Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Georg Seeßlen zur Systemrelevanz von Kultur

Rückkehr zur Normalität – Die Rolle von Kunst und Kultur

(Ein extrem spielverderberischer Einwurf – von Georg Seeßlen)

Zu den Trostbildern in der Corona-Krise gehört es, dass Kultur in der einen oder andere Form trotz des Gebots der sozialen Isolation und der Unmöglichkeit analoger Öffentlichkeit, immer wieder Wege zu den Menschen findet: Virtuelle Filmfestspiele und Opernaufführungen, Lesungen, die statt in der Buchhandlung im Internet stattfinden, digitale Kunst-Galerien für alle, Symposien und Diskursveranstaltungen in netzhaften Verschaltungen, eine kulturelle Sharing- und Danksagungs-Plattform und vieles mehr. Die Gesellschaft und der Staat (von den Medien ganz zu schweigen) erwarten von der Kultur und den „Kulturschaffenden“ oder den „Kreativen“ in der Krise ein sozial vorbildliches Verhalten. Nett zueinander und vor allem nett zum Rest der Welt sollen Künstlerinnen und Künstler sein, Hoffnung und Zuversicht verbreiten, jetzt bitte keine schlechte Laune und keine Fundamentalkritik. 

Nun ist keine Rede mehr davon, wie sehr diese Kultur in den letzten Jahrzehnten ausgedünnt, privatisiert, kommerzialisiert, politisch missbraucht wurde, und wie sehr die Agenda des Neoliberalismus die Protagonisten in ein paar wenige Gewinner und ein Heer von Verlierern gespalten hat. In den letzten Jahrzehnten sind die Honorare für freie Journalisten und Journalistinnen und Künstler und Künstlerinnen beständig gesunken; man soll dankbar sein, wenn man überhaupt noch Arbeit findet. Jede Krise schuf die nötigen Ausreden für weitere Präkarisierungen, und wer sich unbotmäßig zeigt, hat ohnehin das Überlebensrecht in diesem Kulturbetrieb verloren. Kultur soll nun helfen im Kampf gegen Angst, Zerfall und Vereinsamung. Nach der Krise, wir gehen jede Wette ein, werden die Honorare und Arbeitsmöglichkeiten für alle im Sektor Kultur weiter eingegrenzt; der Dank für den sozialen Einsatz in der Krise wird der Verlust des Arbeitsplatzes oder gleich des Mediums sein. Die Gewinner werden die Streamingdienste und digitalen Unterhaltungshändler sein. Aber wir sind doch systemrelevant schreien die kleinen Kulturschaffenden ganz verzweifelt, und manche werden nicht einmal rot dabei.

Wieder schien es in der Krise eine Möglichkeit, dass Staat, Gesellschaft und Medien Kunst und Kultur nicht als Luxus, sondern als lebensnotwendige Ressourcen anerkennen würden. Und wie bei allen diesen Dingen, so wurde auch diese kurzfristige Erkenntnis rasch in ihr Gegenteil verkehrt. 

In der Krise wurde den „Kulturschaffenden“ auf der einen Seite einigermaßen drastisch klar gemacht, dass sie für die Bürokratie und ihre Entourage nichts anderes sind als lästige Bittgänger, die gefälligst für Hartz IV dankbar sein sollen. Und zugleich mussten sie ein neues Genre erfinden. Nicht nur die Krisen-und Isolationsprosa, -Bilder und -Filme (als neue Form der mehr oder weniger affirmativen Selbstvermarktung), sondern die Erzählung zu generieren, mit denen man Selbstwertgefühl und Opferrolle unter einen Hut bekommt. Die Petitionen und Anträge brachten eine eigene Erzählung hervor, die man unter ein einziges Motto stellen könnte: Kultur ist wichtig. Die Betonung dieses Mottos funktionierte naturgemäß als die Bestätigung des Gegenteils. Um vielleicht doch etwas von den Hilfsgeldern zu bekommen, muss der kulturschaffende Mensch bereit sein, sich als „Kleinunternehmer“ zu definieren bzw. seinen Status der Prekarisierung zu offenbaren. Wir sind systemrelevant! Das wird nun errechnet. Wie systemrelevant am Ende Kultur ist, weiß nur das statistische Bundes- und das Finanzamt. Nie wird man die politische Ökonomie von Kultur so genau bestimmen können wie in der Krise, und nachher wird man den Kostenfaktor Kultur neu berechnen. Wollen wir wetten?  

Auf dem Weg zurück zur Normalität spielten erstaunlicherweise neben Kirchen und Moscheen, Fabriken und Restaurants, Läden und Sportstätten Museen, Kinos und Konzerthäuser kaum eine Rolle. Denn das Recht auf freien Zugang zur Kultur ist bei weitem nicht so verankert, in Gesetzen wie in „öffentlicher Meinung“, wie das Recht auf Versammlungsfreiheit oder auf freizügigen Verkehr in diesem oder jenem Sinne. Auch Museen öffneten wieder, und manche ließen sich durchaus interessante Methoden einfallen, Kunstgenuss und Abstandsgebot miteinander zu verbinden, wie der Palazzo Ducale in Genua, der jedem Besucher genau fünf Minuten einräumte, mit einem einzigen Bild von Monet zu verbringen. Aber dabei durfte man kaum auf die Argumente achten, mit denen der Lockdown gelockert wurde. Es genügen Stichworte wie Tourismus, Verträge und Betriebskosten. Systemrelevanz von Kultur ist drauf und dran ein Gradmesser von ökonomischer Korruption zu werden.

Die Kultur im weitesten Sinne als „Szene“, als Betrieb, als Profession und Industrie, als Klassen-Segment, als Methode und Haltung, als Medium in politischer Ökonomie, als Projekt und Erbe betrachtet, und was noch mehr: als ein „Irgendwie-verbunden-sein“ von Tätigen im tertiären Sektor mit einem Anspruch, in gesellschaftliche Diskurse durch Wissen, Ästhetik, Kritik und Debatte einzugreifen, diese Kultur also musste in der Krise in ihrer eigenen institutionalisierten Krisenhaftigkeit sichtbar werden. Sie befand sich in der Falle, die sie vordem mehr oder weniger geschickt zu vermeiden versucht hatte, nämlich genau in der Frage der Systemrelevanz. Längst kann sich Kultur jeder Art aus eigener Kraft nicht mehr erhalten, nicht einmal indem sie sich so total als möglich marktfähig gestaltet. (Würde man, nur zum Beispiel, die Bildende Kunst den Millionärs-Sammlern überlassen, wäre sie doch binnen kurzem verloren, wenn Staat und Gesellschaft nicht für den Nachwuchs im Betrieb sorgten und das Heer der Halbverlierer und Drittligisten gerade mal so am Leben erhielte.) 

Wenn es ein Projekt des Neoliberalismus zur Abschaffung der Gesellschaft gibt, dann ist zweifellos die Abschaffung von Kultur (wenn vielleicht auch in der Form einer radikalen Privatisierung) ein Kernstück davon (und das wiederum ist eine der vielen Schnittstellen zwischen Neoliberalismus und Neo-Faschismus). Die Frage an die Kultur in den oben erwähnten Vielfältigkeiten in der Krise ist die nach der eigenen Position. Ist Kultur „systemrelevant“? Dann wird man sie, mit genau der gleichen Tücke wie alle systemrelevanten Segmente der Gesellschaft, „retten“ und „unterstützen“ wollen (praktisch gesagt: Wer am lautesten schreit, am rücksichtslosesten argumentiert, am besten vernetzt ist, der kriegt was, das meiste aber bleibt ohnehin in Bürokratie und Korruption hängen; in der umfassenderen Theorie: Systemrelevant ist, was dabei hilft, genau so weiter zu machen wie bisher). Ein solcher Anspruch der Systemrelevanz würde allerdings bedeuten, Kultur müsste eines der Mittel  zur „Rückkehr zur Normalität“ sein, oder umgekehrt ein Teil der Normalität, zu der man so dringlich zurück kehren will. Aber das würde doch zumindest das Selbstverständnis eines Teils der Kultur arg tangieren: Wollte man nicht das System in Frage stellen, es verändern und verbessern, es sogar ablehnen oder verhöhnen, jedenfalls ein Teil von Utopie und Transzendenz sein? Eine Kultur, die im Namen der „Rückkehr zur Normalität“ gerettet würde, wäre, im „modernen“ und sogar noch im postmodernen Verständnis diese Rettung nicht wert. Natürlich könnte man, nur zum Beispiel, Kunst als ein notwendiges soziales und biographisches Lebensmittel betrachten, die „Freiheit der Kunst“ als Legitimation, Begleitumstand und Ergebnis von „westlicher Demokratie“ usw. Die Konkurrenz zwischen einem Beatmungsgerät und einer Kunst-Produktion wäre damit nicht gelöst, auch nicht durch den Hinweis darauf, dass sehr ähnliche, wenn nicht gar die gleichen ökonomisch-politischen Instanzen mit beidem Betrugsmanöver treiben. Kultur und soziale Zuwendung, medizinische und philosophische Unterstützungen etwa ähneln sich darin, dass sie in der Krise gern aufgewertet werden, und dann rasch wieder in den Dunstkreis der Verachtung gestoßen. Wenn in der einen Krise die Banken systemrelevant sind, dann werden in der nächsten wohl eher nur rhetorisch Krankenschwestern und Dichtkunst systemrelevant, oder?

Was aber, wenn Teile dieser Kultur sich ein Herz fassten, und behaupteten, wenn schon sonst niemand, so hätten doch wenigstens diese Kulturteile die Krise verstanden und das System nicht als Opfer sondern als Verursacher der größten Probleme dabei durchschaut? Die Anerkennung der „Systemrelevanz“ und damit die Unterstützung der „Zurück zur Normalität“- Politik und -Ökonomie wäre damit beim Teufel. Die Kultur würde, wenn sie sich aus der Krise moralisch retten wollte, dazu gezwungen, ihre politisch-ökonomischen Grundlagen zu opfern. Stellen wir uns für einen Augenblick die Künstlerin, den Künstler, die Wissenschaftlerin, den Journalisten vor, die sich hinstellten und behaupteten: Oh nein, meine Damen und Herren, für dieses System, für dieses System der Systeme, will ich ganz und gar nicht relevant sein. Ich würde im Gegenteil, um meine Seele fürchten, wenn ich mit meiner Arbeit, meiner Existenz, meiner Phantasie diesem System, diesem System der Systeme, noch zu Stabilität und Legitimität verhelfen würde. 

Man lebte ja lange und in Teilen nicht einmal schlecht (wennzwar in einer Ungerechtigkeit, die die der Gesamtgesellschaft noch übertraf) mit solcher Ambivalenz: Zugleich systemrelevant und systemkritisch zu sein,  zum Teil affirmativ und zum Teil alternativ, zum Teil konservativ und zum Teil utopisch usw. Eben die Ambivalenz war Merkmal der Funktionalität der Kultur bis in die Spätzeit von Kapitalismus und Demokratie. Diese Ambivalenz wurde einigermaßen gnadenlos sichtbar in der Krise. Was fehlte, war nicht Kritik und Veränderung; was fehlte war die „Normalität“ der Kultur. Eine nicht unerhebliche Schicht dieser Gesellschaft, nicht unerheblich für Produktivität und Kreativität, um genau zu sein, „kann ohne Kultur nicht leben“. Werden diese Menschen nun, wie man es biographisch durchaus beobachten konnte, krank durch das Fehlen der Kultur? Oder wurde, umgekehrt, die Krankheit dieser Menschen durch das weitgehende Fehlen von Kultur als lebender Ritus sichtbar? 

Die Wiederkehr von Kultur, ja sogar (erinnern wir uns nur zum Beispiel an das Ende des Zweiten Weltkrieges) ein scheinbarer Bedeutungsgewinn der Kultur, ist eine der Verheißungen der Rückkehr zur Normalität. Die Menschen gehen wieder ins Theater, sie gehen wieder in die Oper und ins Kino, sie kaufen wieder Bücher in Buchhandlungen und sie debattieren wieder bei Kaffee oder Rotwein über Kultur. Ein ungeheures Trostbild für jene Menschen, die sich weniger nach dem Ballermann, auf Kreuzfahrtschiffe, zu Grillfesten oder in Fan-Meilen sehnen. Klar, Kultur war ja auch ein Distanzierungsgewinn in den „normalen Zeiten“, etwas „besseres“ als – ja, als was? Ballermann, Kreuzfahrtschiff, Grillfest und Fan-Meile sind ja auch nichts anderes als Kultur, aber eben eine, wie wir in der Krise sehen mussten, die sich der freiwilligen Disziplinierung durch Abstand, Maske und Rücksichtnahme entzieht. Nicht etwa ihre kulturelle Minderwertigkeit ist ihr Problem (gesoffen und dummes Zeug geredet wird auch auf Vernissagen und in Opernpausen), sondern ihre ökologische, kulturelle und biographische Zerstörungskraft, die aus genau dem Paradoxon stammt, das wir in der Krise als so positiv gesehen haben: Sein soziales Bewusstsein zeigen, indem man sozialen Kontakt meidet. Umgekehrt nun ist das Anti-Soziale der Ballermann-Kultur gerade dadurch realisiert, dass es nur in Gesellschaft funktioniert. Wenn man nun aber glaubt, die „gute“ Kultur sei systemrelevant, weil sie zum Leben von realen Menschen gehört und der Mangel an ihr durchaus krank machen könnte, wie sähe es dann mit einer Kultur aus, die geradezu im In-Gesellschaft-Sein besteht? Auch der Mangel daran kann krank machen. So wirbt die gute Kultur neben der Systemrelevanz mit ihrer Individualisierbarkeit. Oder mit ihrer Disziplinierbarkeit. Oder mit ihrem Minderheitsstatus…

Ist also „wertvolle“ Kultur etwas, bei dem nichts ruiniert wird, außer vielleicht ein Abend in einem Leben, das nicht unbegrenzt freie Abende zur Verfügung hat, oder ist „wertvolle“ Kultur sogar etwas, das wenigstens in einem oder einem anderen Kopf „nachhaltig“ wirkt, auf Veränderung statt auf Stabilisierung der Kreisläufe von Produktion, Konsumtion und „Abfuhr“ hinaus will? (Die Abfuhr, die dem Trieb auf Bier- und Schinkenstraße auf Mallorca erteilt wird, ist äquivalent zur Überforderung der Müllabfuhr.) 

Natürlich gibt es keine wirkliche Konkurrenz zwischen der freien Theaterszene von Knödlingen und dem Ballermann, aber dieses verdammte Wort von der „Systemrelevanz“ fängt doch alles ein und macht sichtbar, wie anfällig zum Beispiel Kultur für die Verachtung der Massen ist, und zugleich wie anfällig ein durch die Unterhaltungs- und Drogenindustrie erzeugtes „Volk“ für destruktives und anti-soziales Verhalten wird. Durch die Krise haben sie freilich die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die vordem so missliebige, lästige und kostspielige Kultur will auf einmal der Liebling des Staates bei der Rückkehr zur Normalität sein, und die ansonsten so gehätschelte und politisch missbrauchte „Volkskultur“ wird zum sozialen Problemfall. Wir ahnen fürchterliches: In der Krise und nach ihr soll überhaupt erst so etwas entstehen wie „systemrelevante Kultur“. Eine Versöhnungs- und Bewältigungskultur, die die Rückkehr zur Normalität gentrifizieren soll. Eine Kultur als Herzstück der Normalität, die sich, anders als die destruktive Massenkultur, auch medizinisch einigermaßen beherrschen lässt. Unglücklicherweise freilich ist selbst eine solche Normalitätskultur ökonomisch nicht weiter von Belang. Sie hat bei der Rückkehr zur Normalität rasch ihre Schuldigkeit getan. Wie viel Arbeitsplätze hängen an einem Theater? Und wie viel an einem Kreuzfahrtschiff? Was bringt eine Dichterlesung an sozialem Frieden, und was ein Volksfest? So steht zu befürchten, dass sogar das ideologische Selbstopfer der Kultur als „systemrelevant“ am Ende umsonst gewesen sein wird. Aber was heißt umsonst?  Wäre das lästige kulturelle Problem einer post-demokratischen, neoliberalen Lebenswelt irgend einfacher zu lösen als durch Krise und Post-Krise? 

Nichts scheint absurder als die Wortkombination „Kultur in der Krise“. Stellen wir uns eine Kultur vor, die nach der Krise zum „business as usual“ zurückkehrt. Oder eine Kultur, die bei der „Bewältigung der Krise“ beistehen kann. Oder eine Kultur, die sich als Teil einer „post-corona-Gesellschaft“ versteht… Eines ist grotesker als das andere. Es wird eine große Einsamkeit, eine soziale Verlassenheit um die Kultur sein, so wie wir sie kannten. 

Eine „Solidarität“ in dieser Situation ist allenfalls in Einzelfällen möglich. In Wahrheit hat in der Krise aber längst ein großes Sterben begonnen, das nicht aufzuhalten wäre, nicht einmal durch Selbst-Entmachtung einer Kultur, die sich als systemrelevant andient. Der in der Krise aufgestiegene „Sozialdarwinismus“ betrifft auch die kulturellen Institutionen. Die Starken, die sich ganz und gar auf dem Markt „durchsetzen“ können werden noch stärker, ein Teil des mittleren Segments von Kultur, das seine Nützlichkeit unter Beweis zu stellen in der Lage ist, oder dessen Milieu-Vertrautheit ein Netzwerk bildet, wird überleben. Der kritische Teil wir indes weitgehend ausgeschlossen. Und die überlebenden Institutionen und Personen werden mehrheitlich den Teufel tun, sich mit den gefährdeten und sterbenden zu „solidarisieren“, wohl wissend, wie schnell man gerade hier in einen Abwärtssog hinein gezogen werden kann.

Die Krise machte nicht nur deutlich, wie konservativ in Wahrheit die scheinbar so freie und kritische Kultur ist, sondern auch, wie wenig einer neoliberalen, proto-faschistischen politischen Ökonomie an ihr gelegen ist. Ist Kultur systemrelevant? Alle drei Antworten, ja, nein, teils/teils, müssen als besonders trickreich formulierte Todesurteile durchgehen. Andrerseits: Der erste Schritt zu einer Befreiung ist immer noch, die Wahrheit herauszufinden. Auch wenn sie weh tut.

Georg Seeßlen

Seine Texte bei uns hier.

Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk, von Eugène Delacroix 1830 ©Wiki-Commons