Geschrieben am 1. Februar 2024 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2024

Robert Rescue: Ein Zug fährt nach Nirgendwo

Einmal die Woche werde ich an der Tramhaltestelle Schönfließer Straße im Prenzlauer Berg Zeuge, wie viele dumme Menschen die Welt bevölkern. Nachts fährt die Linie 50 nicht bis zur Endhaltestelle Virchow Klinikum im Wedding, sondern hält an der Haltestelle Björnsonstraße, eine Station nach der Schönfließer Straße, und biegt dann nach rechts ab, um in einem Dimensionsportal zu verschwinden, aus dem sie irgendwo in Weißensee oder auf dem Planeten Oranke-13 wieder heraustritt. Die, meist verwirrten, Fahrgäste lässt der Fahrer zuvor aussteigen und überlässt sie ihrem Schicksal oder einer später eintreffenden Tram der Linie 13, die ordnungsgemäß in Richtung Westen fährt. Es ist nachts nicht schön an der Haltestelle Björnsonstraße. Auf der linken Seite dunkle Wohnhäuser, in denen Menschen leben, die um 7 Uhr aufstehen müssen, um die Miete für ihre schönen, neuen Wohnungen zu verdienen. Daneben eine Discounterfiliale, wo sich all die Menschen aus dem Kiez abends schweigend begegnen, um ihr Abendessen zu kaufen. Geradeaus die Haltestelle Bornholmer Straße, wo nachts Leute aussteigen, denen man nicht im Dunkeln begegnen will und rechts Kleingartenanlagen, in denen regelmäßig Gewaltverbrechen geschehen. Es ist still, abgesehen vom irren Kichern des Tramfahrers, der vergnügt ist, weil er ein paar Spacken mitten in der Pampa ausgesetzt hat. 

Es ist unerklärlich, warum die Tram 50 nachts nicht einfach durchfährt wie die Linie 13. Vielleicht will die BVG für Abwechselung oder eher Verwirrung sorgen, was sie zwar zu genüge sonst wo in Berlin tut, aber vielleicht ist sie damit nicht so erfolgreich wie bei der Linie 50 und ihr Ende mitten auf der Strecke.

So ist jede Nacht das gleiche Schauspiel zu beobachten: Leute stehen an der Haltestelle Schönfließer Straße und eine Tram nähert sich. Perfiderweise hält sie, Leute steigen ein, die Tram fährt los und nach 700 Metern ist Schluss.

Nun kann man einwenden, dass es sich bei den Wartenden um Ortsfremde handelt, die die Besonderheit der Linie 50 nicht kennen. Aber gerade bei Touristen würde ich erwarten, dass sie ein besonderes Augenmerk auf das Display an der Station haben, auf den Bildschirm oberhalb der Fahrerkabine und eventuell einen Blick auf die Anzeigen an den Seiten werfen, bevor sie einsteigen. Selbst als Einheimischer sollte man nicht einfach so in eine Berliner U-Bahn, einen Bus oder eine Tram steigen. Man kann nie hundertprozentig sicher sein, dass das Verkehrsmittel dort ankommt, wo man hin will. 

So kommt es, dass ich jeden Donnerstag gegen 23:30 Uhr die Haltestelle erreiche und einen prüfenden Blick auf das Display werfe, um zu schauen, ob die doofe Bahn als nächstes kommt oder ich Glück habe und mich die 13 in den goldenen Westen bringt. Meistens stehen etwa 5 andere Personen an der Haltestelle. Diejenigen, die alleine warten, sind mit ihrem Handy beschäftigt und wer in Begleitung ist, unterhält sich. Wenn ich auf die 13 warten muss, verbringe ich die Zeit mit der Überlegung, welcher der anderen in die kommende 50 steigen wird. Ich freue mich jedes Mal, wenn einer dabei ist, der bei Einfahrt der Tram kurz aufschaut und sich wieder dem Handy oder Mitmenschen widmet. Profis halt. Aber immerzu gibt es diejenigen, die, ohne Handy oder Mitmensch zu unterbrechen, in die 50 steigen und 1 Minute später blöd aus der Wäsche schauen. Ich blicke der Tram hinterher und denke mir „See you later, Asshole“ und werde ihnen einen verachtungsvollen Blick zuwerfen, wenn wir uns in etwa 7 Minuten wiedersehen. Meist aber nehmen sie mich nicht wahr und steigen in die nun richtige Bahn, ohne vom Handy oder dem Mitmensch aufzusehen, so als sei es das natürlichste der Welt, nur eine Station zu fahren, auszusteigen und in die nächste Bahn wieder einzusteigen. Machen die das den ganzen Tag lang? Wie lange brauchen die dann für eine Fahrt mit der U6 von Seestraße bis Unter den Linden? 3 Stunden?

Ich habe mir ja inzwischen angewöhnt, mich beim Einfahren der Linie 50 demonstrativ umzudrehen und dem Fahrer den Rücken zuzuwenden, um ihm zu zeigen, dass ich auf den „Trick 50“ nicht reinfalle. Den anderen Wartenden will ich auf diese Weise signalisieren, dass sie nicht in die Tram einsteigen sollen, aber es ist vergeblich. Manchmal stehen sie neben mir, sollten eigentlich wahrnehmen, dass ich mich nicht vom Fleck rühre, aber nein, sie haben keinen Blick für mich übrig und es würde mich nicht verwundern, wenn diese nach dem einsteigen denken, komisch, was ist denn mit dem Typen da draußen, checkt der die Tram nicht, ist der dumm?

Da lernen die Leute heute Achtsamkeit, geben haufenweise Geld für Kurse aus, schauen Videos und hören Podcasts und was bringt es ihnen? Ich traue denen sogar zu, dass sie einen der Schleifwagen der BVG, die nachts die Gleise warten, besteigen und nicht mal reagieren, wenn der Fahrer oder die begleitenden Arbeiter ihnen lautstark zu verstehen geben, dass sie sich verpissen sollen.

Es ist, glaube ich, die Dummheit, die ich neulich mal auf einem Bild auf Reddit gesehen habe. Eine Gruppe von Badenden stand in einem Swimmingpool und suchte unter einem Schirm Schutz vor dem Regen.

Ich denke, ich werde es zu meinen Lebzeiten nicht mehr erleben, dass sich Menschen nachts an der Tram 50 an meinem Vorbild orientieren. 

Sollen sie doch zur Hölle fahren, geht es mir durch den Kopf und ich muss lachen. Vielleicht wäre dies das passende Ziel für die nächtliche Tram 50 und ihre Passagiere.

Robert Rescue bei uns hierZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Gerade von ihm erschienen: Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen. Periplaneta, 148 Seiten, 13,50 Euro.
Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns. Beispiele:
Dezember 2023: Unter Fremden
November 23: Wie im Zoo
Oktober 23: Großbritannien kann mich mal
September 23: Der gefährlichste Mann der Welt
Juli / August23: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede
Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter