Geschrieben am 1. März 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Reading Ahead (21): „Bird“ von Adam Morris

„Shake It All About“

Alf Mayer über einen harten Aborigine-Roman aus weißer Sicht, von viel Kenntnis der Verhältnisse gesättigt

Eigentlich bekomme ich immer ein Feuerwerk an meinem Geburtstag. Vorausgesetzt, ich bin down under. Er fällt nämlich mit dem „Australia Day“ zusammen, dem Nationalfeiertag, der an die Ankunft der First Fleet in Sydney Cove am 26. Januar 1788 erinnert. Mittlerweile kann ich mit Hilfe dieses Datum ganz schnell erkennen, wie und wo politisch verortet ein australischer Gesprächs- oder Mailpartner ist. Denn die wahre Lackmus-Grenzlinie liegt nicht zwischen First- und Second Fleet- oder späteren Ankömmlingen, sie liegt da, wo jemand zu diesem Tag „Invasion Day“ sagt. Für die weiß-ethnozentrische Geschichtsschreibung ist es ein Feiertag, für die anderen eine Mahnung daran, dass die Aborigines bereits 60.000 Jahre länger da sind. – Und Boy, wenn man einem Aborigine tatsächlich begegnet, wenn man sich einlassen kann auf den Moment, ist das für uns Weiße ein ganz schön seltsames Gefühl: Jahrtausende sehen dir da ins Gesicht, ganz klar eine deutlich andere, hundertmal archaischere Kultur als wir sie kennen.

Australien hat klar – und immer noch – ein Rassismus-Problem. „Ein großes Loch mitten in der Identität“ nennt das Stephen Greenall (zu seinem Roman „Winter Traffic“ hier in dieser Ausgabe nebenan). „Blackfellers“, das ist down under ein Wort wie Neger oder Nigger, manche Aborigines verwenden es selbst offensiv, eine Form von trotzigem Stolz und Subversion. Stämme und Gruppen nennen sich „Mob“. Mir immer noch ein wichtiges Buch: „Conversations with the Mob“ von der Whitefella-Fotojournalistin Megan Lewis, die Zugang zu den Martu Aboriginal People bekam und längere Zeit mit ihnen in der Great Sandy Desert lebte.

Es gibt einige wenige Filme: „The Chant of Jimmy Blacksmith“ (1978) von Fred Schepisi, nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Keneally, 1972, „Samson and Delilah“ (2009) von Warwick Thornton und von ihm auch „Sweet Country“ (2017). Werner Herzogs „Wo die grünen Ameisen träumen“ (1979), Rolf de Heer mit der Trilogie „The Tracker“ (2002), „Ten Canoes“ (2006) und „Charlie’s Country“ (2013), alle mit der Aboriginal Film-Ikone David Gulpilil. Nicolas Roegs „Walkabout“ von 1971 dürfte für viele – auch europäische – Kinogänger die erste Begegnung mit Aborigine-Kultur gewesen sein. Bei Kriminalromanen war es der in Australien seßhaft gewordene Engländer Arthur W. Upfield (1890-1964), der mit seinen 29 Inspektor Napoleon „Bony“ Bonaparte-Romanen ins Outback ging. Später dann Adrian Hyland, der für „Outback Bastard“ und „Kaltes Feuer“ eine Aborigine-Ermittlerin erfand, das aber heute, wie er sagt, nicht mehr machen würde, weil er selber weiß ist. Einige interessante Filme gibt es von Ivan Sen, einem Halbblut. „Beneath Clouds“ (2002) hieß sein Debüt, aus seinem sehr harten und lakonischen Aboriginal-Cop-Film „Mystery Road“ und dem Nachfolger „Goldstone“ wurde eine bei arte gezeigte Mini-Serie mit bereits zwei Staffeln. Aber australisches Fernsehen und die Populärkultur sind heute immer noch eines: vorwiegend weiß. Da hilft keine Fackelträgerin bei den Olympischen Spielen.

Auf dieses Feld tritt Adam Morris mit seinem Roman „Bird“. Eine vertikale Linie teilt die Titelseite und auch das Vorsatzblatt, man ist entweder drinnen oder draußen. Schwarz oder Weiß. Die drei Kapitel dieses Romans heißen denn auch „In“, „Out“ und „Shake It All About“. Das betrifft die Rassismusfrage ebenso wie den Schauplatz. Die Hauptfigur ist ein junger westaustralischer Noongar Aborigine namens Carson. Wir lernen ihn als Gefangenen kennen, dann ist er auf Bewährung frei, dann wieder im Gefängnis. Seine Lebensumstände würgen ihn wie eine Schlinge, je mehr er kämpft und sich wehrt, desto enger zieht sie sich zu. Es wird nicht friedlich enden.

Aus weißer Perspektive, unerbittlich

Adam Morris ist Musiker und Songwriter. Das merkt man seiner Sprache an. Das Buch ist polyphonisch gebaut, hat gut eineinhalb Dutzend Personen. Sie sind überwiegend weiß. Adam Morris ist das auch. Sein Roman ist Teil seiner Doktorarbeit – in Australien darf man das, Alan Carter und Andrew Nette, Garry Disher und Dave Whish-Wilson haben so etwas bereits gemacht. „Whiteness and Australian Fiction“ lautet Adams Thema, das ist natürlich ultra-spannend, weil dieses Feld nicht gerade breit bearbeitet ist.

Die Flagge der Aborigines

Grundlagen-Forschung also, die Dr. Adam Morris (ich gratuliere!) erbringt. Übrigens auch erzählerisch. Solch ein Gefängnisroman ist mir noch nicht begegnet. Carson, die Hauptfigur, um die der Roman kreist – ein indigener Australier Mitte 20, den wir nur von außen beschrieben finden – treffen wir zuerst in einem Gefängnis im Kunstunterricht an. Der weiße Kunstlehrer Daniel eröffnet den zunehmend brutaler und absurder werdenden (Beschreibungs-) Reigen, es folgen der Gefängniswärter Patrice, ein weißer, erst neulich eingewanderter Franzose, die Gefängnispsychologin Jennifer, ein Hotelbesitzer namens Len, der indische Student Sanji, der als Zugkontroller jobbt, Menschen namens Dean, Debbie, Ariel, Aleisha, Jodie, Chappie, Tony, Adrian. Sie alle haben ihre je eigene Sicht und Erfahrung, was Rassen- und Klassenunterschiede angeht. Die Psychologin Jennifer schaut gerade Stellenangebote im Internet, phantasiert sich eine Welt außerhalb der Gefängnisse, vielleicht als Grundschullehrerin, als sie angesprochen wird.

„Miss.“
She looked at him, he was one of them from the north, from the Kimberley. He had a gorilla’s forehead. She hates herself for thinking it but he did. It hung like a granite ledge over his eyes. His nose was flat and wide-spread across his face, his skin almost blue-black with darkness. He’d been sitting in her chair whispering at her for the last half of an hour about his family back home. How he’d astral travelled last night and flogged his wife in her dreams …

Carson sitzt in der Unit Six, der Tramp Unit, dem Friedhof. Dem Block für die, die extra Sicherheit vor den anderen Gefangenen brauchen. Kinderficker, Informanten, geistig Zurückgebliebene, der Realität enthobene Weltraumkadetten. Der Heimat für die Einsamsten, Verlorensten und traurigsten Gesichter in einer einsamen, verlorenen und traurigen Welt. „Lets go cunt“, ist hier eine ganz normale Ansprache.

Adam Morris verschont seine Leser nicht vor dem Gefängnishorror, dem Durchhängen und der Perspektivlosigkeit draußen und eben wieder und wieder dem Knast, vor dem Absurden und dem Komischen, dem Brutalen. Zwischen 2007 und 2011 war er selbst als Kunst-, Tanz- und Musiklehrer in westaustralischen Gefängnissen tätig, sprach und arbeitete mit Hunderten indigener Männer, jung und alt, war so etwas wie ein Medium für sie, interagierte mit ihnen, verlieh ihren Emotionen und Gefühlen Ausdruck oder half ihnen dabei.

Ich musste bei der Lektüre manchmal an Franz Dobler denken, der in seinem Gedichtband „Ich will doch immer nur kriegen was ich haben will“ davon erzählt, dass er unter anderem fünf Jahre lang in Augsburg im Jugendknast ausprobiert hat, worauf es bei Texten ankommt. Eigentlich dachte er, gehe er da hinein und dann würden sie zusammen Gedichte schreiben. Vierzeiler. Mehr wollte er gar nicht. Aber Pustekuchen. Daran war nicht zu denken. Also brachte er ihnen Texte, manchmal waren sie zu Fünft und es gab kaum Gespräch, manchmal waren sie fünfzehn und es flogen die Fetzen. „Es war nie einfach, aber immer total spannend. Ich selbst habe natürlich am meisten gelernt.“

In Westaustralien, und das ist im Rest des Kontinents nicht anders, liegt der Anteil der indigenen Gefängnisinsassen bei rund 50 Prozent. Man muss das ins Verhältnis setzen zum sonstigen Bevölkerungsanteil, da machen indigene Australier nämlich ganze 2,8 Prozent aus. Bei der letzten Volkszählung 2016 wurden 649.171 Personen als Aborigines oder indigene Bewohner der Torres-Strait-Inseln gezählt, ihnen gegenüber stehen 25,5 Millionen andere Australier. Der Anteil sozialer Probleme ist unverhältnismäßig hoch. Nur ein Faktor dabei: der ganze Kommunen zerstörende Alkoholismus, von der indigen Schriftstellerin Alexis Wright 1997 in „Grog War“ eindringlich beschrieben.

An die 9.000 Tote in Polizeigewahrsam

Nicht umsonst ist die Rassismus-Debatte, die in den USA nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd an sozialem Druck gewann, auch nach Australien übergeschwappt. Auch hier gilt: Black Lives Matter.
Stand Juni 2020 ist seit 1991 die unvorstellbare Zahl von 437 Aborigines in Polizeigewahrsam in Australien zu Tode gekommen. Bereits 1991 hatte die „Royal Commission into Aboriginal Deaths in Custody“ – die höchste, von lokalen Gegebenheiten weitgehend unbeeinflusste Untersuchungsinstitution Australiens – für einen Zeitraum von zehn Jahren neunundneunzig Todesfälle untersucht und war zu dem Schluss gekommen: „Wenn Weiße in Polizeigewahrsam im selben Verhältnis gestorben wären … hätten wir es mit fast 9.000 Toten zu tun.“ 

Trotz dieser Kommission hat sich bis heute wenig verändert. „Die Menschen sterben immer noch auf die gleiche Art und Weise, aufgrund der gleichen Polizeiarbeit, und werden von Gerichtsmedizinern untersucht, die immer noch die gleichen Empfehlungen abgeben“, hieß es in der australischen Ausgabe des „Guardian“. Berühmt-berüchtigt (und eine Ikone der Rechten) wurde der von Chloe Hooper in ihrem großartigen Buch „Der große Mann“ (The Tall Man, 2008) porträtierte Polizist Christopher Hurley, der beschuldigt wurde, 2004 den Ureinwohner Mulrunji Doomadgee auf Palm Island getötet zu haben. Er wurde wegen Totschlags freigesprochen. (Siehe meine Besprechung Reise in das finstere Herz eines Landes.)

Mit 86 Prozent der Bevölkerung, die in einer Handvoll städtischer Gebiete lebt, ist Australien eines der am stärksten urbanisierten Länder der Welt, und eines der reichsten dazu. Im Durchschnitt (Medan) verfügten die Staatsbürger Australiens 2019 über ein Gesamtvermögen von über 191.000 US-Dollar pro Kopf, das ist der höchste Wert weltweit. In dieser Welt sind die Aborigines weithin unsichtbar.

Adam Morris lenkt unseren Blick darauf. Allein das schon hebt sein Buch aus der Menge hervor. In meinem Regal steht es neben „Voss“ von Patrick White, jenem Roman von 1957, der mich als Jugendlichen fortschwemmte, fort in den australischen Busch, wo ein an den echten Ludwig Leichhardt angelehnter deutscher Forscher mit einer Expedition ins Landesinnere zieht und dem Wahnsinn verfällt. Das Buch wimmelt von dislozierten, desorientierten Europäern, wie sicher sie auch immer auftreten. In sich ruhend und letztlich menschlicher sind in diesem Buch – wie gesagt von 1957 – die Aborigines. (Etwas, das Nicholas Roeg in seinem Film „Walkabout“ widerspiegelt.)

Die weißen Kinder, in der Wüste zurückgelassen, und der junge David David Gulpilil auf dem Walkabout – im Film von Nicolas Roeg, 1971

In seiner Doktorarbeit „Whiteness and Australian Fiction“ argumentiert Adam Morris, dass sich „white privilege“, das Privileg des Weißseins, tief in der modernen australischen Kultur verankert hat. Entsprechend gibt es im nicht gerade umfangreichen Literaturkanon einen gerade unproportionalen Anteil von „social justice novels“. Katherine Susannah Prichards „Coonardoo“ (1929) gilt als erster Roman, der sich mit der Realität der Ureinwohner beschäftigte und das Verhalten der Weißen zu ihnen auslotete.

Wer einen sinnlichen Eindruck davon haben möchte, einen welch weiten Weg die Nation hier noch zurückzulegen hat, schaue sich die sogenannte „Redfern Adress“ des damaligen sozialdemokratischen Premierministers Paul Keating an. Diese Rede, 1992 in einem kleinen Park in Sydney gehalten, gilt bis heute als das erste und bis heute klarste politische Wort die Kolonialgeschichte und die Ungerechtigkeiten gegenüber den Aborigines betreffend. Keating sagte darin: 

„We committed the murders. We took the children from their mothers. We practiced discrimination and exclusion. It was our ignorance and our prejudice.“

Adam Morris weiß: „Notwendiger Teil jedes antirassistischen Projekts ist es, den Weißen ihr Weißsein sichtbar, den eigenen Diskurs damit und die sozialen und kulturellen Praktiken klarzumachen, all die materiellen Bedingungen, die diese Dominanz verstecken und bemänteln helfen.“

Das leistet sein großartiger Roman.

Alf Mayer

Adam Morris: Bird. Puncher & Wattmann, Waratah NSW 2020. 258 pages.

PS. Eigentlich bekomme ich immer ein Feuerwerk. Mein schönster Geburtstag in Australien aber war ohne, draußen in der pechdunklen Wüste am Uluru (Ayers Rock, der nie seiner war), wo eine Astronomin mich durch ihr Teleskop weit in die – am Horizont bis auf den Wüstenboden hinabreichende –Milchstraße spähen ließ, noch nie habe ich den Mond so nah gesehen, und ein junger, auf seine Kultur gelassen stolzer Aborigine mir davon erzählte, wie lange es dauert, Bruder Termite mit Honig zu einem geeigneten Stück Holz zu locken, damit er nach und nach aushöhlt, was vielleicht ein Didgeridoo werden kann, „das am meisten falsch gespielte Instrument der Welt, das ihr Weißen alle aus den Fußgängerzonen kennt“ – und mich dann hören ließ, wie man damit den ganzen Kosmos füllen und die Erde zum Singen bringen kann.

Und dann klickte ich mal wieder auf die Internetseite von „Australia Day“. Das kann ich nur empfehlen. So etwas gab es vor zehn Jahren noch nicht.

This is the Story of Australia – the story of an extraordinary nation.
The Story begins 60,000 years ago. New chapters are written every day.
On Australia Day, we reflect on our history, its highs and its lows.
We respect the stories of others.
And we celebrate our nation, its achievements and most of all, its people.

Where do we start? By listening to our stories … We’re all part of the story.

Rock art

Reading ahead mit CrimeMag:
(20) David Whish-Wilson: True West
(19) Andrew Nette and Iain McIntyre (ed): Sticking it to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980(18) David Whish-Wilson: The Coves
(17) Rachel Kushner: The Mars Room
(16) Stephen Greenblatt: Tyrant
(15) John Harvey: Body & Soul
(14) Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal

Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen – Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Charles Bowden: 
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

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