Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

nonfiction, kurz – September 2023

Alf Mayer bespricht:

Robert-Tarek Fischer: Die Kreuzzüge der Deutschen. Die Staufer und der Glaubenskrieg 1124-1250
Sulari Gentil, Sarah Kynaston: Undefendable. The Story of a Town Under Fire
Michael S. Karg: Am Anfang war der Knoten
Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung
Mittelweg 36: Starke Männer – Figuren disruptiver Politik
Historisches Museum Basel: Außer Gebrauch.  Alltag im Wandel
Katapult/Rocket Beans: 100 Karten über Gaming und wie es die Welt beherrscht
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur
Jeffrey Toobin: Homegrown. Timothy McVeigh and the Rise of Right-Wing Extremism
John Vaillant: Die Bestie. Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift
Anselm Weyer: Wie die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen eine Blutspur durch halb Deutschland zogen.

Die Aufdeckung von Verbrechen als Verbrechen 

(AM) Dass dieses im April 2021 zuerst erschienene und nun als Taschenbuchausgabe vorliegende Buch keiner Ergänzung bedarf, ist Teil des Skandals. Der Ukraine-Konflikt verdrängt vieles aus dem Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit – auch das Schicksal des seit Jahren inhaftierten Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange. Seit 2019 sitzt er im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh: in Auslieferungshaft für die USA. Zum ersten Mal überhaupt soll mit ihm in den USA kein Whistleblower sondern ein Journalist der Spionage angeklagt werden. Dem Australier drohen 175 Jahre Haft für die Veröffentlichung geheimer Dokumente und Videos auf Wikileaks, zum Beispiel über US-amerikanische Kriegsverbrechen im Irak, darunter jenes berüchtigte Video, das zeigt, wie Piloten aus US-Kampfhubschraubern Zivilisten in Bagdad niederschießen. Bis heute sind weder diese US-Todesschützen noch andere amerikanische Soldaten wegen dokumentierter Kriegsverbrechen an Zivilisten angeklagt worden. Vielmehr ist es im Laufe der Jahre gelungen, das öffentliche Interesse hin zu Assange zu lenken, der diese Verbrechen nicht begangen, sondern lediglich veröffentlicht hat – die Aufdeckung von Verbrechen als Verbrechen.

An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die schmutzige Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Davon ist auch Nils Melzer überzeugt, der sich als UNO-Sonderberichterstatter für Folter gar nicht erst auf den Fall Julian Assange einlassen wollte. In seinem Buch beschreibt er, wie er bei der Aufarbeitung des Falls selbst zu einer Art Dissident und Whistleblower geworden sei, dadurch „dass ich mich aus dem inneren System heraus entschieden habe, die breite Öffentlichkeit zu alarmieren, weil ich im System selbst nicht weiterkomme“. Über die diplomatischen Kanäle sei ihm die Zusammenarbeit systematisch verweigert worden. „Das hat mich schockiert, weil ich es hier nicht mit irgendwelchen Diktaturen zu tun habe, sondern mit westlichen Rechtsstaaten.“ Dabei sei er von den Staaten selbst ernannt worden, um genau solche Fälle zu untersuchen.

Melzer will aber nicht nur auf den Fall Assange aufmerksam machen, sondern auf die Dynamik, die sich hierbei zeigt. „Das ist ja kein Einzelfall“, sagt er. Es ist ein fundamentaler Angriff auf die Pressefreiheit – und ein großangelegter Versuch der USA, ein abschreckendes und einschüchterndes Beispiel für die Presse zu statuieren, dies mit unabsehbaren Folgen für die Presse- und Informationsfreiheit und die Menschenrechte. – Siehe auch den Dokumentarfilm „Hacking Justice“ (2017/ 2021) von Clara López Rubio und Juan Pancorbo, die den ehemaligen spanischen Richter Baltasar Garzón mehr als zehn Jahre begleiteten, der das internationale Verteidigungsteam von Julian Assange koordiniert. Sie konnten auch in den beengten Verhältnissen der ecuadorianischen Botschaft in London drehen, kamen dem politisch Verfolgten so nahe wie sonst nur dieses Buch. 

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter.  Piper Verlag, München 2023 (Erstausgabe 2021). 336 Seiten, Broschur, 14 Euro.

„Verbrecher, Räuber, Mörderbrut – Rebellen!“

(AM) Blutroter Umschlag, schwarze Schattenfiguren, roter Schmutztitel, als Umschlag- und Titelschrift die plakative Bakery Script, „Wahrer Krimi“ als Label, das Papier 90g Munken Print Cream, das ganze Buch verboten haptisch, so schleicht sich dieses enorm süffig geschriebene Sachbuch von Anselm Weyer schon gleich ins Herz. Der Kölner Greven Verlag, bereits mit den drei Titeln „Tatort Köln“ (wahre Verbrechen vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg), „Köln kriminell“ (in der Nachkriegszeit) und „Insel der Seligen“ (Crime in Köln 1918–1926) im Markt der True-Crime-Literatur mehr als angenehm aufgefallen (Besprechungen siehe hier und hier), legt nun mit Wie die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen eine Blutspur durch halb Deutschland zogen sein Meisterstück vor. 

Autor ist der Journalist und Tausendsassa Anselm Weyer, der sich für die schier unglaubliche Geschichte der kriminellen Brüder Johann und Heinrich Heitger und ihrer Cousins Willi und Anton Hübsche, alle aus Gelsenkirchen, ausschließlich auf Quellenmaterial stützt und seiner Phantasie dabei strenge Zügel anlegt. Er habe hier keinen Tatsachenroman mit fiktionalen Bestandteilen vor, er wolle nichts erfinden, versichert er. 

Die Heitgers überfalllen im Juni 1927 in Essen-Rüttenscheid einen Geldboten (Beute 18.000 Reichsmark). Ein in der Aufregung versehentlich abgegebener Schuss macht die Tat zu einem Raubmord und läutet eine kriminelle Karriere ein, zu der sich ein Bankraub in Gladbeck (Beute 36.735 Mark), ein Fluchtquartier in Seehausen am Staffelsee, Messerstechereien in Bayern, ein Einbruch ins Münchner Polizeipräsidium (Beute: Passformulare), eine gekidnappte Straßenbahn und schließlich ein spektakulärer Schusswechsel in Köln gesellen. Die Kinder in Köln und Umgebung jedenfalls, wenn sie Ende der 1920er, Anfang der 1930er gefragt wurden, ob sie Räuber und Gendarm spielten, antworteten: „Wir spielen Heitgers und Schupo!“ Jegliches sensationelle Verbrechen der Zeit wurde damals mit deren Untaten verglichen. Als Verbrechen à la Heitger bezeichneten die Zeitungen im Januar 1929 etwa die mehrstündigen Gefechte der Brüder Barbulowitschin, die sich in einem Dorf bei Belgrad verbarrikadierten, ehe das Militär ihren Unterschlupf anzündete. Ohne gehobenen Zeigefinger und noch bis zur Nazi-Zeit-Todesurteil-Bilanz der Strafrichter erzählt Weyer vom Ende der Gesellen, denen Erich Mühsam ein ebenfalls zitiertes Gedicht widmete: 

Ihr Verbrecher, ihr Räuber, ihr Mörderbrut,
Liebste Brüder, ihr streutet Rebellensaat!
Eurem Leib entfloß aller Geplagten Blut.
Und wider die Satzung zeugt, wider der Staat
Euer Tod – eure Tat!

Anselm Weyer: Wie die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen eine Blutspur durch halb Deutschland zogen. Wahrer Krimi. Greven Verlag, Köln 2023. Hardcover, 236 Seiten, 20 Euro.

Ein Klassiker, zum Funkeln gebracht

(AM) Die moderne deutsche Literatur wird von zwei Autoren erfunden, Lessing und Wieland, schreibt Jan Philipp Reemtsma in seiner Einleitung zu Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Die Worte, mit denen die moderne deutsche Literatur beginnt, lauten: „Die Post ist noch nicht da?“ Das ist der erste Satz von Gotthold Ephraim Lessings „Der junge Gelehrte“, 1748 uraufgeführt. Das war ein vollkommen neuer Ton auf deutschen Bühnen. Lessings Name steht für das Theater, den kulturhistorischen Essay, die Literaturkritik, die Polemik als Gattung. Christoph Martin Wieland ist der andere, mit dessen Werk der Beginn der modernen deutschen Literatur zu verbinden ist. Sein Name steht für den Roman. Für Versroman und –erzählung, für die deutschsprachige Oper, politischen Journalismus, die Übersetzung Shakespeares, Horaz’ und Ciceros und vieler anderer. Lessing blieb präsent, weil er Theaterautor war und seine Muster zu Klassikern wurden. Wieland wurde nie ein Klassiker. Er war nie auf der Premierenbühne und nicht im Lesebuch. Er war und ist bis heute schwer zu fassen, notierte selbst: „Nach meinem Tode wird’s endlich herauskommen, was ich war, und mir wird mit vollem gerüttelten und geschütteltem Maas Gerechtigkeit wiederfahren.“

Dass es die gibt, und dass sie eine höhere ist, zeigt sich an der Person des Biografen. Wieland selbst in seinem Grab in Osmannstedt, von wo einst Arno Schmidt sich ein Efeublatt pflückte und es sich samt Foto ins Album klebte, hätte sich keinen besseren wünschen können. Es ist der Lessing-Preisträger Jan Philipp Reemtsma, der nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Sache die nun erste Biografie seit 70 Jahren zum Klassiker Wieland vorlegt, 704 Seiten stark – ein funkelnd elegantes, ja luzide geschriebenes Orgelwerk gewaltiger intellektueller Größe und vielstimmiger Register und Echowerke (um im Orgelbild zu bleiben), das neben aller kundigen Einordnung vor allem den Erfinder, Aufklärer, Schriftsteller, Journalisten, political animal und Menschenkenner Wieland selbst wieder zum Sprechen bringt.

Der bezeichnete Patriotismus als „Modetugend“, war auch in Sachen Religion ein Skeptiker und in Sachen Erotik und erotischem Witz noch seinen Nachfahren zu frivol. Eine besondere Abneigung hegte er gegen das Vorschriftenmachen, besonders im Denken. Er öffnete die Welt. Reemtsma, der bereits seine Disseration dem erst 2022 wieder aufgelegten Wieland-Roman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ widmete, betont: „Das Problem war und ist nicht, dass man sehr viel wissen muss (oder wenigstens sollte), wenn man Wieland lesen will … sondern dass man sich für sehr vieles interessieren muss, wenn man Wieland genießen will.“ Reemtsmas kluges, schönes Buch hilft ungemein dabei, einen der größten deutschen Autoren wieder lesen zu lernen, seine spezifische Schönheiten wahrnehmen zu können. Welch ein Geschenk.

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2023.  Hardcover, 704 Seiten, 38 Euro.

Das Leben verspielter gestalten

(AM) Wissenschaft für jeden verständlich machen und in originelle Karten übersetzen, das ist das Anliegen des Katapult-Teams. Daraus ist längst ein Magazin (Kopfzeile: „für Eis, Kartografik und Sozialwissenschaft“) mit beständig wachsender Auflagenzahl (derzeit: 90.000) und auch ein Buchverlag geworden. Und nein, nichts ist gut: Heute am 6. September die Schock-Nachricht, dass die Insolvenz droht. Erklärung hier.

Nach „55 Karten über Russland“ (unsere Besprechung hier), „102 Karten über die Ukraine“, „100 Karten und Sex“ und ebenso vielen über Sprache nun 100 Karten über Gaming und wie es die Welt beherrscht. Die Greifswalder haben sich dazu Unterstützung von den Rocket Beans aus Hamburg geholt. Nach einer Doppelseite mit „Blättere um und … STARTE DAS BUCH“ geht es los. Gaming ist ein Ort in Niederösterreich, lernen wir als Erstes, dann folgen 99 Doppelseiten, die auch Noobs, die von Videospielen gar keine Ahnung haben, die Dimension dieses Phänomens klarmachen. 

3,23 Milliarden Menschen, 40,8 Prozent der Weltbevölkerung, sind Gamer:innen. Schätzungsweise 159 Milliarden Euro hat die Gamingbranche 2001 erlöst, das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt Ungarns. Mit Büchern wurde im gleichen Zeitraum nicht die Hälfte umgesetzt. Und die Branche wächst. 57 Prozent der Deutschen lesen regelmäßig, jedoch 59 Prozent spielen Video- und Computerspiele. 48 Prozent der Gamer sind weiblich, 59 Prozent von ihnen verheimlichen beim Spielen aber lieber ihr Geschlecht.

Super Mario ist gefragter als Karl Marx. Die Verleihung der Game Awards sehen sich sechsmal so viele Menschen an wie die der Oscars. Die Playstation 3 ist für das US-Militär enorm wichtig, das erste Computerspiel hieß „Tennis for Two“ und stammt von 1958. Wie politisch „Call of Duty“ ist, wie groß Spielwelten, Umsätze, Energiekosten, Entwicklerstudios, Preisgelder, negative und positive Gesundheitseffekte sind, welche Simulatoren man spielen, wie viele Verfilmungen man sehen und Pokémon-Figuren man kennen könnte, wie Propaganda oder Flucht und Migration in Videospielen vorkommen, das und noch viel mehr, kann man in diesem rundum vergnüglichen und informativen Buch erfahren. Auch Seite 16/17 gibt es zudem Anleitung zur „Gamification“ – eine Anleitung, das Leben verspielter zu gestalten.

Katapult/Rocket Beans: 100 Karten über Gaming und wie es die Welt beherrscht. Katapult Verlag, Greifswald 2023. 208 Seiten, Hardcover, 28 Euro. 

Fäuste, Sonnenbrillen, Fans und Pferde …

(AM) Zum „locker room talk“, den Donald Trump wie kein anderer salonfähig machte, gehört seit Aiwanger nun künftig wohl auch der Schulranzen, in dem die abscheulichsten Pamphlete ihr Aufenthaltsrecht in der Gesellschaft finden. Und auch wenn Hubert Aiwanger wohl eher zu den Möchtegerns gehört, seine Vorbilder sind ganz klar Starke Männer – Figuren disruptiver Politik, denen der Mittelweg 36, die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Sommerausgabe 2023 widmet. Aus dem politischen Geschehen der Gegenwart sind die starken Männer nicht mehr wegzudenken, ob sie nun Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Jair Bolsonaro, Narendra Modi oder Rodrigo Duterte heißen. Sie sind „Figuren disruptiver Politik“ und als solche erstaunlich erfolgreich. Das Heft fragt nach Erklärungen für ihr gehäuftes Auftreten in der politischen Welt des 21. Jahrhunderts ­– und wie immer beim „Mittelweg 36“ ist das lehrreich und spannend.

„Die Strongmen des 21. Jahrhunderts sind ein globales und ein in vielen Farben schillerndes Phänomen. Was sie eint … ist ein disruptiver Politikstil, der historisch gewachsene politische Allianzen erschüttert, mit bestehenden Inszenierungsroutinen und politischen Gepflogenheiten bricht sowie Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen schürt… Sie zeichnen das Bild einer antagonistischen Welt voller Feinde, in der nur diejenigen eine Chance haben, die alle Tricks beherrschen und rücksichtslos ihre Interessen verfolgen“, befinden Ulrich Bröckling, Dorna Safaian und Nicola Spakowskil im Hauptartikel. Ein eigenes Porträt gilt der „starken Frau“ Marie Le Pen, ein gutes Interview dem Nachbeben des Caudillismus, eine andere Untersuchung dem „komischen Typus“: Clown, Buffon, Troll. Verstärkten Auftritt hat dieses Mal die Bildwelt: mit Fäusten, Sonnenbrillen, Fans, Pferden und der Menge als Accessoirs der Strongmen. Der Ortstermin, immer eine schöne Rubrik zum Heftausgang – aufgepasst, lieber Johannes Groschupf – gilt dem Lesessal.

Mittelweg 36: Starke Männer – Figuren disruptiver Politik. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 3-4, Juni/Juli 2023. 160 Seiten, Broschur, 24 Euro. Verlagsinformationen.

Was uns verbindet, und was die Welt zusammenhält

(AM) Es war nicht das Rad, Am Anfang war der Knoten, Michael S. Karg weist das in seiner mit feinem Sprachwitz vorgetragenen, immer wieder überraschenden Kulturgeschichte überzeugend nach. Leinen und Knoten sind das einzige Werkzeug der Vorzeit, das sich heute noch in jedem Haushalt und oft auch in unserer Hand befindet. Wenn man sich, wie der Autor empfiehlt, die Knotenbrille aufsetzt, wird mit diesem Buch mehr und mehr klar, wie sehr der Alltagsgegenstand Knoten die Menschheitsgeschichte geprägt hat, wie wichtig und vielfältig er in unserer Gegenwart ist und in der Zukunft sein wird. 

Es gibt weit mehr als 3.000 verschiedene Knoten „zum Verschnüren und Verschließen, Abbinden, Abseilen, Anbinden, Aufhängen, Befestigen, begrenzen, Bündeln, Dekorieren, Fangen, Fesseln, Flechten, Halten, Spannen, Stoppen, Ummanteln, Vernetzen und Ziehen“ – und das gilt nur für Leinen. Schon seit tausenden Generationen verwandeln Menschen mit dem Knoten einfache Leinen, ob Schnur, Strick oder Seil, in Werkzeuge, Symbole, Zeichen, Zierden oder Mittel der Magie. Umso erstaunlicher, dass es keine Wissenschaft dazu gibt. Michael S. Karg liefert jede Menge Argumente dafür.

Ein Seil und ein Knoten brauchen Verstand und Kenntnis für die Herstellung, ohne Glauben und Vertrauen aber sind sie nicht zu verwenden. Es verwundert den Autor nicht, dass Knotensymbole und Knotenornamentik gerade im sakral-spirituellen Bereich seit Jahrtausenden so verbreitet sind. Noch heute knüpfen die Franziskaner zum Beispiel drei Knoten in ihre Kordel – das „Cingulum“. Sie stehen für die drei Tugenden Armut, Gehorsam und Keuschheit. Michael S. Karg führt uns, zwei Beispiele unter Hunderten, auch zum Lassoknoten der Cowboys und zum Henkersstrick, macht vielerlei Verbindungen sichtbar. Fröhliche Wissenschaft aus dem Verlag zu Klampen, Chapeau!

Michael S. Karg: Am Anfang war der Knoten. Die zentrale Bedeutung des Knotens für die Menschheit. Eine Kulturgeschichte. Verlag zu Klampen, Springe 2023. 296 Seiten, mit Abb., 28 Euro.

Kleine Kulturgeschichte der Dinge 

(AM) Noch bis zum 17. September 23 läuft im Historischen Museum Basel die Ausstellung „Außer Gebrauch – Alltag im Wandel“. Im zugehörigen und gleichnamigen Buch (ja, tatsächlich: mehr solides, haptisch schönes Buch als Katalog) erzählen achtzig Alltags- und Haushaltsobjekte aus den letzten drei Jahrhunderten auf je einer Doppelseite ihre Geschichte. „In den Dingen manifestiert sich der Wandel des Alltagslebens“, konstatiert Kuratorin Margret Ribbert, die diese Ausstellung aus den über 300.000 vom Basler Museum verwahrten Objekten zusammengestellt hat. 

Manche der einst überaus praktischen Dinge kennt man noch, auch wenn man sie nicht mehr benutzt: die Schreibmaschine etwa, die Messerbänkchen, das Telefon mit Wählscheibe. Was aber war ein „Vatermörder“? Ein „Pantoffelheld“? Ein „Stiefelknecht“? Was hat es mit Puderbläser, Tragring, Bouquetthalter, Eiskasten, Essigfass, Fußwärmer, Leinenpresse, Nachtstuhl oder Bartschüssel, Geldstrümpfen oder Gesäßpolstern auf sich? Wozu brauchte man Tintengeschirr, Rauchverzehrer, Buttermaschine oder Garnspulenhalter. Manche der Objekte halfen beim schonenden Umgang mit Ressourcen, manche waren wichtige Gegenstände im Lebens- oder Tagesablauf, manche zeugen von längst vergangenen Hygienevorstellungen, Sitten und Gewohnheiten.  Allesamt sind sie Zeugen vergangener Alltagskultur, das kluge und kundige Buch insgesamt ein Zeugnis des Verlusts an Gegenständlichkeit. 

Margret Ribbert (Hg.) für das Historische Museum Basel: Außer Gebrauch.  Alltag im Wandel. Christoph Merian Verlag, Basel 2023. Hardcover, 224 Seiten, 147 meist farbige Abbildungen, 38 Euro.

„… und wird einst wiederkommen“

(AM) Die Ära der Kreuzzüge ist ohne die Deutschen nicht denkbar, schreibt der Wiener Historiker Robert-Tarek Fischer. Nach einem Buch über „Österreichs Kreuzzüge“ widmet er dem Thema mit „Die Staufer und der Glaubenskrieg 1124-1250“, so der Untertitel, nun eine Monographie. Mit 272 Seiten ist sie schlank, knackig und ausgesprochen lesbar. Fischer gehört zu einer jüngeren Historikergeneration, die ohne Umschweife zum Punkt kommt.

Über vier Generationen hinweg führten die Staufer gewaltig große Armeen – die ersten gesamtdeutschen der Geschichte – in den Orient. Zu den Heerscharen gehörten nicht nur Ritterverbände und kampferprobte Fußtruppen, sondern auch mittellose Pilger, Frauen, Abenteurer und Gesetzesbrecher. Angeführt wurden sie, das war neu, von einem König. Zuvor waren es immer Fürsten gewesen, die in die Schlacht zogen. Den immensen Strapazen und Gefahren auf dem 3.000 Kilometer langen Landweg und einigem an Massensterben zum Trotz, fanden sich in der Staufer-Ära immer wieder Abertausende, die „für den Kampf um das Heilige Land“ bereit waren und „für Christus Kriegsdienst leisten“ wollten (Konrad von Hohenstaufen, 1124). 

Es war ein Glaubenskrieg mit Tiefenwirkung, die Deutschen und die Staufer dabei im Zentrum des Geschehens. Ein Staufer-Stammbaum zu Beginn des Buches zeigt die genealogischen Verästelungen. Das interessant illustrierte Buch selbst arbeitet heraus, was Friedrich Rückert in seiner schlicht „Barbarossa“ betitelten Ballade von 1817 so benannte: „Er hat hinabgenommen/ Des Reiches Herrlichkeit. / Und wird einst wiederkommen,/ Mit ihr, zu seiner Zeit.“ Nicht nur der nationale Reichsmythos, den dann Hitler mit seinem „Unternehmen Barbarossa“ betitelten Führerwahn zu erfüllen versuchte, hat seine Ursprünge im 12. und 13. Jahrhundert. Deswegen ist dieses Buch aktuell.

Robert-Tarek Fischer: Die Kreuzzüge der Deutschen. Die Staufer und der Glaubenskrieg 1124-1250. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 2023. 272 Seiten, illustriert, 35 Euro.

Die Zukunft ist schon da (Feuer 1)

(AM) „Wenn uns das Feuer des 21. Jahrhunderts etwas gelehrt hat, dann, dass es keine Obergrenze gibt“, fasst John Vaillant die Recherchen für sein Buch Die Bestie. Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift zusammen. Anlass für seine Flammenschrift waren die kanadischen Waldbrände von 2016/ 2017, eine der größten Naturkatastrophen in die Geschichte Kanadas. Die monatelang unkontrollierbar wütetenden Feuer machten eine ganze Stadt dem Erdboden gleich: Fort McMurray, 100.000 Menschen mussten vor dem Brand fliehen Das Feuer – von den Einsatzkräften „Die Bestie“ genannt – schien sich just dort für die Zerstörung der Natur zu rächen, wo Ölkonzerne mit dem Abbau von Rohstoffen immense Vernichtungen des Ökosystems Wald anrichten.

Der Wahlkanadier Vaillant, vielfach für seine Naturreportagen ausgezeichnet, vollzieht in seiner packenden Reportage nach, wie lange die Petro-Konzerne schon von den klimaschädlichen Auswirkungen ihres Geschäftsmodells wissen und wie die skrupellose Gier nach fossilen Brennstoffen von den Elementarkräften der Natur in die Schranken gewiesen wird. Mit dem Klimawandel wachsen sich Brände überall auf dem Planeten immer häufiger zu unaufhaltsamen Katastrophen aus. „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gerecht verteilt“, sagt der Futurist William Gibson dazu. Und oft folgt nach dem Feuer die Flut. Begünstigt von der Rauch- und Wolkenbildung durch die Brände kommt es zu verheerendem Starkregen. Immer öfter bis zu 1000 Liter pro Quadratmeter, die jährliche Niederschlagsmenge von München, an einem Tag.

John Vaillant schreibt fundiert und poetisch, da legt sich orangefarbenes Licht „wie ein vom Feuer beschienenes Grabtuch“ über die Landschaft, da skizziert er das Innenleben von Ölkonzernen wie Exxon, 1982 das größte Industrieunternehmen der Welt, da weitet er seinen Blick auf unsere Abhängigkeit vom Öl und die damit einhergehenden Verwüstungen. Erlebten die kanadischen Provinzen British Columbia und Alberta 2017 die schlimmste Brandsaison ihrer Geschichte, so hat sich das bereits überholt. In Kanada wüteten 2023 so viele Brände als wären alle deutschen Wälder verbrannt. – Und dann sind da auch Spanien, Griechenland, Brasilien, Australien … Die Erde wird heißer, die Brände nehmen zu. Das Feuer wird zur Macht. Zur Jahrhundertmacht, meint Vaillant.

John Vaillant: Die Bestie. Wie das Feuer von unserem Planeten Besitz ergreift (Fire Weather. The Making of A Beast, 2023). Aus dem Amerikanischen von Iris Hansen, Teja Schwaner. Ludwig Verlag, München 2023. Hardcover, 528 Seiten, 24 Euro.

Dem Feuer ganz nahe (Feuer 2)

(AM) Der Bestie Feuer, wie sie über eine Kleinstadt hinwegrast und was sie an Schmerz und Spuren in Land und Menschen brennt, lässt sich in Undefendable. The Story of a Town Under Fire näherkommen. In einer besonderen Form von oral history hat die australische Kriminalautorin Sulari Gentil zusammen mit Co-Herausgeberin Sarah Kynaston Erinnerungen, Gedichte, social media posts ihrer Nachbarn im australischen Batlow zusammengetragen. Sie alle haben die gleiche Feuerwalze überlebt, sie alle waren dabei, als ihr kleiner Ort am 2. Januar 2020 als „undefendable“ (unhaltbar) klassifiziert wurde.

Batlow (1313 Einwohner) liegt eine Autostunde von Walla Walla in New South Wales, Australien, am Rande der Great Dividing Range und ist für seine Äpfel bekannt. 50 Obstbauern liefern dort zehn Prozent der australischen Apfelernte an den Markt.
Entgegen der Evakuierungs-Warnungen blieben viele Einwohner vor Ort. Die Freiwillige Feuerwehr, der aus Farmern, Lehrern, Handwerkern, Ruheständlern und Schulabgängern bestehende Rural Fire Service (RFS), konnte das Schlimmste verhindern. 17 Gebäude und das alte Krankenhaus brannten nieder. Das Feuer erreichte auch Sulari Gentils Farm – während ihr Mann und ihr 18jähriger Sohn als Feuerwehrleute im Einsatz waren. 

Zwischen November 2019 und Februar 2020 zerstörten die Buschfeuer in Südaustralien 18,6 Millionen Hektar Land und Wald, töten 34 Menschen und über drei Milliarden Tiere. Wir bei CulturMag berichteten davon in zwei Ausgaben, siehe „Kontinent in Schockstarre„, auch Sulari Gentil, Adrian Hyland, Alan Carter, Stephen Greenall, David Whish-Wilson, Jock Serong schrieben bei uns darüber.

Sulari Gentil, Sarah Kynaston: Undefendable. The Story of a Town Under Fire. Clan Destine Press, Bittern/ Victoria 2022. 176 Seiten, viele Abbildungen, (bei amazon.de derzeit für günstige) 5,64 Euro.

Eine ganze Armee, „dort draußen…“

(AM) Es war eine bewusst eingesetzte Rattenfänger-Flöte, dass Donald Trump den Beginn seiner aktuellen Präsidentschafts-Kampagne jetzt im März keine drei Wochen vor dem 30. Jahrestag in Waco, Texas, direkt vor Ort setzte. Klarer kann man eine Botschaft an den extrem rechten Rand nicht senden. Genau zwei Jahre nach Waco, am 19. April 1995, fuhr Timothy McVeigh einen Ryder-Truck mit einer 3.1800-kg-Dünger-Bombe auf der Ladefläche in das Alfred P. Murrah Federal Building in Downtown Oklahoma City. Er parkte das Gefährt, setzte die Lunte in Brand, ging seelenruhig zu seinem Fluchtauto und fuhr davon. Die Explosion zerstörte ein Drittel des Gebäudes, tötete 167 Menschen, darunter 19 Kinder. Bis heute ist Timothy McVeigh, 2001 hingerichtet, ein Märtyrer der rechten Szene.

Der Prozess damals zeichnete ihn als „Lonely Wolf“, mit gerade einem Mitverschwörer. Mitverantwortlich für dieses fatal harmlose Bild: der damalige Vertreter der Anklage, der heutige US-Justizminister Merrick Garland. Mehr als ein Hühnchen hat Autor Jeffrey Toobin, damals als Gerichtsreporter dabei, in seinem Buch Homegrown. Timothy McVeigh and the Rise of Right-Wing Extremism mit ihm zu rupfen. Riesenaufregung übrigens bei den Konservativen damals (John Boehner der höchste Republikaner), dass McVeigh von der Anklage als „Terrorist“ bezeichnet wurde: Dieser Begriff sei Ausländern vorbehalten, hieß es.

Noch wichtiger in diesem Buch aber ist „die direkte Linie“ vom Bombenanschlag in Oklahoma zum Sturm von Trumps Kohorten auf das Capitol am 6. Januar 2021. McVeigh war ein dekorierter Veteran von Operation Desert Storm, bezog seine Handlungsanweisungen für den Rassenkrieg direkt aus den infamen „Turner Diaries“. Er verstand seinen Bombenanschlag als „militärische Aktion, war keineswegs ein Einzelgänger. Er war von einer Ideologie erfüllt und von einer politischen Bewegung motiviert. Immer redete er von einer „Armee“ von Gesinnungsgenossen „dort draußen“, auch wenn er sie nicht zu erreichen wusste. Trump weiß es – und hat die Flöte. Das macht ihn buchstäblich brandgefährlich.

Jeffrey Toobin: Homegrown. Timothy McVeigh and the Rise of Right-Wing Extremism. Simon & Schuster, New York 2023. 418 Seiten, 29,99 USD. 

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