Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Playing Video Games (7): „Half-Life: Alyx“

Das 2020 erschienene VR Game Half-Life: Alyx ist eines der kreativsten, immersivsten und innovativsten Entertainment-Produkte aller Zeiten. Aber dass es so gekommen ist, war eigentlich unmöglich. 

Mit den Ego-Shootern Half-Life (1998) und Half-Life 2 (2004) hat das Entwickler-Studio VALVE jeweils neue Maßstäbe im Gaming gesetzt. Technisch. Gestalterisch. Spielerisch. Erzählerisch. Noch heute sind beide Teile um den theoretischen Physiker Dr. Gordon Freeman, der u.a. mit einer ikonografisch gewordenen Brechstange die Menschheit retten muss, auf allen Bestenlisten vorn mit dabei und lassen Gamer-Augen leuchten. 

Wenn ein Studio gleich zweimal Geschichte geschrieben hat, steht es naturgemäß unter einem gewissen Leistungsdruck. Deswegen gab es auch trotz demonstrierender Fans bisher kein Half-Life 3. Der selbst erzeugte Anspruch und die mit den Jahren immer größer werdende Legacy erdrückte alle Kreativität. Bis es im Jahr 2020 eben doch zu Half-Life: Alyx kam.

VALVE aus Bellevue im US-Bundesstaat Washington sind eine Company wie keine andere. Sie sind nicht an der Börse und gehören auch keinem Konzern, der Druck macht. Sie werben stattdessen damit „Boss-free since 1997“ zu sein. Trotzdem machen sie Milliarden-Umsätze, z.B. mit dem Steam-Store. Sie bilden ein kreatives Ökosystem, in dem es nur eine Regel gibt: Das Beste oder nichts. Es gibt im Grunde keine klaren Hierarchien. Die Idee ist der Boss. Hat jemand ein starkes Konzept, muss er dafür werben und Mitstreiter:innen finden. Interessiert sich niemand dafür, rollt auch niemand seinen beweglichen Schreibtisch rüber, und es entsteht kein Projekt. Das ermöglicht eine Kultur, in der unendlich viel ausprobiert werden kann – aber in der eben auch fast genauso viel wieder beerdigt wird, was keine internen Fans findet. Kompromisse werden nicht gemacht – aber es entstehen viele Zufälle, die die Kreativität beflügeln können. Einer davon führte zu Alyx. VALVE produziert auch eigene VR Brillen, und bei einem VR-Software-Experiment arbeitete ein Entwickler mit einem Shooter-Szenario in der Welt von Half-Life 2. Dieses Demo zog dann wie ein Magnet immer mehr Menschen (und damit auch rollende Schreibtische) magisch an – und die Idee wuchs zum bisher größten Projekt der Firmengeschichte heran. Um ein wenig den Druck zu senken, wurde entschieden, die Geschichte des Spiels inhaltlich zwischen den beiden Vorgängern anzusiedeln. Die Spieler:innen übernehmen die Rolle der Wissenschaftlerin Alyx Vance, die sich mit Hilfe ihres Onkels Russel auf den Weg macht, ihren Vater von den Combine zu befreien – den Aliens, die zuvor im 7-Stunden-Krieg die Welt erobert haben. Außerdem sollte das ganze komplett in VR umgesetzt werden. Die Hoffnung dabei: mit einem starken VR Game das Medium aus der Nische zu holen. 

Wer wissen möchte, was in VR heute möglich ist, kann es hier erleben. Das Environmental Storytelling ist extrem realistisch und voller Liebe zu den Details. Das Spiel beginnt auf einem Balkon und man blickt über die City 17. Herrliche Altbauten, tolle Lichtstimmung – das Ganze ist inspiriert vom morbiden, postsozialistischen Charme der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Aber alles ist dystopisch-bedrohlich durchzogen von einem Spinnennetz aus Stahlseilen, die zentral zu einer Art über Stadt schwebendem Raumschiff führen – „The Vault“ das große Ziel der Mission von Alyx, denn hier, so vermuten sie und Russel, wird ihr Vater gefangen gehalten. Tauben kommen, landen, fliegen weg, wenn wir uns bewegen. Wir nehmen eine der Bierflaschen in die Hand. Die Flüssigkeit glänzt in der Sonne – und ja, wenn man die Flasche schüttelt, schäumt es. Mit Filzstiften kann man eine Glasscheibe beschriften, wie man will, und bei einem Radio nach Sendern suchen. Dann donnert ein Stryder an uns vorbei – ein gigantisches, dreibeiniges Roboter-Insekt … Und das ist erst der Anfang. Jede Szene in den elf Leveln lässts zusammen mit Soundtrack und Soundeffekten eine intensive Atmosphäre entstehen und erzählt damit auch noch ganz beiläufig die Geschichte der Welt, ihrer ehemaligen menschlichen Bewohner und den feindlichen Combine sowie ihrer tödlichen Flora und Fauna, die sich immer mehr in der Welt ausbreiten.

Spannung, Anstrengung, Horror, Kämpfe, Entspannung, Erkundungen, Rätsel und Humor – alles steht in einem sehr gut ausgewogenen Verhältnis. Nie fühlt sich etwas zu lang oder zu kurz an, sondern immer ganz natürlich. Das ist das Ergebnis von unzähligen Spiele-Tests und immer neuen Verbesserungen. Man ist als Alyx auch nicht immer allein. Wenn es die Technik zulässt, ist die Stimme von Onkel Russel per Funk dabei und gibt Hilfestellungen oder flapsige Sprüche. Die Dialoge sind dabei durchgehend intelligent und witzig geschrieben und toll vertont.

Jedes Level hat überraschende Wendungen, bietet neue Gegner, Verbündete und andere Herausforderungen. Eine der härtesten dürfte der blinde Zombie Jeff sein, dem man in einer ehemaligen Wodka-Fabrik begegnet. Das Problem: Jeff hat „ein Gehör wie Mozart“, und die Fabrik ist voller Pilze, die Sporen auswerfen und Alyx zum Husten zwingen.

Half-Life: Alyx ist ein eigentlich unmögliches Spiel, entstanden unter eigentlich unmöglichen Bedingungen: unbegrenztes Budget, unbegrenzte Zeit und unbegrenzter Qualitätsanspruch. Deswegen ist jede Minute ein einzigartiges Erlebnis, bei dem es einem hinterher geht wie nach einer guten Reise: Man sieht die eigene Welt mit anderen Augen.

Mehr über Half-Life Welt und die technischen Anforderungen an das Game findet man hier.

© für die Bilder

Christopher Werth bei uns hier.
Seine Kolumne:
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