Geschrieben am 31. Dezember 2022 von für Highlights, Highlights 2022

Claudia Gehrke: Aus der Lavasteinzeit

Noch eine durchgemachte Nacht mit Sonnenaufgang © Claudia Gehrke

Meine Lesereise durch dieses Jahr endet mit drei Romanen von Liz Nugent. Die Autorin entdeckte ich dank eines Tipps der Thriller-Autorin Regina Nössler. „Kleine Grausamkeiten“ (übersetzt von Kathrin Razum, Steidl Verlag, 2021, die Taschenbuchausgabe soll Februar 2023 erscheinen) werde ich vielleicht ein zweites Mal lesen. Geschwisterverhältnisse tragen manchmal Sprengstoff in sich, der ein Leben lang explodieren kann. Eifersucht spielt eine Rolle, einer fühlt sich nicht geliebt, festgefahrene Rollen und seltsame Mütter, Missgeschicke der Kinder werden zum Familienunterhaltungsstoff … Ähnliches gibt es in vielen Familien. Die Leserin weiß es von Beginn an, einer der drei Brüder ist am Ende tot (welcher?), und vermutlich hat einer der anderen damit zu tun. Wer und warum? Erzählt wird nacheinander aus den Perspektiven der drei, nicht chronologisch, sondern in der Logik der Erinnerung springt der Roman hin und her zu verschiedenen Ausschnitten des Lebens. Verhängnisvolle Verstrickungen. Ein unromantischer, hochspannender Familienroman … Nicht alle Bücher hebe ich auf (da ich gedruckte Bücher lese, hätte ich sonst enorme Platzprobleme), dieses aber landete im Regal, es schreit geradezu danach, ein zweites Mal gelesen zu werden.

Missverständnisse, falsche Verdächtigungen, Eifersucht, Freundschaft, Familienverstrickungen und die Suche nach dem Glück anderswo bestimmen auch das Leben einer winzigen Gruppe von Menschen auf der abgelegenen Insel Tristan da Cunha. (Die Insel gibt es wirklich, Hauptinsel einer kleinen Inselgruppe irgendwo im Südatlantik zwischen Südamerika und Afrika). Der Roman heißt „Tristania“ (Debütroman der finnischen Autorin Marianna Kurtto, übersetzt von Stefan Moster, mare Verlag 2022).

Die Geschichte spielt sich rund um einen Vulkanausbruch ab. Eine spürt, dass sich die Ebene angehoben hat, sieht eine Art Licht um den Berg, erzählt es nicht, weil die anderen sie für eine Spinnerin halten würden. Vulkanologen, die messen und Ausbrüche ansagen, gibt es dort nicht. Der Ausbruch beginnt. Eine andere Protagonistin sieht Schafe in einen Riss der Erde verschwinden. Ein Berg wächst auf der Flanke des Hauptberges. Die Insel wird evakuiert, sobald das Meer es zulässt (es ist wegen der Wind- und Strömungsverhältnisse nicht immer möglich, die Insel zu verlassen oder zu erreichen). Ein Junge bleibt zurück und zwei Männer, die ihn suchen. Die Verhältnisse unter den Menschen ändern sich. Manche kehren nicht mehr zurück, andere fangen neu an auf der Insel. Starke Bilder, auch vom Vulkanausbruch, aber vor allem von den Menschen und ihren Empfindungen.

Wie das alte Leben unvermittelt vor Augen steht, nachdem Lars, ein weiterer Protagonist, die Insel verlassen hat und mit einer anderen Frau lebt. Wie etwas Schreckliches aus der Vergangenheit in Marthas Leben immer wieder aufblitzt. Ein Mosaik aus Passagen und Augenblicken aus den Leben der miteinander verbundenen Menschen, das mich in sanfter Suspense-Spannung mitgerissen hat. Gekauft hatte ich es wegen des Vulkanausbruchs als Thema im Jahr nach dem Vulkanausbruch auf der Insel La Palma, doch der Vulkanausbruch in diesem Roman dient vor allem dazu, die Geschichte voranzutreiben, die Verhältnisse der Menschen untereinander aufzurütteln.

2022 verlegte ich, ich konnte nicht anders, zwei Bücher über den Vulkan auf La Palma. Eines, das sich auch ohne die Insel und die Geschehnisse dort zu kennen, als intensives Stück Literatur lesen lässt („Ich war so gebannt, dass ich vergessen habe zu schlafen“, sagte der Moderator des blauen Sofas, Matthias Hügle). Lucía Rosa González, Lyrikerin und Theaterautorin, aus dem verschwundenen Ort Todoque, schildert in „Diario de un volcán / Tagebuch eines Vulkans“ den Ausbruch aus Perspektive von Menschen, die erlebt haben, wie ihre Häuser vor ihren Augen verschlungen werden. Die Erde lebt. Der Vulkan, die Lava, lebendige Wesen –  mit Augen. „Er trat näher und schaute durch die Belüftungsöffnungen der Mauer und erstarrte zu Stein. Vor sich hatte er völlig überraschend den Lavafluss, der ihm direkt entgegenkam und die Pflanzung niederwalzte. Ein ganzes Heer roter Augen starrte ihn an und ringsum ein übernatürliches Klingeln, wie aus einer Unzahl von Glöckchen kommend. Die sich fortbewegen und läuten. Als ob er sich in einem Horrorfilm befände. Er konnte fliehen. Das Herz raste.“ Und mit eigenem Willen. „Lodernd strebte sie zu Tal, mit gewaltigen Ausmaßen, ungeduldig, als ob sie so schnell wie möglich dem Berg, den sie geschaffen hatte, entkommen wollte, hier passiert nichts, nur Lava über Lava über Lava, sie will schnell ins Tal gelangen und die Randgebiete ausspähen, die Fincas ins Auge fassen, die Häuser, die bisher Widerstand geleistet haben, sie will sie in die Arme schließen und gleichgültig niederwalzen. Ihre Bewegungen die einer ausgehungerten Schlange, aufreizend ihr Gehabe. Sie demütigt sie, bringt sie zum Verstummen, und die Gehöfte existieren nicht mehr.“  Die „Natur“ ist stärker als die Menschen (um die es in der Prosa / Roman / Tagebuch auch geht).

Das zweite Buch schrieb eine Journalistin und Auswanderin, Gudrun Bleyhl. „Lavasteinzeit/Edad de lava“ trägt das Motto „Stärker als der Vulkan“, eine Mischung aus Tagebuch, Biografie, Hommage und Sachinfo – und wurde in den Buchtipps auf CulturMag von Alf Mayer besprochen (1.4.2022).

Mitten im erkalteten Lavastrom liegt das Haus, in dem Claudia Gehrke lange lebte

Putins furchtbarer Angriffskrieg in der Ukraine zerstört und tötet – wie lange noch?  In den Medien bleibt es Thema, aber inzwischen alltäglich, eine Notiz am Rand, am Ende der Nachrichten. Von „Verlusten auf beiden Seiten“ ist die Rede. Das sind täglich getötete Menschen. Der Vulkanausbruch auf La Palma ist, außer am Jahrestag, keine Nachricht mehr, es gab keine getöteten Menschen. Ein Natur-Ereignis, was vorbei ist. Für die Menschen ist die Erfahrung, alles unter der Lava zu verlieren, Haus, Garten, Plantagen, Existenzgrundlagen, Erinnerungen, noch nicht „verarbeitet“. Viele haben noch immer kein neues Zuhause, wohnen beengt bei Verwandten oder weiterhin evakuiert in einem Hotel. Auch mich beschäftigt das spurlose Verschwinden des zweiten Verlagszuhauses mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Mit verschwunden sind Teile des Verlagsarchives. Originalmanuskripte aus vordigitalen Zeiten, ein Lager mit kanarischen Büchern. Und direkt dort, vor dem Haus unter Lava, ist jetzt einer der eindrucksvollsten Aussichtspunkte, es steht schon ein Infohäuschen da.

Auf La Palma las ich einen Krimi von Jane Harper (es gibt nicht viele deutschsprachige Krimis in den Buchläden, eine Zufallsentdeckung): „Ins Dunkel“ (aus dem australischen Englisch von Ulrike Wasel,  rororo, 2018,). Mein Leben dort geht auch nach Verlust des Ortes weiter. Wir organisieren Veranstaltungen und bauen neue Bücher … und ich wohne weit entfernt vom Vulkan auf der anderen Inselseite günstig zur Miete in einem abgelegenen romantischen Blumendschungel (sollte mich nicht zu sehr an den Ort gewöhnen. Denn das Gelände soll verkauft werden, teuer, wie alles, und Käufer gibt es vermutlich bald, denn manche (oft Deutsche), die gut versichert waren, können es sich leisten – das alte Verlagshaus und viele Häuser von Palmeros waren gar nicht versichert) –

Romane über Menschen, die auf sich gestellt der Natur ausgesetzt sind, wie Marlen Haushofers berühmtes Buch „Die Wand“ oder „Ich lebe noch“ von Kate Alice Marshall (2019) verschlinge ich wie Abenteuerromane in der Kindheit. Ein erstes Buch in die Richtung hat uns unsere Mutter vorgelesen, als wir noch nicht selbst lesen konnten: „Die Legende vom vierten König“ (Edzard Schaper). Unsere Mutter war sehr evangelisch und wollte uns damit vermutlich anderes vermitteln als das, was ich damals beim Vorlesen empfand: Abenteuer und Bedrohung, Gefangenschaft, Befreiung im letzten Moment etc. Auch „Ins Dunkel“ hat das Setting „Menschen ausgesetzt in der der Natur“. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Firma begeben sich zur Teamförderung auf einen Outdoor-Ausflug in ein wildes Waldgebiet. Klingt harmlos. Männer und Frauen getrennt. In der Gegend gab es vor vielen Jahren einmal einen Serienmörder. Ein verborgenes Versteck von ihm wird dort vermutet, aber der Mörder lebt nicht mehr. Die Steuerfahndung sitzt der Firma im Nacken. Alice, eine Frau, die der Ermittler als Informantin angeworben hat, ist mit in der Gruppe unterwegs. Die Frauen kommen nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt zurück, sondern erst später, eine ist verletzt. Die Informantin ist nicht dabei.  Im Wechsel wird aus Sicht des Ermittlers und aus Sicht der Gruppe im Wald erzählt. Das Steuervergehen, Familiäres, Mobbing und mehr spielen eine Rolle. Für mich besonders spannend war, wie sich die Konflikte der Frauen untereinander in der Extremsituation, nachdem sie sich verlaufen haben, zuspitzen, die im Arbeitsleben vielleicht unter der Decke bleiben konnten. Soziale Realität … und die Naturschilderungen.

Neben Krimilesen (ich las auch noch andere tolle Krimis, u. a. einen weiteren Berlinroman von Johannes Groschupf, „Die Stunde der Hyänen“, gerade krimipreisgekrönt) und Veranstaltungen-Organisieren gestaltete ich auf der Insel zusammen mit Regina Nössler das Konkursbuch 58: „Arbeit“. Darin u.v.a. auch ein Text von Johannes Groschupf über die Arbeit des Schreibens – in der Stabi.

Regina Nössler ist übrigens die ideale (Mit)-Herausgeberin bei diesem Thema gewesen: Sie beschäftigt sich in ihren Thrillern mit sozialer Realität und gesellschaftspolitischen Themen aus der Perspektive einzelner Menschen. So spielt in „Auf engstem Raum“ die Arbeit von studentischen Aushilfsjobberinnen in einem kleinen Schreibwarenladen die Hauptrolle (Regina Nössler hat eine Zeitlang selbst in einem solchen gearbeitet). In „Die Putzhilfe“ sind es akademische Berufe und der einer „Putzhilfe“ und im zuletzt erschienenen „Katzbach“ schlägt sich die Protagonistin mit drei Jobs durch ihr prekäres Leben in Berlin-Kreuzberg.

Ich halte die Bücher unserer Autorinnen und Autoren lieferbar. Neben der Arbeit an der „Arbeit“ war (und bin) ich mit der Pleite unserer Auslieferung „sova“ beschäftigt (es gab sie über 50 Jahre, ich war über 40 Jahre dort). Beim konzentrierte Anordnen der Texte und Bilder – ich kann mich leider nie zurückhalten, währenddessen auch in den E-Mail-Eingang zu klicken – kam die Nachricht der Insolvenzverwalterin, dass Verlage mit großem Lager (solche wie meiner, die Bücher lieferbar halten) zahlen müssen – dafür, dass auch unsere Bücher dort herauskommen und zu einer neuen Auslieferung transportiert werden. Eine enorme Summe. Wir kämpften. Ich saß parallel zum „Arbeitbauen“ in Zoomkonferenzen, erreicht wurde eine Kombi aus Umsatz und Lagergröße, immer viel Geld zusätzlich zum Verlust von drei Monaten Umsatz vor der Insolvenz und dem sogenannten Weihnachtsgeschäft danach. Was noch alles drum herum passiert ist und ich hier nicht weiter ausführen werde, wäre – mit Abstand betrachtet – vielleicht einmal Stoff für eine Krimikurzgeschichte.

Teide und La Gomera von Tirimaga aus, vor Sonnenaufgang © Foto C. Gehrke

Überall, wo ich arbeite, auch wenn ich zu Gast bin, stelle ich den Laptop so auf, dass ein Blick ins Weite möglich ist. Als Belohnung für eine der vielen aufgrund der Doppelarbeit – Insolvenz und Bücherbauen – durchmachten „Arbeits“-Nächte plötzlich das seltene tiefdunkle Rot am Horizont, das einen atemberaubenden Sonnenaufgang einleitet. Arbeit gehört für mich zum Leben. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, aufzuhören.

  • Claudia Gehrke führt den kleinen, feinen Konkursbuchverlag. Themenschwerpunkte sind Frauen, Erotik und Kunst sowie allgemeine Literatur, inklusive Thriller, sowie die Reihe „Konkurbuch“ mit unterschiedlichen Themen. Demnächst erscheint Band 58 „Arbeit“.Vor einem Jahr erlebte sie hautnah den Vulkanausbruch auf La Palma, der ihr Haus begrub. Sie schrieb darüber in unserem Jahresrückblick 2021.
Der Teide von Tirimaga aus bei klarem Wetter

Blick vom Aussichtspunkt Tacande, unten frühere Dörfer und Plantagen

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