Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

Robert Rescue: Wahl mit Qual

Demokratie endet nicht um 18 Uhr

Dass mir Google Maps das Wahllokal zur Berliner Wiederholungswahl in Neuguinea angezeigt hat, war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Jetzt ist Schluss, habe ich mir gedacht, ich mache diesen Scheiß nicht mehr mit. Ihr könnt euch eure verdammte Wahl sonst wohin stecken. Dann aber stellte ich fest, dass Maps offenbar meinen Standort verschoben hatte, aber ich war irritiert, dass es in Neuguinea anscheinend eine Amrumer Straße 34 gab. Ich habe mich wieder beruhigt und bin losgegangen, um den Mist zu erledigen. Klug wie ich war, hatte ich zuvor die Firma RENT A SCHLANGENSTEHER beauftragt, mir einen Platz zu reservieren, denn der Beteuerung des Senats, dass die Wiederholungswahl „glatt über die Bühne flutschen würde wie eine mit Vaseline behandelte Gummilady bei einer Sado-Maso-Show“, vertraute ich natürlich kein Stück.

Ich reihte mich schließlich an der Ecke Amrumer Straße/Seestraße in die Schlange ein und schickte den Dienstleister nach Hause. Der Eingang zum Wahllokal lag etwa 200 Meter entfernt. Schien so, als würde es diesmal besser laufen, dachte ich noch, bevor mich die stille Post der hinter mir befindlichen erreichte. Die Schlange würde bis zum Kurt-Schuhmacher-Platz an der Grenze zu Reinickendorf reichen, wurde berichtet. Der Leiter des Wahllokals sei mit dem Auto dorthin gefahren und habe verkündet, jeder könne noch seine Stimme abgeben, denn „die Demokratie ende nicht um 18 Uhr“ wie er den Wählern verkündete. Zur Not werde sein Team Überstunden einlegen und die Stimmen „nachreichen“. Ob das denn gehe, wurde er gefragt und der Wahlleiter versicherte, der Wahlablauf in Berlin sei „flexibel“ und berücksichtige auch „unplanmäßige Behinderungen im Wahlablauf“.

Keine Ahnung, wann die oben am Kutschi mit dem Wählen dran sein würden, ich würde es auf jeden Fall deutlich vor 18 Uhr schaffen. 

Eine Stunde später erreichte ich den Eingang zur Sporthalle der Ernst-Schering-Schule. Gott sei Dank war es ein milder Februartag, ein paar Tage zuvor wäre ich bei den eisigen Temperaturen entweder zugrunde gegangen oder hätte was angezündet, zum Beispiel das Studentenwohnheim an der Ecke, um es warm zu haben. Neben der Schlange stand ein Mann, der haargenau so aussah wie der „Agent Smith“ aus den Matrix-Filmen, also mit Anzug und einer Sonnenbrille. Er lief an unserer Schlange auf und ab und schaute sich aufmerksam um. Ich fasste mir ein Herz und fragte ihn, was er hier mache. „Ich bin Wahlbeobachter von der OSZE“, verriet er bereitwillig. „Ich dachte, die hätten auf eine Beobachtermission verzichtet?“, entgegnete ich. „Das war nur zum Schein“, antwortete er. „Der Senat sollte glauben, dass es unsererseits keinen Grund zu einer Beanstandung gibt. 

Sonst hätten die uns irgendein potemkinsches Dorf als Wahllokal vorgezeigt, in dem alles funktioniert. Regime versuchen stets, uns zu verarschen.“

„Weiß das Wahllokal, wer sie sind?“

„Nein“, antwortete Mister Smith. „Ich habe mich als Vertreter des Herstellers der Wahlurnen und Kabinen ausgegeben und angegeben, dass ich die Funktionalität unserer Produkte überprüfen wolle. Das haben die akzeptiert.“

Ich zeigte ihm meine Wahlbenachrichtigung.

„Hi Robert, wir machen die ganze Scheiße nochmal. Schau doch mal, ob du am 12.02. irgendwann zwischen 8 und 18 Uhr Zeit hast, drei Kreuze zu machen. Ort ist diesmal die Sporthalle von der Schule, weil die Schule kaputt ist. Wenn du Briefwahl machen willst, musst du mal im Internet nachschauen, wie das geht. Soll es angeblich geben.

P.S.: Da es eine Wiederholungswahl ist, wählst du dieselben Flitzpiepen wie letztes Mal. Mach keine Experimente, das bedeutet bürokratischen Aufwand und das kriegen wir nicht gebacken.

Grüße, dein Bezirkswahlamt.

„Ist das ihrer Einschätzung nach ein korrektes Einladungsschreiben oder ist das der Anfang vom Ende?“, fragte ich den Wahlbeobachter.

„Nun ja“, fing dieser an. „Es ist recht „kreativ“ in der Wortwahl. Ungewöhnlich, aber nicht verwerflich. Einige Informationen wie der Wahltag und die Uhrzeit sind angegeben, aber ich vermisse eine Adresse des Wahllokals, ich lese da nur eine ungefähre Angabe zum Standort.“

„Die Adresse musste ich googeln“, sagte ich zu Mister Smith. 

Der Wahlbeobachter holte ein Notizbuch aus der Jackentasche und schrieb was rein.

Die Schlange bewegte sich nach vorne und ich betrat die Sporthalle. Auf Reddit hatte ich gelesen, dass einige Schulen die Hallen mit Vlies ausgelegt hatten, weil es eigentlich verboten war, dass man mit Straßenschuhen eintrat, weil das sonst den Boden beschädigte. Hier war offenbar nicht daran gedacht worden. Wer weiß, vielleicht musste die Sporthalle am Montag geschlossen werden. Was wurde dann aus den armen Kindern? Bildung erhielten sie ja nicht und nun nahm man ihnen auch die Möglichkeit, sich im Reckturnen zu ertüchtigen.


Am ersten Tisch wurden mir die drei Stimmzettel ausgehändigt. Ich schaute kurz rein und las als Überschrift „Wahl zum Abgeordnetenhaus 1985“ und der erste Kandidateneintrag lautete auf Eberhard Diepgen. Ich protestierte. „Die lagen halt noch im Keller rum“, verteidigte sich eine Wahlhelferin, „und die sind doch noch gut. Sind doch eh immer die gleichen Pfeifen, die sich zur Wahl stellen.“

Ich stellte mich stur und erhielt kurz darauf aktuelle Stimmzettel.

In der Wahlkabine passierte mir dann ein Malheur. Ich rutschte mit der Hand auf dem Tisch aus und machte das Kreuz versehentlich bei der FDP. Was sollte ich tun? Durfte man neue Stimmzettel anfordern? Oder hatte ich nach dem Wahlrecht eine endgültige Entscheidung getroffen?

Ich verlangte nach neuen Stimmzetteln. „Kein Problem“, rief die Wahlhelferin, stand auf und legte mir 10 Stimmzettel auf den Tisch. Richtig gehört: sie reichte sie mir nicht, sondern kam an die Kabine heran und stand schließlich neben mir.

Als ich den letzten Tisch mit der Wahlurne erreichte, fragte ich nach: „Funktioniert die Wahlurne denn richtig? Es ist ja heute ein Vertreter von der Herstellerfirma da, falls es Probleme geben sollte.“

Der Wahlhelfer, dessen Hand auf einem Stück Pappe lag, schaute mich verwirrt an. „Warum soll die denn nicht funktionieren? Das ist ein Pappkarton, in den der Hausmeister mit einem Teppichmesser einen Schlitz reingemacht hat.“

Ich zeigte zu Agent Smith, der gerade den ersten Tisch inspizierte.

„Ach der“, rief der Wahlhelfer. „Das ist der Irre aus der Lütticher Straße. Der hält sich für einen Wahlbeobachter von der OSZE. Bei der letzten Wahl gab er sich als Bundespräsident aus, der hier wählen wolle.“

Als ich schließlich das Wahllokal verließ, beschloss ich, die nächste Wiederholung auszusetzen. Dieses ständige Wählen stresste mich und kostete viel Zeit. Ich entschied mich dafür, den Seetank aufzusuchen und mir die Wahl schön zu trinken.

In der Realität sah es leider anders aus. Es gab keine Warteschlange, es ging zügig voran, nach drei Minuten hatte ich die Aufgabe erledigt. Es gab eigentlich nichts zu beanstanden, Scheiße verdammt. Keine alten Wahlzettel, kein Kreuz an der falschen Stelle, kein vermeintlicher Wahlbeobachter von der OSZE, alle Wahlhelfer waren an Ort und Stelle. Nur der Boden der Halle war nicht mit Vlies ausgelegt. Verdammter Mist, was war bloß mit dieser Stadt los? Alles lief wie geschmiert, kein Chaos, keine Inkompetenz, es war zum Kotzen. Berlin war langweilig geworden. Ich würde wegziehen. Irgendwohin, wo alles schieflief, irgendwohin, wo ich mich heimisch fühlen konnte.

Ich entschied mich dafür, den Seetank aufzusuchen und mir die Wahl schlimm zu trinken.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:

Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter