Winkeln eines unscheinbaren Lebens im Schatten der lärmenden Geschichte, von der Suche nach Sinn in einer sinnerschütterten Welt. Ein anderes Meer ist eine ganz und gar unmodische, schwermütig und gedankenverloren dahinfließende Erzählung über die Suche nach dem Leben, das es nicht gibt. Hineingewoben in diese Erzählung ist die Utopie einer Freundschaft, in der das Denken des einen das Leben des anderen verändert und der Eine in dem Anderen „die Zeit wiederfindet, die seine war“ wie es in einem Gedicht von Umberto Saba heißt.

Grenzgänger

Als Triester Schriftsteller seit den Tagen der frühen Kindheit vertraut mit Grenzen, Grenzkonflikten, Grenzgängern und Grenzverträgen, fragt Magris in seinen, dem Anderen Meer folgenden, „Grenzbetrachtungen“ sich und die Leser, was ‚die Grenze‘ bedeutet. „Die Grenze ist etwas Zwiefaches und Doppelseitiges: bisweilen ist sie eine Brücke, um dem anderen entgegenzugehen, bisweilen eine Schranke, um ihn zurückzustoßen. Oft entspringt sie dem Wahn, jemanden oder etwas auf die andere Seite verweisen zu wollen.“
Nur dreißig Seiten umfasst dieses schmale Bändchen und doch sind auf jeder Seite, ja fast in jedem Satz kleine intellektuelle Quellen verborgen, die den gegenwärtigen Verständigungen über das Fremde und das Vertraute, über das Öffnen und Schließen von Grenzen, über das Fliehen und Standhalten neues Quellwasser zuleiten. Gegenüber vielen schrecklich angestrengt wirkenden, akademisch ausgetrockneten oder polemisch zugespitzten Abhandlungen über ‚das Eigene‘ und ‚das Fremde‘ kommen die Reflexionen von Claudio Magris hier leicht und trotzdem tiefsinnig, klug, aber nicht belehrend daher. Was wir in dieser Zeit der kalten Egoismen und tumben Provinzialismen, der Nostalgie für Scheuklappen aller Art und der Renaissance ideologischer Festungen benötigen, sind Grenzgänger wie Magris, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, die bewusst Grenzverstöße begehen. Schmuggler, die geistige Konterbande zwischen Ländern und Feindeslinien hin und her schaffen. Partisanen, die uns von dem Leben und Denken jenseits der Grenzen berichten. Geschichtenerzähler, die altmodisch an das Vergessene erinnern, wenn der Gedächtnisverlust zu einer neuen Mode erklärt wird. Freibeuter, die von untergehenden Tankern der diversen Weltanschauungen wenigstens deren noch gut erhaltene Takelage an Versprechungen und Hoffnungen für die Nachkommen retten.

Utopie und Entzauberung

Von vier Menschen erzählt Magris an anderer Stelle („Vier seltsame Leben“, 1995), denen nirgendwo ein Denkmal oder eine literarische Würdigung zugeeignet worden ist. Bizarre Randfiguren der Geschichte, die, besessen von außergewöhnlichen Ideen, auch „in diesem Jahrhundert anwesend waren“ (Musil), ohne dass von ihrer Existenz jemand eine besondere Notiz genommen hat: von einem Anfang des Jahrhunderts nach Argentinien ausgewanderten Slowenen erzählt Magris, der in der Fremde zu einem Indianer-Experten wird. Oder von jenem Diego de Henriquez, der in Triest ein Museum für Militaria gründete, um damit gegen den Krieg zu mobilisieren. Merkwürdige, bizarre Figuren sind das allesamt, die Magris uns hier – nicht ohne Hintergedanken – vorstellt: „Die Realität erfindet ihre – komischen und unheilvollen – nostalgischen Geschichten, und uns Epigonen bleibt nichts anderes übrig, als sie aufzuschreiben und zu wiederholen, sie von Mund zu Mund weiterzugeben, um herauszufinden, ob darin auch von uns die Rede ist.“
Das Leben dieser Außenseiter und Vergessenen der Geschichte ist oft randvoll mit dem Stoff, der dann dem in Italien hoch gepriesenen und mehrfach prämierten Buch „Microcosmi“ (auf Deutsch „Die Welt en gros und en détail“) diese verzaubernde heiter-melancholische Farbe gegeben hat. Hier spüren wir wieder diesen von der „Donau“ her bekannten und von seiner Übersetzerin Ragni Maria Gschwend auch kongenial getroffenen ganz eigenen Tonfall aller neuen Arbeiten von Magris: niemals laut, niemals von schneidender Polemik, immer leise, mit feiner Ironie, aber dabei dem Abseitigen und den Randfiguren der Geschichte ihre Würde belassend. In seiner Rede aus Anlass der Eröffnung der Salzburger Festspiele über „Utopie und Entzauberung“ sagte Magris u.a.: „Der Strom der Geschichte schwemmt die kleinen Geschichten der Individuen fort und läßt sie untergehen, die Woge des Vergessens löscht sie aus dem Gedächtnis der Welt. Schreiben bedeutet unter anderem auch am Ufer entlanggehen, stromaufwärts fahren, schiffbrüchige Existenzen auffischen und Strandgut wiederauffinden, das sich an den Ufern verfangen hat, um es zeitweilig auf einer Arche Noah aus Papier unterzubringen.“

Und eine große Arche Noah ist auch „Die Welt en gros und en détail“. Magris erzählt hier von Orten und Menschen, die abseits der großen Touristenströme und allgemeinen Aufmerksamkeiten liegen. Mit sehr viel Liebe für das Detail einer Landschaft oder eines Raumes und für die kleinen Kauzigkeiten der Menschen schildert Magris zum Beispiel die Welt des Caféhauses „San Marco“ in Triest. Oder er reist in das Tal, aus dem seine Vorfahren stammen und porträtiert dort die heute Lebenden. Die Lagune von Grado, die Hügellandschaft im Hinterland von Turin, ein Dorf in Südtirol, ein Wald in Slowenien oder der Stadtgarten von Triest sind weitere Stationen der erzählerisch-meditativen Reise des Autors. „Reisen ist auch ein vergeblicher Kleinkrieg gegen das Vergessen, ein Marschieren in der Nachhut; stehenbleiben und die Gestalt eines zerfallenen, aber noch nicht ganz ausgelöschten Baumstammes betrachten, das Profil einer Düne, die sich auflöst, die Wohnspuren in einem alten Haus“.

Poesie der Abwesenheit

In einer Zeit, in der immer mehr die künstlichen Welten der Fernsehbilder und Computersimulationen die wirkliche Welt ersetzen, bewahrt sich Magris einen im besten Sinne konservativen Blick auf die uns umgebende „Welt en gros und en détail“. Und auch dort, wo er mit Melancholie die Zeichen einer untergehenden Zeit entdeckt, verharrt er nicht im Klageton, sondern nimmt die Welt so wie sie ist. Gegen bestehende Ungerechtigkeiten und den Verfall humaner Werte setzt Magris nicht den Zeigefinger und den Protestton, sondern die mitreißende Kraft des Erzählens und Liebe für kleinste Gegenstände, unscheinbarste Gesten und flüchtigste Empfindungen. „Poesie kündet von der Abwesenheit, von etwas oder jemandem, der nicht mehr da ist.“ Ganz fein – und das sollte man nicht vergessen, wenn man über Claudio Magris schreibt – wird es durchzogen von einem sentimentalen Erinnerungsfaden an seine verstorbene Frau Marisa. Ihr ist das Buch gewidmet, mit ihr zusammen hat Magris auch einige der geschilderten Reisen unternommen, mit ihr teilte er auch die große Liebe zum Wasser und zum Meer. „Vierunddreißig Jahre lang schrieb ich keine einzige Zeile, ohne sie gemeinsam mit Marisa zu diskutieren“. „Wassergrün“, die Lebenserinnerungen der diesseits und jenseits der italienisch-kroatischen Küste aufgewachsenen Marisa Madieri sind in diesem Frühjahr endlich auch auf Deutsch erschienen. Schon im Titel taucht hier wieder jenes Element auf, das leitmotivisch fast alle Werke von Magris durchzieht und auf das auch Marisa Madieri in den wunderbaren abschließenden Zeilen ihrer Erinnerungen zurückkommt. „Am Fenster sitzend, blättere ich diese Seiten durch, diese kleinen Tropfen im Ozean des Gelebten, die mir plötzlich so arm vorkommen.“ Und Magris selbst läßt seine Reise entlang der Donau mit einer Reminiszenz an das fließende Wasser und an seinen großen väterlichen Freund, den Gradeser Lyriker Biagio Marin ausklingen: „Mach, daß mein Tod, Herr, sei wie das Fließen eines Stromes in das große Meer“. Ist es ein Zufall, dass einem dabei sogleich die Schlußpassage in dem durch die Phantasie, die Träume und Utopien der Menschen mäandernden „Prinzip Hoffnung“, von Ernst Bloch einfällt? „…so entsteht etwas in der Welt, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Meer und Heimat – das sind keine schlechten Orientierungen, um einen Weg in dem dahinfließenden und oft so grenzenlos erscheinenden Werk von Claudio Magris zu finden.

Carl Wilhelm Macke