Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2021

Robert Rescue: Geht mit Gott, aber geht

Mein Gott, was soll das denn jetzt wieder, denke ich, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten fische. Nach einem kurzen Blick weiß ich, wer das eingesteckt hat und warum.

Seit Monaten ist das Café Mandelzweig im Vorderhaus ein Hort von AfD-nahen Corona-Leugnern, für die Jesus der beste Freund ist.  Eine Broschüre haben sie herausgegeben, angeblich bereits in der 6. Auflage mit mehr als 600 000 Exemplaren und sind mit dem Versand ihrer Missionsschrift so beschäftigt, dass sie gar nicht mehr zum Beten kommen.

Die Nachbarschaft reagiert mit einer Mischung aus Desinteresse, Verärgerung und Widerstand. Irgendwer hat auf den Briefkasten „Querdenker raus“ geschrieben und neulich sprühte jemand Bauschaum ins Fenster vom Ladengeschäft. Auf der Fassade stand eine Weile lang eine Botschaft, die vermutlich die örtliche Antifa hinterlassen hat. Meine Form des Widerstandes ist die: Die Christen lassen die Haustür auf, weil ihre Anhänger zu doof sind, die Geheimklingel zu drücken. Ich mache die Haustür wieder zu, weil ja sonst Gesindel ins Haus kommt.

Und jetzt? Eine Zeitung mit Namen Life.de, aufgemacht wie die BILD. Die Schlagzeile auf der Titelseite sagt mir alles: Nick Vujicic: Keine Arme, keine Beine und doch glücklich! Ist Corona vorbei? Besinnen sich die wildgewordenen Christen nun wieder auf ihre eigentliche Missionierungstätigkeit? Wollen sie im Haus wieder Sympathie erlangen und glauben fälschlicherweise, ihre „Glücklich werden mit Jesus“-Propaganda sei der richtige Weg?

Am Altpapiercontainer bleibe ich stehen. Viele Nachbarn haben bereits den Daumen gesenkt über die Heilige Schrift, sollte ich dem nicht folgen? Ein bisschen neugierig bin ich aber schon. In der Wohnung angekommen, überblättere ich die 16 Seiten. Querlesen reicht schon, um zu erkennen, wie einfach und schön der Kosmos gestrickt ist. Fast nur Kurzporträts von Leuten, die vermögend und/oder berühmt waren, dann einen Absturz (Bulimie, Drogen, Alkohol, allgemeine Sättigung von Ruhm und Geld) erlebten, dann Jesus begegneten (also seiner Lehre bzw. die anderer) und schließlich erleuchtet und glücklich wurden. Das ganze Käseblatt ein einziger Quell voller Glück und das finde ich grauenhaft. Die Namen der Leute sagen mir nichts und ich verzichte darauf, sie zu googeln. Womöglich gibt es sie gar nicht oder sie sind so belanglose D-Prominent, dass in mir erst recht kein Bedürfnis entsteht, es ihnen gleichzutun, so, wie es sich Global Outreach & Livenet Deutschland, die Herausgeber, vorstellen.

Ohnehin, was erwarten die sich für einen Effekt? Das ich die Schicksale studiere, mich wiederkenne, einen Ausweg sehe und gleich runter zum Café Mandelzweig renne?

Wo stehe ich denn derzeit im Kreislauf des Lebens, wenn man der Interpretation Aufstieg, Fall, Erleuchtung, Glück folgt, die nach der Lesart des Blättchens aus jedem „Verlorenen“ einen Anhänger Gottes macht?

Bei Fall, würde ich sagen, allerdings habe ich wie die meisten Menschen den Aufstieg verpasst. Den würde ich aber gerne mitmachen, so mit Koks, Schampus, Nutten, Monaco und Instagram-Account, um die ganzen Partybilder hochzuladen. Aber ich bin überzeugt, dass es dazu nie kommen wird. Mein Leben ähnelt einer geraden Linie mit einzelnen, kaum erkennbaren Ausschlägen nach oben und unten. In Excel wäre diese Linie das Ergebnis eines Diagramms, das man so nicht anlegen wollte und deshalb wieder löscht. 

Es gibt wie in jeder richtigen Boulevard-Zeitung so einen Test und wie sollte es anders sein, ist es bei Life.de die Frage nach dem Glücklichsein. Ich brauche den Test nicht zu machen, weil ich die Antwort kenne. Genauer gesagt, kenne ich alle Antworten, denn es gibt auf die Aussagen nur eine Antwort und weil der Test auf Seite 1 zu finden ist, weiß man dann, dass die nächsten 15 Seiten dazu dienen, einen Ausweg aus der deprimierenden Antwort zu finden.

Es gibt auch einige Anzeigen zu finden, die natürlich alle nur das Thema Glück und Jesus haben, bis auf eine. Auf der Titelseite findet sich eine Werbung für Anglerbedarf. Die wirkt im ersten Moment deplatziert, aber wenn man genau darüber nachdenkt, was der Sinn und Zweck jeder Missionierung ist, dann erkennt man den tieferen Sinn.

Einen kurzen Artikel lese ich dann doch. Darin wird Gottes Plan beschrieben. Es ist ein einfacher Plan, deshalb bedarf es nur weniger Worte. Gott will mit den Menschen befreundet sein. Toller Plan. Wäre ich Gott, würde ich mir das nochmal überlegen. Weiter lese ich: Damals war auf der Welt alles in Ordnung. Es gab keine Kriege, keine Ungerechtigkeit, keine Krankheit, und alles war perfekt. Würde ich mit einem Evangelisten über diesen kurzen Text diskutieren müssen, wäre meine erste Entgegnung: „Und dann kam der Mensch. Adam und Eva. Und die hat er dann rausgeschmissen aus dem Paradies, weil die Scheiße gebaut haben“ und wenn er dann immer noch keine Ruhe gibt, würde ich anfügen: „Und dann kam die Religion, vor allem die, die glaubt, dass ihr Glauben der einzig richtige ist und alle daran glauben müssen und wer das nicht tut, wird erhängt, verbrannt oder geköpft. Seitdem ist alles im Arsch und Gott täte gut daran, auf den Mensch keinen Pfifferling mehr zu geben.“  

Es macht keinen Sinn, die Inhalte von Life.de in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Die Texte sind einfach geschrieben und kennen nur eine Botschaft.

Was argumentativ im Weg steht, wie beispielsweise die Evolution oder die Wissenschaft, wird entweder verschwiegen oder mit einem Satz als falsch angeprangert.

Was mich an der Zeitung wirklich enttäuscht – sie ist nicht neu. Im Internet lese ich, dass sie bereits im April 2020 an über 423000 Haushalte deutschlandweit verteilt wurde, um den Menschen während des Lockdowns Trost zu spenden.

Ein Bild mit zwei Jüngern, die gerade die Briefkästen vollmüllen und stolz die Titelseite in die Kamera halten, zeigt dieselbe Titelseite. Ich lese weiter: „Ein Unternehmer war so bewegt von der Möglichkeit, in der Corona-Notsituation durch die evangelistische Zeitung Menschen einfach Hoffnung zu bringen, dass er kurzerhand eine Verteilung der Zeitung in mehr als 1 Mio. Haushalte, zum Teil auch in den neuen Bundesländern, finanzierte.“

Ein Wort an den Unternehmer, den es möglicherweise gar nicht gibt: Es ist okay, dass Sie von der Ausgabe von Life.de angetan sind. Freuen Sie sich wie ein Keks oder ein Schneekönig, aber tun Sie mir bitte einen Gefallen. Glauben Sie in Ihrer Ergriffenheit nicht, dass Ihre Mitmenschen an Ihrer Freude teilhaben wollen. Machen Sie mit Ihrem Geld was Praktisches. Spenden Sie für den Kältebus oder übernehmen Sie eine Patenschaft für ein Kind in Mexiko, dessen Eltern in Säure aufgelöst wurden.

Und dann stellen sich mir spontan zwei Fragen:

Was bedeutet „kurzerhand“ in der Wahrnehmung der Evangelisten, wenn ich ihr Machwerk anderthalb Jahre später im Briefkasten finde?

Und warum ist der Artikel im März 2020 geschrieben und beschreibt die Verteilaktion im April in der Vergangenheitsform?

Als ich das nächste Mal die Wohnung verlasse, gehe ich im Flur zum Briefkasten des Café Mandelzweig und stopfe die Zeitung in ihren Briefkasten. Vorne drauf habe ich ein Post-it angebracht, auf dem steht: „Geht mit Gott, aber geht“.

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