Geschrieben am 1. Oktober 2023 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2023, News

Blick in die Festschrift für Jan Philipp Reemtsma

Vom Glück der Aufklärung und der Allgegenwärtigkeit der Gewalt

Alf Mayer hat sich eine eher ungewöhnliche Festschrift angeschaut

Gerd Hankel, Susanne Fischer, Wolfgang Knöbl (Hg.): Die Gegenwart der Gewalt und die Macht der Aufklärung. Festschrift für Jan Philipp Reemtsma. Zwei Bände im Schuber, Hardcover mit Fadenbindung und Lesebändchen. Verlag zu Klampen, Springe 2023. Hardcover, 1006 Seiten, 68 Euro.

Mit Festschriften ist das so eine Sache, richtig etwas für die breitere Öffentlichkeit sind sie selten. Diese „Festschrift für Jan Philipp Reemtsma“ ist es. „Die Gegenwart der Gewalt und die Macht der Aufklärung“ lautet ihr Titel. Tausend Seiten, zwei Bände im Schuber, über 50 Autorinnen und Autoren, geradezu süffiges, glatt gestrichen bestes Papier, Schrift und Buchgestaltung von Friedrich Forssman, der auch den als Albtraum aller Typographen geltenden „Zettels Traum“ von Arno Schmidt in eine gesetzte Form gebracht hat. (Zu den Herausforderungen dieser Herkulestat hier.) Als diese Ausgabe damals 2010 im Literaturhaus Berlin vorgestellt und daraus auch gelesen wurde, war Jan Philipp Reemtsma einer der drei Vortragenden. Ohne ihn und die von ihm beförderte Stiftung und die „Bargefelder Ausgabe“ wäre Arno Schmidt wohl ein in Vergessenheit geratender Nachkriegs-Schriftsteller geblieben. 

Ohne Jan Philipp Reemtsma als Förderer, Forscher, Stifter und Mäzen gäbe es ganz Vieles nicht: kein Hamburger Institut für Sozialforschung und dessen konstant lesenswerte Zeitschrift „Mittelweg 35“ (bei uns hier, hier, hier, hier und hier zuletzt besprochen), kein von der Wehrmachtsausstellung angestoßenes neueres Geschichtsbild der Verbrechen der Wehrmacht, kein neuer Blick auf  den noch immer zu wenig bekannten deutschen Klassiker und Aufklärer Christoph Martin Wieland – dessen erste Biographie sich der Jubilar Reemtsma zum 70. Geburtstag selber schenkte (meine Besprechung in unserer letzten Ausgabe hier).

Jan Philipp Reemtsma beim Historikertag 2014 in Göttingen © wiki-commons

Ob als Wissenschaftler und Institutsgründer, Initiator von Projekten, als Autor literarischer Texte oder von Kinderbüchern, als grandioser Essayist (der es zum Beispiel versteht, Wolfgang Borcherts Heimkehrer-Drama „Draußen vor der Tür“ mit dem Rambo-Film „First Blood“ zu erschließen) – aus der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist ein Reemtsma nicht wegzudenken. Er hat über Walter Benjamin, Felix Dahn, Robert Gernhardt, Walter Kempowski, Stephen King, Heinrich von Kleist, Karl Kraus, Gotthold Ephraim Lessing, Peter Rühmkorf,  und Shakespeare publiziert – und immer wieder über das von ihm selbst abgesteckte weite Feld von Vertrauen und Gewalt (so auch ein Buchtitel von 2008), überhaupt das Phänomen der allgegenwärtigen Gewalt, und über die nur auf den ersten Blick altmodische Frage nach dem Helden und seiner Rolle in unserer Kultur.

Die Festschrift ist in vier Teile gegliedert, nicht wenige Texte gruppieren sich um Reemtsmas Aufklärungsverständnis, andere um seine Stellung in der aktuellen Gewaltforschung, andere um den „Eigensinn des Individuums“. Die Beiträge kommen aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen, auch aus Theater und Literatur, natürlich sind Bernd Rauschenbach und Joachim Kersten, von damals dem Abend zu „Zettels Traum“, mit dabei. Jeder Beitrag geht von einem Zitat Reemtsmas aus und entwickelt sich in direktem Bezug auf den Jubliar. So zieht sich das Wirken dieses „Akteurs der Zeitgeschichte von mentalitätsbildender Kraft“ (so Jürgen Habermas) wie ein eigenes rotfädiges Lesebändchen durch die Festschrift. Von ihr lässt sich lange zehren.

Die Festschrift enthält Beiträge von: Andrej Angrick, Anton Bierl, Juliane Bremer, Carsten Brosda, Stefanie Carp, Jan-Christian Cordes, Ute Daniel, Charlotte Drews-Bernstein, Frank Eisermann, Eva-Maria Engelen, Susanne Fischer, Detlef Garbe, Christoph Gödde, Jürgen Habermas, Gerd Hankel, Sven Hanuschek, Eddie Hartmann, Tina Hartmann, Frank Hatje, Nikolaus Heidelbach, Thomas Hoebel, Ulrike Jureit, Joachim Kersten, Alexander Kluge, Volkhard Knigge, Wolfgang Knöbl, Wolfgang Kraushaar, Claus Leggewie, Sibylle Lewitscharoff, Karsten Linne, Ulrike Lorenz, Stefan Malthaner, Klaus Manger, Reinhard Merkel, Regina Mühlhäuser, Achatz von Müller, Hans-Peter Nowitzki, Stephan Opitz, Iris Radisch, Bernd Rauschenbach, Ann Kathrin Scheerer, Sebastian Scheerer, Thomas Schmid, Christian Schneider, Olaf Scholz, Ariane Smith, Hans-Georg Soeffner, Alfons Söllner, Nikola Tietze, Anne-Kristin Voggenreiter und Erdmut Wizisla.

Hier einige der Reemtsma-Zitate, die je als Motto einen Beitrag einleiten:

  • „Das Settembrinihafte der Aufklärung hat vielen missfallen, hatte aber einen guten Grund, der allen Sozialwissenschaften zugrunde liegt: Wer theoretisiert, schlägt nicht zu; eine Gesellschaft, die Leute dafür abstellt, über sie nachzudenken, gibt sich der Vorstellung hin, sie befinde sich in Zeiten, in denen das Denken helfe. Dass Naphta mitdiskutierte, gab Settembrini recht“ („Vertrauen und Gewalt, S. 558)
  • „Heldengeschichten sind Geschichten, in denen sich Gesellschaften ihre Vergangenheiten ausmalen…“ („Helden und andere Probleme“, S. 46)
  • „Der Streit geht nicht darum, ob Menschenrechte universelle Gültigkeit haben, sondern darum, welche Anstrengungen wir zu unternehmen bereit sind, um ihnen diese Gültigkeit zu verschaffen, und damit sind nicht nur Rücksichten gemeint, die wir auf unsere außenpolitischen und ökonomischen Interessen nehmen“ („Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen, S. 138)
  • „Das Wissen muss man sich schaffen, die Täter kenntlich machen, haftbar.“ (Reemtsma, 1989)
  • „Das Reden über literarische Texte ist Darlegung einer Lektüre.“ („Was heißt: einen literarischen Text interpretieren? Voraussetzungen und Implikationen des Redens über Literatur“, S. 13)
  • „Über Theseus kann man keine Dokumentarreportage mehr verfassen, über Wyatt Earp schon. Die ist dann interessant, aber keine Heldengeschichte mehr.“ („Helden und andere Probleme“. S. 46)
  • „Unser Reden über und unser Verständnis von Gewalt beziehen sich primär auf physische Gewalt, die Thematisierung psychischer Gewalt ist ein abgeleitetes Reden.“ („Helden und andere Probleme“, S. 210)
  • „Zwar spricht sie nicht, aber indem sie sich zeigt, sagt sie dennoch allerlei.“ („Vertrauen und Gewalt“, S. 104)
  • „Man muss die Menschen nicht für liebenswert halten, um ihnen von Herzen alles Gute zu wünschen.“ („Wie weiter mit Sigmund Freud?“, S. 35)

Der doppelseitige Titelvorsatz mit links „Die Gegenwart der Gewalt“ und rechts „und die Macht der Aufklärung“ bringt schon gleich mit einer Zeichnung von Nikolaus Heidelbach zum Schmunzeln. Reemtsma hat mit ihm zusammen Reemtsmas einige Kinderbücher gemacht, darunter das an Jean Paul angelehnte „Und weg war das Ihmchen!“, dem in der Festschrift ebenfalls Beiträge gelten. Heidelbach zeichnet Reemtsma aufrecht im Sattel eines Tandems, mit Anzug, Krawatte nach hinten im Fahrtwind, Schultern gerade. Als Bildtext dient eine Anekdote: „Einmal soll Jan Philipp Reemtsma am damals berühmten Tandem-Rennen ‚Rund um den Dümmer’ teilgenommen haben. Mit dem Tandem, aber ohne Partner sei er erschienen und habe überdies darauf bestanden, hinten zu sitzen. Erstaunlicherweise wurde er zum Rennen zugelassen und belegte Platz 9 von 35 Teilnehmern; dass er während der gesamten 20 Runden gelesen haben solle, muss allerdings dem Reich der Legende zugewiesen werden. Platz 1 belegte, wie jedes Jahr, das Ehepaar A. und A. Schmidt.“

Und dann nehmen also all die Beiträgerinnen und Beiträger eine/ einer nach dem anderen auf Reemtsmas Tandem Platz und drehen mit ihm eine Festschrift-Runde. Schönes Bild. Fröhliche Wissenschaft. Bei allem Ernst der meisten Themen. Reemtsma schätzt mit Christoph Martin Wieland, Arno Schmidt und Jean Paul auch den Humor, denn, so der Letztere: „Dieser Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts.“

Alf Mayer

PS. Den Humanisten Jan Philipp Reemtsma charakterisiert für mich auch dieser Satz, den er 2006 in einem Interview mit der „Zeit“ (47/2006) äußerte: „Mir haben nach der Entführung viele Leute geschildert, was man den Erpressern alles antun sollte. Ich wollte das nie hören. Ich habe es als abstoßend empfunden. Es zeigte mir, dass fremde Leute mein Schicksal zum Anlass nahmen, um ihre eigenen bösartigen Fantasien auszuleben.“ 

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