Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

non fiction, kurz – Februar 2023

Sachbücher, kurz besprochen

Von Joachim Feldmann (JF) und Alf Mayer (AM):

Felix Hartlaub: Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier
F. Januschek/ M. Pohlmeyer: Science Fiction. Horror, Hoffnung und Wissenschaft
Ben Macintyre: Agent Sonja
Denis Scheck: Schecks kulinarischer Kompass

Innenansichten 

(AM) „Am besten erzähle ich einfach, was sich mir täglich sichtbar zeigt; vielleicht kommt man gerade damit dem Unsichtbaren, das natürlich das Entscheidende ist, am nächsten.“ Mit diesem Zitat eröffnet die Felix-Hartlaub-Gesellschaft auf ihrer sehr empfehlenswerten Internetseite den Blick auf einen der schärfsten Beobachter der Nazi-Zeit. Er hat sie von innen, ganz nah, und sogar dann im Generalstab und nahe bei Hitler erlebt. Von Felix Hartlaub (1913 – 1945) verlor sich im umkämpften Berlin zwei Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs jede Spur, sein schmales Oeuvre, Prosatexte und Briefe, wurde posthum veröffentlicht, seine Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier jetzt in der Bibliothek Suhrkamp neuaufgelegt. Erhältlich sind bei Suhrkamp auch seine „Kriegsaufzeichnungen aus Paris“ und „Aus Hitlers Berlin: 1934 bis 1938“, dazu der biografische Band „Der verschwundene Zeuge: Das kurze Leben des Felix Hartlaub“ von Matthias Weichelt. 

Hartlaub wurde nur 31 Jahre alt. Was hätte unsere Nahkriegslitertaur von ihm alles gewinnen können! Gewiss mehr als eine blecherne Trommel … Als Sohn des Direktors der Kunsthalle Mannheim besuchte er die Odenwaldschule in Heppenheim, wuchs mit Kunst auf, die er wenige Jahre später als „entartet“ gebrandmarkt sah. Er war 20, als die NSDAP in Deutschland an die Macht kam, war kein Nazi, aber auch kein Widerstandskämpfer, ging als Rekrut zur Wehrmacht, kam als historischer Sachbearbeiter ins besetzte Paris, arbeitete dann in der „Kriegsgeschichtlichen Abteilung im Oberkommando der Wehrmacht“ und verfasste schließlich im sogenannten Sperrkreis II der Führerhauptquartiere Teile des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht (im nicht allzu hohen Dienstgrad eines Obergefreiten), erlebte in der Wolfsschanze das Stauffenberg-Attentat mit.

Zitat: „Mensch, tu mir bloss den einen Gefallen und verlass so schnell wie möglich dieses Räuberquartier, diese Werwolfshöhle, der Blutdunst muss dich ja betäuben, melde dich an die Front, zu den Fallschirmjägern meinetwegen, zu den Einmanntorpedos, bloss damit du loskommst, das ist sittliche Pflicht, hörst du.“

Felix Hartlaub: Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier. Herausgegeben von Gabriele Lieselotte Ewenz, Nachwort Matthias Weichelt. Bibliothek Suhrkamp 1540, Berlin 2022. 192 Seiten, gebunden, 23 Euro.

Zwischen den Welten

(AM) Die Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, an denen unser Hausautor Markus Pohlmeyer nicht unwesentlich Anteil hat – seine Texte bei uns hier –, verstehen sich als interdisziplinäre Entdeckungsreise, bewegen sich zwischen Literatur, Philosophie, Theologie und Natur- und Sprachwissenschaften, beschäftigen sich mit Büchern, Filmen, Serien, Comics und mehr und sind wandlungsfähig und vielgestaltig in der Darstellung. Science Fiction sehen die Herausgeber des aktuellen Bandes als mindestens janusköpfig an. Bereits die Kapitelüberschriften machen das deutlich: Aliens und fiese Mächte, Androiden und Unsterblichkeit, Dystopien, Politische SF, Kosmologie und Gut und/oder Böse.

Die zehn Autorinnen und Autoren des Bandes durchmessen ein ganzes Universum, dies auch stilistisch. Der Sprachforscher Ulf Harendarski beschreibt, wie Fiktion von der Realität eingeholt wird, Mitherausgeber Franz Januschek diskutiert systematisch, ob Menschen mit Unsterblichen und Unsterbliche miteinander überhaupt sinnvoll reden können. Katharina Niemann verlängert die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bis in ein Jahr 2027, Günter Rinke erzählt subjektiv wie Menschlichkeit verloren geht. Sven Friedrich widmet sich der Serie „The Blacklist“, Markus Pohlmeyer dem „Dune-Universum“, dem Film „Ich bin dein Mensch“ und Isaac Asimovs Foundation. Ein Kabinettstück ist sein in Spielszenen aufgelöster Essay zu Cixin Lius „Supernova“ über Anfang und Ende der Welt. Steigen Sie ein…

Franz Januschek, Markus Pohlmeyer (Hg.): Science Fiction. Horror, Hoffnung und Wissenschaft. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Band 27. Igel Verlag, Hamburg 2023. 156 Seiten, 22 Euro.

Genuss in vieler Form

(AM) Ein Genießer plaudert aus der Küche. In fast 60 Kapiteln geht es um den eigenen Herd ebenso wie um Märkte, Reisen, Restaurants und Essenseinladungen, um Mundpropaganda, Nudelneid und Pizza, um Streetfood, Hotellobbys und Sterneküche, um Gastlichkeit, Seelenheimat und Lieblingsrezepte – und immer, immer, unerbittlich immer, auch um Qualität. Der Literaturkritiker Denis Scheck beweist auch in seinem Küchen-Kompendium (s)eine scharfe Zunge, das macht sein haptisch schön in der Hand liegendes Buch Schecks kulinarischer Kompass so appetitanregend.

Wir erfahren über Bratapfel und Brezen, Lebkuchen (von Düll, Nürnberg), Calvados, die Liebe zur Eismaschine und zum Waldmeister, Barcelona als Welthauptstadt der Gourmandise, über Maultaschen, Spätzle, Seeigel, alte Apfelsorten, Vin Jaune aus dem Schweizerischen Jura, die beste Schokolade. Die Oyster Bar in der New Yorker Grand Central Station wird ebenso besucht wie ein Pfefferimporteur in Köln, Küchenläden auf der ganzen Welt und besonders Dehillerin in der Rue Coquuillère in Paris. Das Austernkapitel ist beinahe zehn Seiten lang und damit fast untypisch, der Blick in all die Töpfe und Gewürzschubladen wird dank feiner Dosierung, immensem Hintergrundwissen und schelmischer Dramaturgie zu einem vielgängigen Genuss.

Wir begegnen Fontane als Suppenfreak und der Hölle in Glühweinform, kochen mit Erika Fuchs und Donald Duck ebenso wie mit Großmüttern und Küchenmeistern. Am Herd, schreibt Denis Scheck, schärfe er sein Selbst. Trainiere er seine Wahrnehmung, öffne er seine Sinne, lerne, den Blick auf scheinbar Nebensächliches zu lenken. Der Weg vom Rohen zum Gekochten ist ihm das älteste Narrativ der Welt. Davon weiß er verblüffend anregend zu erzählen. – Mit freundlicher Genehmigung des Verlages finden Sie hier in dieser Ausgabe nebenan sein Kapitel über den Mordshunger in Regionalkrimis als Textauszug.

Denis Scheck: Schecks kulinarischer Kompass. Köstliches und Kurioses aus meiner Küche und aus aller Welt. Mit 17 Schwarz-Weiß-Abbildungen von Torben Kuhlmann. Piper Verlag, München 2022. 300 Seiten, Hardcover, Lesebändchen, 26 Euro.

Gespür für einen außergewöhnlichen Stoff

(JF) Geboren wurde „Agent Sonja“ 1907 als Ursula Kuczynski in Berlin, wo sie 93 Jahre später auch starb. Zu diesem Zeitpunkt hieß sie Ruth Werner, eine lange Karriere als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern lag hinter ihr. Das war in der DDR. Das wiedervereinigte Deutschland behagte ihr nicht, denn der humanere, reformierte Kommunismus, den sie in ihrer Rede bei einer Kundgebung am 18. Oktober 1989 im Berliner Lustgarten vorhergesagt hatte, blieb ein Wunschtraum. Von ihrer politischen Überzeugung mochte sie dennoch nicht lassen. Schon als Teenager dachte sie radikal, marschierte bei der proletarischen Maidemonstration mit und bekam einen Polizeiknüppel zu spüren. Das spornte sie nur noch mehr an. Ihre großbürgerlichen, linksliberalen Eltern reagierten tolerant, denn sie hielten die politische Orientierung der enthusiasmierten jungen Frau für ein vorübergehendes Phänomen. Ein gewaltiger Irrtum. Ursula Kuczynski wurde zu einer der erfolgreichsten Agentinnen des 20. Jahrhunderts im Dienste der Sowjetunion. Oder der internationalen Arbeiterklasse, wie sie selbst wahrscheinlich eher gesagt hätte. Von Shanghai über Moskau und die Schweiz führte ihr Weg bis in die englische Provinz und 1950 zurück nach Deutschland. Denn in den idyllischen Cotswolds war ihr der  Boden zu heiß geworden. Immerhin hatte sie, als harmlose Hausfrau getarnt, ein Netzwerk aufgebaut, zu dem  unter anderem der Atomspion Klaus Fuchs gehörte. Und der britische Geheimdienst war ihr dicht auf den Fersen.

Also verbrachte „Agent Sonja“, so ihr Codename, die letzten 50 Jahre ihres Lebens in Deutschland, in der DDR eine hochdekorierte Parteigenossin und ab 1990 ziemlich desillusioniert. Dass „was wir für Sozialismus hielten, fatale Mängel aufwies“, meinte sie, die anders als viele Freunde und Gefährten die stalinistische Schreckensherrschaft überlebt hatte, allerdings schon vorher erkannt zu haben. Solch ein abenteuerliches Leben in den Wirren des blutigen 20. Jahrhunderts ruft förmlich nach einer Biografie.

Dass diese Biografie aus Britannien kommt, ist vielleicht symptomatisch. Im Vereinigten Königreich ist das Interesse an (wahren) Spionagegeschichten immer noch stärker als bei uns. Und der Bestseller-Autor Ben Macintyre ist ein Profi des Genres. Mit spürbarer Empathie und Sinn für private Details erzählt er die Lebensgeschichte einer Überzeugungstäterin. Manchmal ein bisschen flapsig und flott im Urteil, manchmal ziemlich metaphernverliebt, aber mit einem präzisen Gespür für seinen außergewöhnlichen Stoff. Empfehlenswert!

Ben Macintyre: Agent Sonja. Kommunistin, Mutter, Topspionin. Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeld und Jürgen Bürger. Insel Verlag, Berlin 2022. 470 Seiten, 26 Euro.

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