Geschrieben am 1. Oktober 2023 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2023

Ulrike Schrimpf: Ein Interview mit Tanja Schwarz

„Ich will runter in den Schacht“

Tanja Schwarz‘ aktueller Roman „Vaters Stimme“. Ein Gespräch mit Ulrike Schrimpf

Im September 2023 ist Tanja Schwarz‘ zweites Buch bei Hanser blau erschienen, Vaters Stimme, eine – auch für heutige Zeiten – auf den ersten Blick erstaunlich ruhig, unspektakulär, ja bescheiden erzählte Geschichte über eine Protagonistin Ende 40, Nina, die sich gemeinsam mit ihrem Sohn Lenny auf die Spuren der Vergangenheit begibt und ihrem abwesenden Vater nachforscht, der bislang nur als Phantom durch ihr Leben gegeistert ist. In dem Roman passiert das Wesentliche, auch Schwerwiegende, auf leisen Sohlen, dafür aber nachhaltig und tiefgehend. Das gefällt mir und nimmt mich ein, auch, weil der Text gekonnt und sprachlich versiert geschrieben ist, und weil aus ihm eine unabhängige, originäre Erzählerinnenstimme spricht. Letzteres ist für mich eine Grundvoraussetzung dafür, dass ich etwas mit einem Text anfangen kann, und dass er mich bewegt. 

„Die tiefe Schiffshupe ertönt noch einmal, diesmal länger, es klingt, als stieße sie vor einer langen, ins Ungewisse führenden Reise diesen urweltlichen Ruf aus.“

1. Liebe Tanja, kurz, schwierig und zuerst: 

Warum schreibst du? 

Wo willst du hin? 

Und was würdest du tun, wenn du nicht – mehr – schreiben würdest? Ist das eine Option für dich? 

Oh, tatsächlich, da platzt du gleich mit den schwierigsten Fragen ins Haus, liebe Ulrike. Aber so gehört das ja auch. Ich schreibe und habe das getan, seit ich denken kann, weil es eine Art Verdauungsprozess ist, auch ein Verdichtungsprozess, vor allem aber ein Prozess des Verstehenwollens dessen, was mich umgibt, im weitesten Sinne. Nicht im Sinne von Aufschreiben, was real passiert, das interessiert mich eigentlich weniger. Ich bin keine Reporterin und keine Tagebuchschreiberin. Ich will runter in den Schacht, da, wo die tieferen Emotionen und Gemütsbewegungen sind. Ich bin eigentlich nicht unbedingt aufs Schreiben festgelegt, oft bedaure ich, dass es nicht so sinnlich ist, dass mein Arbeitswerkzeug ein Laptop ist. Ich fände es besser, wenn ich ein Musikinstrument in der Hand hätte, das einen physischen Resonanzkörper hat, das man stimmen und üben muss, oder wenn ich die Wörter mit Pigmenten und Terpentin anrühren müsste. Wenn ich mich beim Schaffensprozess schmutzig machen würde, wenn er mehr Lärm machen würde oder man sich auch mal dabei wehtut. Wenn dieser Prozess allgemein körperlicher wäre, sinnlich erfahrbar. Aber für die Musik haben mein Talent und mein Zutrauen nicht ganz gereicht. Fürs Theater hatte ich zu krumme Füße. Also schreibe ich. Übrigens auch nicht ununterbrochen, das also zu deiner letzten Frage. Gar nicht schreiben ist überhaupt keine Option. Aber es gibt immer wieder Phasen, wo sich das Leben, ganz ohne Überbau und hehre Gedanken, in den Vordergrund schiebt. Dann ist über Wochen, in den vergangenen Jahren auch mal monatelang, keine einzige Zeile entstanden. Ich denke dann auch nicht daran, dann ist der Augenblick wichtiger, vielleicht das reale Lebensproblem, das zu lösen ist. 

2. Der Stern hat einmal die außergewöhnliche „Präzision und Ehrlichkeit“ deines Schreibens gelobt. Ich stimme dem zu. Dein neuer Roman hat mich ergriffen in seiner aufrichtigen und auch aufrechten Klarheit und Konzentration. In seinem klugen, im besten Sinne des Wortes zurückhaltenden und gleichzeitig wesentlichen Gestus. Vaters Stimme scheint mir auch bewunderungswürdig unabhängig geschrieben in dem Sinne, dass er sich nicht an Zeitgeist und literarischen Moden orientiert. Für mich ist es ein ganz eigener, unverwechselbarer Text, unvergleichlich deiner. Das finde ich toll! Wie siehst du das?

„Von der Stadt mit den von ihr abgehenden Straßen, die von hier oben wie Blutgefäße oder Nervenbahnen wirken, schweift mein Blick über die Landschaft, die dunkelgrünen Bergrücken, dazwischen als entzündete Hautfalten die Ortschaften, die sich von den Tälern ausgehend die Hänge hinaufziehen, sich mit ihren mehrheitlich roten Dächern in den Senken ausbreiten wie die Neurodermitis, die Lenny als Kleinkind in Kniekehlen und Armbeugen hatte.“

Es freut mich, dass Du das so empfindest, denn natürlich will ich das: wesentlich sein, präzise, und wenn ich mir selbst vorwerfen müsste, dass ich irgendwem gefallen will und deshalb so oder so schreibe, würde es mir vor mir selbst grausen. Literarische Moden meide ich, falls es sie gibt, es ist ja manchmal etwas Neues, das jemandem gelungen ist, und das ist für sich genommen toll und spannend, und dann versuchen sich andere an viel schwächeren Aufgüssen, die sind dann sofort uninteressant. Das habe ich bei der Welle der sogenannten Popliteratur wahrgenommen. Wie gesagt, es gibt nichts, was mich weniger interessiert. Manchmal bedaure ich, dass ich so gegenständlich erzähle, dass es auch biografische Bezüge gibt. Eigentlich würde ich mich von sprachlicher Repräsentation viel mehr lösen, Lyrik schreiben oder viel experimenteller sein. Es würde mich in eine mittlere Krise stürzen, wenn es über mein Schreiben hieße, aha, das ist jetzt Autofiktion und so eine Welle, denn ich will etwas Wesentliches ausdrücken und mitteilen, in einer Form, die ästhetisch so befriedigend wie möglich ist, zu meinem leisen Bedauern mit den Mitteln der Prosa. Im Moment habe ich keine anderen.

3. Für mich stechen verschiedene Eigenschaften des Romans hervor, die möglicherweise auch symptomatisch für dein Schreiben insgesamt sind: 

  1. Natur und ihr Erleben, Wasser, Luft, Pflanzen, Licht(-arten), die sinnliche Wahrnehmung all dessen, auch von Essen, Klängen, Stimmen, spielt eine wichtige Rolle.
  2. Immer wieder blitzen heller Witz und Humor, auch ironischer Scharfsinn, aus deinem Schreiben hervor. 
  3. Du widmest dich in deinem Schreiben dem – auf den ersten Blick – Unspektakulären, Alltäglichen und gibst ihm – im Vergleich zu vielen anderen, auch gegenwärtigen, Texten – ungewohnt viel Raum und auch Zeit. Ein Restaurantbesuch, ein Fernsehabend auf der Couch, ein Tag auf dem Campingplatz, den Nina gemeinsam mit Lenny verbringt, schilderst du in ganzen Kapiteln. Das Wesentliche passiert in dem Roman zwischen den Zeilen, in der Sprache, in (Sinnes-)Eindrücken, in kleinen Gesten, in dem auch, was verschwiegen und nicht erzählt wird.

Sind das Beschreibungen, mit denen du etwas anfangen kannst, und wenn ja, was?

„Wir unterziehen den Film „Terminator“ einer dekonstruktivistisch-feministischen Analyse. Unentwegt mustere ich die anderen. Ausgerechnet Ines, die sportlichste unter den Anwesenden im Raum zweihunterzwölf des filmwissenschaftlichen Instituts, beginnt mir zu gefallen. Ich bin erleichtert, dass ich überhaupt irgendetwas empfinde.“

Dauernd will ich mich bei dir für die Fragen bedanken, und das mache ich jetzt einfach: danke! Ja, tatsächlich ist für mich persönlich die Naturbeobachtung wichtig, nicht unbedingt im Sinne der authentischen, unberührten Natur, denn die gibt es ja wahrscheinlich überhaupt nicht mehr. Eher im Sinne von: Wir sind selbst ziemlich rätselhafte Naturwesen, die sich zum Teil über ihr Handeln bewusst sind, zum Teil nicht. Alles, was wir uns ausgedacht und aufgebaut haben, ist auf diesem Planeten, der physikalischen Gesetzen gehorcht, die wir ebenfalls nur zu einem Bruchteil verstehen, und durchs unermessliche All rast. Wir Menschen krabbeln so gut wie unsichtbar und vollkommen unbedeutend auf seiner Oberfläche. Das finde ich total scharf und in seiner Unwahrscheinlichkeit und Verrücktheit unbegreiflich. Aus dieser Faszination kommt meine Anschauung des Himmels bei diesem oder jenem Licht, und einer bestimmten Pflanze, die auf etwas Kaputtem wächst vielleicht. 

Ich versuche eigentlich nicht, auf Pointe zu schreiben und unbedingt witzig zu sein, eher bremse ich mich dabei und komme kurz vor der Pointe zum Halten oder steuere daran vorbei. Aber sehr vieles an unseren Verhaltensweisen ist doch wahnsinnig komisch, oder? Wenn man die Sentimentalität herunterregelt, wird es eh automatisch komisch, was zwischen Menschen geschieht. 

In Vaters Stimme habe ich mich beim Schreiben manchmal gefragt, ob diese endlosen Wohnzimmerszenen nicht etwas dröge sind, weil ein alter, hinfälliger Mensch als Handelnder eben nicht mehr viel anderes machen kann als in einem Zimmer sitzen – deshalb die oft unspektakulären Orte. Das hängt hier mit dem Personal zusammen. Bestimmt schreibe ich beim nächsten Mal wieder mehr Außenszenen und Action.

4. Was mich auch an Vaters Stimme beeindruckt hat, ist, dass du mit dem Text auf total natürlich wirkende Art und Weise einen der wenigen Romane geschrieben hast, die ich kenne, der von einer Frau und Mutter erzählt, dessen Sohn nicht vor allem bei ihr, sondern vor allem bei dem Vater lebt. Du problematisierst das an keiner Stelle auf bekannte Art und Weise: Nina leidet zwar periodisch unter der Konstellation, braucht die Zeit und den Raum aber auch offensichtlich für sich allein. Unter anderem in diesem Sinne ist Vaters Stimme für mich durchaus auch ein politischer, ein engagierter Roman. Wie wichtig war dir dieser Aspekt des Erzählens, und warum hast du dich für ihn entschieden?

Ich finde die Protagonistin Nina eigentlich nicht unbedingt emanzipiert in einem Sinne, dass sie sich herausnimmt, den Hauptteil der Erziehungsarbeit dem Ex zu überlassen. Ihre Entscheidung ist ex negativo, weil sie sich zur Erziehung des Sohnes nicht ausreichend tauglich fühlt. Sie meint, erst noch mehr herausfinden zu müssen, wer sie selbst ist. Das ist vielleicht schon politisch, denn in der Realität würden die meisten Frauen, auch ich, sich das nicht erlauben. Sie versuchen, die Rollenerwartung auf Teufel komm raus zu erfüllen. Jemand wie Ninas Vater in dem Roman hat sich um so etwas nicht geschert, als er seine schwangere Freundin verließ und nie wieder nach dem Kind fragte. Er war also total unbekümmert und verantwortungslos. Nina ist im Gegenteil eher übermäßig verantwortungsbewusst in dem Sinne, dass sie das Kind vor sich selbst beschützen will, solange sie so und so ist. Sie hat also eine ganz andere Motivation. 

Fragen der Elternschaft und wie wir die Verantwortlichkeiten aufteilen, sind generell hochpolitisch. Ich sage nicht, dass ich mit meinen Figuren versuche, Rollenbilder zu kreieren. Aber offenzulegen, wie sich das Kinderhaben, hier, Mutter eines Sohnes zu sein, anfühlt, wie ambivalent und überfordernd, das zu thematisieren hat auf jeden Fall einen politischen Aspekt. Ab dem Zeitpunkt, an dem mein Körper mehr beteiligt ist an der Aufzucht von Nachwuchs, entsteht das Gegenteil von Gleichheit und Gleichberechtigung beim Elternsein. Ich habe da wahrscheinlich eine Befindlichkeit durchgespielt, die ich persönlich kenne. Auch wenn ich kein reales Kind verlassen habe.

„Die alte Frau neben mir im Strandkorb, deren Körper und Geist ihre Form zu verlieren scheinen, hat die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens allein getroffen. Ich sehe in dem Moment, was sie ist: eine unbeirrbare Kriegerin für die Ihren. Ich reiche ihr die letzte Kirsche.“

5. Die Passagen, in denen sich Nina um ihre psychisch kranke alte Mutter kümmert, die im Pflegeheim ist, haben mich, vermutlich auch aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit dem Thema, besonders berührt. Ich finde den Blick auf deine Figuren auch allgemein gleichzeitig berührend zärtlich und erfrischend entblößend. Wie wichtig ist dir ihre Zeichnung und Gestaltung, auch im Gegensatz zu anderen Gebieten, die beim Schreiben geformt werden müssen, wie Handlung, Ideen und Sprache?

Ich würde immer sagen, die Sprache war zuerst da. Dann das Bild, der Blick auf die Figuren, auf eine Begebenheit, einen Satz, der gefallen ist. Aus diesem Kern entwickelt sich die Handlung. Die kann nicht vorgeplant werden, sie hängt von dem ab, was dieser erste Kern in sich trägt, was er ermöglicht. 

Bei der Figur der Mutter stimmt das noch am wenigsten. Hier habe ich mich tatsächlich ziemlich 1:1 an der Krankheitsgeschichte meiner Mutter, dem Geschehen ihres Kampfes gegen die Umnachtung einer schweren psychischen Erkrankung, ihrem Niedergang, ihrer Pflegebedürftigkeit abgearbeitet. Ich war davon persönlich total in Beschlag genommen. Ich musste selbst gesund bleiben, auch wenn das Irre und Kranke dauernd nach mir griff. Also habe ich in diesen Beobachtungen mich selbst versichert, dass mein Verstand und Gemüt noch intakt sind, sich verbinden können, sich regenerieren können usw. Das war eine Ausnahmehaltung zum Schreiben und zum Text in einer Ausnahmesituation, die aber sehr lange andauerte. 

Der Vater in dem Roman wird von mir sehr akribisch untersucht, abgehorcht nach seiner Stimme, seinen Worten, die anderen schon viel angetan haben. Er wird auch sehr genau abgescannt nach körperlichen Ähnlichkeiten. Dem habe ich mich vielleicht mit einer Art anthropologischen Interesse genähert. Die anderen Figuren, das Kind, sind mit mehr Abstand und Leichtigkeit entstanden. Lenny sprang so in die Geschichte herein, kein mir bekanntes Kind, schon gar nicht die eigenen, tragen seine Züge. Das ist schön, wenn so etwas passiert. 

6. Du schreibst in Vaters Stimme deutlich fühl- und lesbar am aktuellen Zeitgeschehen entlang: Deine Figuren erleben beispielsweise Corona und den Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Was bedeutet dir dieses Vorgehen? Kannst du dir auch vorstellen, einen Roman zu schreiben, der wesentlich in der Vergangenheit spielt, der keinen deutlichen Zeitbezug hat und / oder der beispielsweise vor allem durch fantastische Elemente getragen wird?

Tatsächlich hat sich Zeitgeschehen in die Geschichte hineingedrängt. Es war für mich zwingend notwendig, nicht bei einer Nabelschau stehenzubleiben, denn das finde ich wahnsinnig uninteressant. Mit all unseren persönlichen Prägungen agieren wir doch als gesellschaftliche Wesen und so natürlich auch meine Figuren. Es ist mir als Mensch überhaupt nicht möglich, von politischen Umwälzungen und den brennenden Fragen unserer Zeit, der Klimakatastrophe, den Schrecken des imperialistischen Krieges, den wir am Rand erleben, abzusehen. Ich kann und will natürlich nichts Programmatisches schreiben, ein Roman ist kein Politmanifest. Aber die Verortung in einer Realität, in der meine Probleme als weiße mittelalte europäische Frau, die zeitlebens mit allen Rechten und Sicherheiten ausgestattet war, die es in einem komfortablen demokratischen Rechtsstaat gibt – das muss ich mit reflektieren, ohne das alles unbedingt zu benennen. Aber sonst stimmt doch einfach nicht, was ich sage, oder es fehlen die notwenigen Voraussetzungen, etwas zu sagen. Insofern: Bei Historischem oder Fantasy bin ich noch nicht angelangt. Sieht derzeit auch nicht danach aus.

7. Ich finde deinen Roman ungemein gut konstruiert, vor allem auch, was seine Abrundung und Schließung am Ende betrifft. Mehr verrate ich an der Stelle natürlich nicht. Aber ich wüsste gerne von dir: Wie bist du auf das außergewöhnliche Ende gekommen? Auf mich wirkt es, als hätte es sich intuitiv und organisch im Schreiben gefügt. Habe ich Recht? Oder wusstest du schon am Anfang, als du mit dem Schreiben des Romans begonnen hast, dass dein Roman so oder so ähnlich enden würde?

Es freut mich sehr, dass du das so empfunden hast beim Lesen, denn in der Realität war es durchaus schwierig, den Roman zu bauen. In gewisser Weise schrieb ich einerseits der Realität hinterher, was den Aspekt von Krankheiten und dem nahenden Tod der Mutter und des Vaters betrifft. Andererseits gab es längst die Erzählung, die ihren eigenen Gesetzen folgt, und die sich aus sich heraus entwickelt hat. Dazwischen immer wieder abzugleichen – wie kann ich den Twist in der echten Welt mit dem Fluss der Fiktion abgleichen? – das war schwierig. Der Schluss ist gar nicht so ausgedacht wie man vielleicht denken könnte. Aber das verrate ich nur denen, die bis zum Ende gelesen haben.

8. Was hast du, abgesehen von dem Roman Vaters Stimme und den sogenannten Romanminiaturen In neuem Licht, noch geschrieben, und was wirst du in der Zukunft schreiben? Weißt du das schon? 

Mein erstes Buch, Der nächtliche Skater von 2001, waren Stories, die eher meinen persönlichen Erfahrungskreis zum Thema hatten. Das zweite, erst wirklich erschienen 2019, der Weltroman, war ein Großprojekt über Megacities und die Grenzen unserer Kapazität, die Umwälzungen der Welt wahrzunehmen. Daran habe ich mich wahrscheinlich etwas verhoben, aber das muss bei dem Thema ja notwendig so sein. Die lange Pause war einer großen Familie geschuldet, dann kamen die beiden Bücher bei Hanserblau. Das ist toll! Ich schreibe jetzt für mich da weiter, wo Vaters Stimme aufgehört hat. Es geht weiter um Sterben und Tod, aber auch um die Erweiterung des privaten Horizonts: darum, wie wir uns in der gegenwärtigen Welt mit Anderen verbinden können, im Sinne von Teilen, von Solidarität. Meine These ist, dass wir an den Stellen, wo wir verwundet sind, auch neue Verbindungen schaffen können. Leben wachsen zusammen an genau diesen wunden Stellen. Irgendwie politisch ist das vielleicht, aber auch sehr persönlich. 

Ein anderer bereits konkreter Plan ist etwas ganz anderes, eine biographische Erzählung: Ich recherchiere über einen Überlebenden des Naziregimes und seiner schrecklichen Lager, Edgar Kupfer-Koberwitz, der in Dachau inhaftiert war. Es interessiert mich, wie er als unpolitischer, sogar irgendwie rückwärtsgerichteter Mensch, der Männer liebte, für den Tierrechte ein Lebensthema waren, in dieser menschengemachten Hölle das bleiben konnte, was er war: ein Humanist, der seine Ansichten auf alle Lebendige ausweitete.  Wenn es bei Vaters Stimmedie Stimmen sind, die beim Schreiben zuerst da waren, sind es bei Kupfer die Farben. Das Grau des Lageralltags, das Schwarz der Abgründe und grausamen Tode, das Blau der Mittelmeerinseln, auf denen er vor dem Krieg und nach Jahren des Herumirrens nach Kriegsende lebte. Das ist sicher ein schwieriges Vorhaben, weil die porträtierte Person nicht mehr lebt und einige Lebenskapitel im Dunkeln liegen. Ich maße mir auch nicht an, ein Konzentrationslager von innen zu beschreiben, das hat Edgar Kupfer im Übrigen selbst gemacht. Er hat unter Lebensgefahr auf tausenden von Seiten die Schrecken dokumentiert. Ich habe Respekt vor dieser Schreibaufgabe, freue mich aber auch darauf, mal nicht mich selbst zu beleuchten. 

9. Was für Leser*innen wünschst du deinem Buch und deinem Schreiben insgesamt?

Kluge, suchende Menschen, denen ich idealerweise auch mal begegne, damit ich mich mit ihnen über ihre Leseeindrücke austauschen kann. 

10. Und was wünschst du dir für die Welt?

Ach, das ist so ein Riesenthema! Ich wünsche, dass die Menschheit erkennt, wie ernst es um sie steht und um unseren einzigartigen, wunderschönen Planeten. Ich hoffe, dass es gut aus- und weitergeht. Ich fühle mich verpflichtet, daran zu glauben, denn Fatalismus ist keine Option. 

Liebe Tanja, ich danke dir für dieses Gespräch.

Liebe Ulrike, es war mir eine Freude. Ich bedanke mich mindestens ebenso.

  • Ulrike Schrimpf, die wir herzlich bei uns als Autorin begrüßen, wuchs in Berlin auf, studierte dort und in Paris Literaturwissenschaft, lebte und arbeitete seit 2010 als freie Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin in Wien. Sie hat drei Söhne, die Familie ist seit kurzem nach Augsburg umgezogen. Nach Lyrik, Sach-, Gesprächs- und Kinderbüchern und dem Romandebüt „Lauter Ghosts“ ist von ihr gerade das erzählende Sachbuch „Mythos Mutter Glück. Warum Depressionen rund um die Geburt kein individuelles Problem sind und wie wir sie überleben“ (Leykam) erschienen. Ihre Internetseite hier.

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