Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Kolumne Iris Boss (20): Alte bunte Frauen

Alte bunte Frauen

Unglaublich, aber wahr: Bei „Germany’s Next Topmodel“ wird ein letztes Tabu gebrochen: Nach Women of Color, Transfrauen, Mehrgewichtigen, Kleinwüchsigen, Großwüchsigen, Frauen mit Behinderungen, Tätowierungen und seltsamen Akzenten (die Essgestörten, Untergewichtigen und -belichteten durften ja von Anfang an dabei sein), kommt nun endlich auch die abartigste Unterform des weiblichen Geschlechts in den Genuss, sich von Frau Klum öffentlich demütigen zu lassen: Die alte Frau!

Darüber, dass es dabei nicht um „Diversity“ geht, müssen wir uns in der aufgeklärten Runde, an die ich mich in meiner Vorstellung wende, nicht unterhalten. Und zwar schon deshalb nicht, weil „Diversity“ nichts mit Diversity zu tun hat und mit Chancengleichheit und Gerechtigkeit ungefähr so viel wie Fleischersatzprodukte mit Genuss und Gesundheit. Beides ist vielleicht gut gemeint, ganz sicher kann man damit aber viel Geld verdienen. Und nachdem in Sachen Gewalt und Sex alle Tabus gebrochen sind, nachdem uns Zombies und Gruselclowns nur noch ein müdes Gähnen entlocken, wird im Dienst von Schlagzeilen und Einschaltquoten eben die ultimative Schreckensgestalt aus dem Verlies gezerrt: Das alte Weib!

Nun könnte man es dabei ja einfach gut (bzw. schlecht) sein lassen – jedem Tierchen sein  Pläsierchen und so. Aber leider ist diese scheinbare Freiheit für alle nur mehr Gefängnis für alle. Auf jeden Fall für alle Frauen, die dem klassischen Modelalter entwachsen sind. 60 ist das neue 20 und Alter keine Entschuldigung mehr, alt auszusehen. Es ist zu einfach, das als Privatproblem der Frauen, die meinen, an einer solchen Show teilnehmen zu müssen und des Plebs‘, der sich das anschaut, abzutun: Gerade noch wurde über die zerstörerische Wirkung der Show auf junge Mädchen diskutiert und wir haben uns (berechtigte) Sorgen gemacht, dass unsere Töchter eine Essstörung entwickeln, wenn sie den Schrott gucken. Jetzt dürfen sie es sich wieder ansehen – ist ja schließlich mit Dicken jetzt. Und während wir noch mit unseren Sprösslingen eine Packung Eis vor dem Fernseher verspeisen, setzen sich unsere Mütter auf Diät und grämen sich, dass sie nicht den „Glow“ im Gesicht haben, den die Heidi bei der Hildegard so gelobt hat.  

Ich meine damit nicht, dass Frauen jenseits der 30 keinen Wert auf ihr Äusseres legen sollten und sich ab spätestens 40 in graue Leinensäcke zu hüllen haben. Ich meine damit nur, dass die Investition in die Hülle – angesichts der natürlichen Verfallserscheinung derselben – die denkbar mieseste Anlageberatung ist, die es gibt. Zumindest für uns. Für die Schönheitsindustrie ergibt das durchaus Sinn…

Wozu die ganze Leberei, wenn wir nicht reifer werden? Reifer nicht im Sinne einer Vermarktbarkeit als Model für Blasenschwäche-Produkte, reif in dem Sinn, dass wir in der Lage sind uns die Frage zu stellen, wer diese Schönheitsideale aufstellt, wem sie dienen und ob wir wirklich nichts Besseres vorhaben, als uns ihnen zu unterwerfen. Und genau das wird durch ein Format wie GNTM aufs perfideste untergraben. Denn es geht (wie bei all den Body-Positivity- und Diversity-Bestrebungen) nicht darum, dass wir sein dürfen wie wir sind. Es geht darum, unsere Anstrengung unter Beweis zu stellen, dem ewigen Ideal (knapp geschlechtsreif, möglichst wenig Raum einnehmend und v.a. vermarktbar) möglichst nah zu kommen – egal wie alt oder fett wir sind. Das ist die allerletzte Daseinsberechtigung für Frauen, die dem Ideal nicht entsprechen, die letzte Chance, uns als Verkaufsargument der Unterhaltungsindustrie doch noch zum Produkt zu machen.

Die drei „Best Ager Models“ (mindestens zwei davon bedenklich dürr – verzeiht das Skinny-Shaming), die in der Show noch im Rennen sind, werden von der Jury regelmäßig für ihre „Wahnsinns Figur“ gelobt und nach ihren Fitness- und Ernährungsgeheimnissen befragt. Bei den jüngeren Kandidatinnen inzwischen ein absolutes No-Go. Und während es selbst in einer Trash-Sendung wie dieser zum Glück undenkbar ist, dass eine schwarze Kandidatin vor der Jury in Tränen ausbricht und devot ihre Dankbarkeit bekundet, dass sie „obwohl ich so bin wie ich bin“ teilnehmen darf, tun dies die älteren Frauen völlig selbstverständlich. Genau so selbstverständlich nehmen sie die „Challenge“ an, trotz Rücken-OP auf Zwölf-Zentimenter-Absätzen auf rutschigen Laufstegen zu „performen“. Das ist es also, was eine gestandene Frau mit viel Lebenserfahrung erreichen kann, wenn es gut läuft? Die alten weißen Männer regieren weiter die Welt und die alten buntscheckigen Frauen dürfen nun endlich auch, was 16 jährige Mädchen dürfen? Bravo!

Apropos „alte (weiße) Männer“: Auch für die lohnt es sich darüber nachzudenken, wie wir alte Menschen sehen und behandeln. Noch immer sind sie durch Geld und Macht etwas besser vor den Folgen geschützt als Frauen. Aber wie viel ist ein armer alter Mann wert? Der kriegt dann nicht einmal eine junge Frau als Ego-Verlängerung ab. Ist es nicht pervers, dass wir immer älter werden und immer weniger mit den Vorteilen und Stärken des Alters anfangen können? Anstatt alten Menschen zuzuhören, uns von ihnen inspirieren zu lassen und von ihrer Erfahrung zu profitieren, verlangen wir von ihnen, uns möglichst lange vorzumachen, sie hätten noch nicht gelebt.

Ich bin nicht gut im Älterwerden. Die allermeiste Zeit habe ich entsetzliche Angst davor und klammere mich an die Reste meiner Jugendlichkeit wie eine Ertrinkende an ein Rettungsboot. Ich kann mich schlecht gegen das Gefühl wehren, mit jedem gelebten Tag an Wert zu verlieren – als Frau, als Schauspielerin, als Mensch. Und das, obwohl ich mir bewusst bin, dass es nicht meine Werte sind, nach denen ich mich bewerte und bewerten lasse. Und obwohl mir das Alter anderer Menschen völlig schnurz ist: Würde der Teufel im richtigen Moment bei mir anklopfen, ich würde ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Seele, meine hart erarbeitete Personality und den ganzen innere-Werte-Kram für ein faltenfreies Gesicht und einen Satz straffe Gliedmaße verkaufen.  

Nur in seltenen Glücksmomenten regt sich in mir eine zarte Neugier: Wie wäre es, wenn ich keine Energie mehr darauf verschwenden würde, irgendeinem Bild zu entsprechen? Wie wäre es, nicht „für mein Alter noch gut“ auszusehen, sondern auszusehen wie ich und das wäre gut? Was für eine großartige alte Frau steckt wohl in mir? Welches Wissen, welche Fähigkeiten und Stärken warten noch darauf, sich entwickeln zu dürfen und die welkende Hülle von innen zu straffen? Vorbilder – im Leben und auch in den Medien – würden mich bei meinem Vorhaben, diese raren Momente zu einem Normalzustand zu machen, sehr unterstützen. Ich möchte Frauen sehen, die nicht dafür gefeiert werden, dass sie möglichst viel von ihrem gelebten Leben unsichtbar machen, sondern dafür, dass sie das Leben sichtbar machen. Ich möchte Frauen sehen, deren Lebenswerk nicht darin besteht, Modelmaße zu behalten und in schmerzenden Schuhen ein entspanntes Gesicht zu machen. Frauen mit Kompetenz, Erfahrung, Humor, Gelassenheit und im besten Fall auch Weisheit. Keine „Personalities“, mit denen sich Rheumadecken bewerben lassen, sondern Persönlichkeiten.

Vielleicht rede ich mir mit meinem Idealbild der älteren Frau ja etwas schön. Vielleicht warten da tatsächlich nur Scheidentrockenheit und Einsamkeit. Aber wenn wir ehrlich sind, reden wir uns auch Dinge schön, wenn wir jung sind: Zum Beispiel, dass die Aufmerksamkeit und Wertschätzung anderer unserer Einzigartigkeit und unserer interessanten Persönlichkeit geschuldet sind. Dabei geht es da nicht selten darum (und daran hat sich bisher weder durch #metoo noch durch den Feminismus viel geändert), uns zu vermarkten, zu besitzen, sich mit uns zu schmücken. Oder um es mit den Worten des tollsten Mannes der Welt zu sagen: „Der will doch nur ficken!“

Vielleicht besteht die Kunst des Älterwerdens also darin, im wahrsten Sinne des Wortes enttäuscht zu werden, ohne daran zu verzweifeln oder zu verbittern. Und zwar nicht, weil Verzweiflung und Verbitterung Falten macht, sondern ganz einfach, weil wir Besseres, Bedeutenderes, Schöneres, Erfüllenderes vorhaben.

Jetzt muss ich Schluß machen: Die 4. Folge GNTM ist raus. Ob das wohl mit der Rücken-OP und dem Bungee Jumping gut geht? Ich muss mir das (natürlich nur zu Recherchezwecken) ansehen.

Iris Boss ist Diplomschauspielerin (U.d.K. Berlin) und eine erfahrene Sprecherin. 2021 gründete sie ihr eigenes Studio „CURRY-HAHN-RECORDS“ in Berlin. Neben dem Einsatz als Sprecherin in Fremdstudios bietet sie Sprachaufnahmen, Schnitt, Bearbeitung in professioneller Qualität direkt aus dem Home-Studio an. CURRY-HAHN-RECORDS im Netz.

„Curious eyes never run dry“ lautet das Motto von bossbloggt. Dort gibt es ihre Texte – oder die von ihr bei uns hier. Jüngst beim Slamdance Festival in L.A. Premiere, der Film „Be Right Back“ von Frauke Havemann, in dem sie eine Hauptrolle spielt.