Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Kolumne Iris Boss (4)

Iris Boss © Birgitta Weizenegger

Pizza Sociale

Der tollste Mann der Welt will jetzt, dass ich Burka trage, und Ihr seid schuld daran! Und das kam so: Wir sitzen auf der Terrasse bei „unserem Italiener“. „Wurde wirklich Zeit, dass wir mal wieder bei „unserem Italiener“ essen!“, sagt der tollste Mann der Welt und spiesst eine Olive auf einen Zahnstocher. Ich frage mich gerade, ob der Begriff „unser Italiener“ nicht ziemlich kolonialherrenartig anmutet, doch bevor ich die Diskussion darüber eröffnen kann, kommt auch schon „unser“ Kellner mit der Pizza für den Mann und den gemischten Vorspeisen für „la più bella signora”. (Ich habe längere Zeit in Italien gearbeitet und habe dort – wenn überhaupt – ein prosaisches “Buon appetito!” zum Essen serviert bekommen. Entweder konnte ich mit den Italienerinnen nicht mithalten, oder es ist bei “unseren Italienern” eine Kunstfigur des italienischen Kellners entstanden, die zu den Antipasti gleich ein paar Klischees mitliefert, die mit der Realität nicht viel zu tun haben.) 

Ich fühle mich noch wohler als sonst bei “unserem Italiener”. Die Tische stehen, dank Corona,  angenehm weit auseinander. Von mir aus könnte das so bleiben. Lieber 3, statt 1,5 Meter und das für immer und nicht nur in Restaurants, sondern überall, zu allen Menschen, mit denen man keine intimen Kontakte pflegt. 

Als sich der tollste Mann der Welt gerade das erste Stück der wagenradgroßen Pizza in den Mund schieben will, beginnt ein Stehgeiger, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, direkt neben unserem Tisch zu spielen. Ich würde am liebsten schon nach den ersten Tönen mein Portemonnaie zücken, damit er aufhört. Vielleicht ist das sogar so gedacht. Aber wäre das nicht unhöflich? Ihn wiederum zu ignorieren wäre ganz sicher unhöflich und ist – schon aus Solidarität unter Künstlern – nicht drin. Nichts ist so schlimm wie „Bockwurst-Muggen“ – Chanson-Singerei bei Kaffeegeschirrgeklapper, launige Sketche spielen, während Gänsebraten und Knödel serviert werden. Entwürdigende Dinge, wie Ms. Marple beim Krimi-Dinner zum Besten zu geben, blieben mir zum Glück bisher erspart. Aber wer weiß, wie lange noch? Es ist schließlich Krise – der Gesichtsverleih hat schon florierendere Zeiten gesehen – und ich bin in Schauspielerinnen-Jahren mindestens Hundertzwanzig. Wahrscheinlich werde ich in gar nicht so ferner Zeit froh und dankbar sein, wenn ich vor kauendem Mob einen Fall lösen oder Rilke-Gedichte in saucenbeschmierte Zuschauergesichter sprechen darf:

Wie soll ich meine Seele halten, daß 
sie nicht an deine rührt? – Wenn der jetzt noch ein Bier bestellt, spucke ich in sein Glas!

Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen? – Hätte ich doch bloß etwas Anständiges gelernt!
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas 
Verlorenem im Dunkel unterbringen 
an einer fremden stillen Stelle, die 
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen. – Ich will irgendwo anders sein. Irgendwo, nur nicht hier, in der mampfenden Masse!
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, 
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, 
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. – Ich muss dankbar sein! Andere haben gar keinen Job! Gleich kommt das Dessert, dann kann ich zu meinem Wodka – nee, zu teuer, zu meinem Korn und meinen Schlaftabletten in mein schäbiges 10 Quadratmeter WG-Zimmer im feuchten Souterrain.
Auf welches Instrument sind wir gespannt? 
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

Der Geiger vor unserem Tisch hat uns jedenfalls totalstens in seiner Hand. Er stimmt jetzt schon das zweite Stück an und scheint nicht vorzuhaben, zu einem anderen Tisch zu ziehen. Dabei sitzen neben uns noch viele andere Paare, die als Romantik-Konsumenten in Frage kämen, auf der großen Terrasse. Meine Stimmung ist durch die düsteren Zukunftsvisionen ziemlich im Keller und mein Appetit mit den Geigentönen in den Wind geflogen. Dazu kommt, dass der Musikant wahrscheinlich Rumäne oder Bulgare ist. Und so gemein und rassistisch das auch ist, ich muss sofort an „Tönnies“ denken. Die Salami und den Schinken habe ich bereits an den Mann weitergereicht, habe aber das „Vitello“ am „Tonnato“ vergessen. Das wandert jetzt auch noch auf seinen Teller. 

Lustlos blicke ich auf die getrockneten Tomaten und die zwei Artischockenherzen, die noch auf meinem Teller liegen. Dem tollsten Mann der Welt scheint es ähnlich zu gehen mit der unangenehmen Situation. Seine Pizza dürfte inzwischen kalt sein. „Naja, der kann Dinge, die wir nicht können.“, sagt er, als müsste er sich für das unerwünschte Konzert entschuldigen. „Das stimmt“, denke ich. Der Mann mit der lindgrünen Bundfaltenhose versucht mit etwas, das er zwar nicht virtuos, aber doch viel besser beherrscht als ich, sein Geld zu verdienen. Mit etwas grundsätzlich Schönem, wie Musik. Es braucht bestimmt einiges an Überwindung, das auf diese Weise zu tun, und wahrscheinlich wäre auch er gerade lieber woanders. Ich beschliesse, die Situation, inklusive Geiger, so anzunehmen, wie sie ist. Da steht nun einmal jemand einen Meter vor mir und geigt, also kann ich ihn auch ansehen. Das tue ich und lächle den Geiger, der meinen Blick erwidert und seinerseits lächelt, an. „Nein!“ – der tollste Mann der Welt schlägt die Hände vors Gesicht. „Na, jetzt kriegen wir den nie wieder los…!“ Er behält recht. Hochmotiviert wird das dritte Stück angestimmt. Der Blick, den mir der tollste Mann zuwirft, spricht Bände. „Na, was denn? Ich habe gelächelt, na und?“ Die Stimmung an unserem Tisch ist angespannt. Um sie wieder etwas zu lockern und um die Zeit zu überbrücken, in der wir weiterhin hungrig vor unseren Tellern sitzen, erzähle ich dem tollsten Mann die kurze Episode, die ich vor einigen Tagen erlebt habe: 

Auf einem meiner langen Spaziergängen ging ich an einem jungen Mann vorbei, der auf einer Bank vor EDEKA saß. Die Sonne schien, ich hatte gute Laune, und er offensichtlich auch. Er trug große Kopfhörer, blinzelte in die Sonne und trommelte mit seinen Händen den für mich unhörbaren Rhythmus mit. So ganz für sich und ganz zufrieden, inmitten der säuerlich blickenden Menschen, die an ihm vorbei hasteten. Dieses Bild gefiel mir, machte meine Laune noch etwas besser, und so schickte ich das Lächeln, das sowieso schon auf meinen Lippen lag – ohne weiter darüber nachzudenken – in seine Richtung. Es kam zurück und wie immer, wenn so etwas passiert, war das ein schönes Gefühl. Ich war bestimmt schon 20 Meter von der Bank entfernt, als mir der junge Mann nachgerannt kam: „Du hast mich angelächelt“, sagte er und sah mich an, wie ein Welpe, der auf ein Belohnungsleckerli wartet. „Ja, das stimmt, ich habe dich angelächelt.“, antwortete ich, während der Welpe neben mir hertrippelte. „Und…?“ „Nichts und. Ich habe dich angelächelt, weil ich dich angelächelt habe, nichts weiter.“ „Aha.“ „Ja, aha! Ich wünsche dir noch einen schönen Tag!“, sagte ich freundlich aber bestimmt, ging weiter und war froh, dass er mir nicht folgte. 

„Was ist das denn für eine komische Welt?“, frage ich den tollsten Mann. „Die Menschen sind es einfach nicht gewohnt, dass jemand sie anlächelt, ohne irgendwas zu wollen. Aber da kann ich doch nichts dafür! Soll ich mir mein Lächeln jetzt verkneifen und ein Magengeschwür bekommen, nur weil meine Mitmenschen emotionale Krüppel sind?“ „Ich finde, du solltest einfach eine Burka tragen. Dann kannst du lächeln, soviel du willst, ohne dir was anzulachen. Und Mund-Nasen-Schutz ist auch schon integriert.“ – Auch für seine pragmatische Denkweise liebe ich diesen Mann!

Aber jetzt mal ganz ehrlich: Warum soll ich mich verhüllen, nur weil meine Mitmenschen so geizig mit ihrem Lächeln sind? Warum muss der Bäcker meines Vertrauens auf einem Zettel im Schaufenster darum bitten, seinen Mitarbeiterinnen respektvoll und freundlich zu begegnen, statt sie zu bespucken und zu beschimpfen? Wie kann es sein, dass dieselben Leute, die während der Kontaktbeschränkungen rumgejammert haben, wie sehr ihnen ihre Freunde und ihre Familie fehlten, jetzt ein derartiges Gewese um das Tragen eines Mundschutzes machen, der ihnen im schlimmsten Fall gar nichts nützt, sondern „nur“ ihre Mitmenschen schützt? Warum, zum Teufel, wird mir, nachdem ich mir offen und voller Verständnis die Position meines Arbeitgebers angehört habe, mich aber nach der erbetenen Bedenkzeit doch dafür entschieden habe, im Interesse meines Unternehmens statt in dem des seinen zu entscheiden, Unberechenbarkeit vorgeworfen?

Man muss nicht wissen, was der Kategorische Imperativ ist, um sich danach zu verhalten oder es zumindest zu versuchen. Man muss nur ein halbwegs gesundes soziales Wesen sein. Aber Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und Zuhören sind offensichtlich zu „Social Skills“ mutiert, zu Werkzeugen der Manipulation. Oder waren sie es schon immer? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mir gehörig auf die Eier geht (ja, auch Frauen haben welche – sogar mehr als Männer), dass ich für ein „normales“ soziales Verhalten bestraft werde. 

Ich wünsche mir – ganz im Geiste von Corona – mehr soziales Verhalten mit mehr Abstand. In erster Linie Abstand zu sich selbst: Selbstreflexion, Selbstironie. Aber auch etwas mehr Distanz zu anderen: Die viel beschworene Empathie im Sinne von „Mitleid“, ist gewiss besser als das weitverbreitete „ignorantes Arschloch Syndrom“, aber oft auch weniger hilfreich als Mitgefühl, das wiederum eine gewisse Distanz zum Gegenüber erfordert.

Also: Die Verantwortung dafür, ob ich Burka tragen muss, liegt jetzt bei Euch: Helft mit, Eure Mitmenschen an ein Lächeln zu gewöhnen! Lächelt absichtslos! Lächelt, ohne etwas verkaufen zu wollen – nicht einmal Euch selbst! Lächelt nur, wenn Euch danach zumute ist, dann aber konsequent! Sagt einem Arschloch, dass er ein Arschloch ist, gerade weil Ihr versteht, warum er eines ist! Und sagt einem tollen Menschen, dass er einer ist, auch wenn Ihr nicht versteht, wie er es schafft, einer zu sein. Und lächelt, falls Ihr nicht verhungern wollt, niemals einen Stehgeiger an!

Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet. Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin. In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.

Iris Boss bei CulturMag.