Geschrieben am 1. April 2024 von für Crimemag, CrimeMag April 2024

Bloody Chops – Kurzbesprechungen April 2024

Joachim Feldmann (JF), Tobias Gohlis (TG), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW) über:

Murmel Clausen: Leming
Mathijs Deen: Der Retter
Lucie Flebbe: Bad Business. Deal mit dem Tod
John Galligan: Bad Axe County
Alina Grabowski: Frauen und Kinder zuerst
Chris Hadfield: The Defector. Die Jagd beginnt
Bernhard Kegel: Gras
Adam Morris: Bird
Till Raether: Danowski: Sturmkehre
Roberto Saviano: Falcone
Daria Shualy: Lockvogel
Josephine Tey: Wie ein Hauch im Wind
Kim Wakker: Der Frauenbeauftragte. Ein queerer Campus-Krimi

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Welch Chronik eines angekündigten Todes

(AM) »Mut macht einsam« oder »Einsam ist der Mutige« heißt der italienische Originaltitel von Falcone, jenem Buch, für das Robert Saviano geboren worden ist, jenem Buch, für das er – der seit der Veröffentlichung von «Gomorrha», seinem Roman von 2006 über die neapolitanische Mafia, versteckt unter Polizeischutz lebt – wie kein anderer auf diesem Planeten geeignet und berufen ist. Viele einsame Tage und Nächte hat dieser Robert Saviano, der bei der Veröffentlichung von «Gomorrha» 26 war, seitdem selbst ausloten können und müssen, was es heißt und welche Konsequenzen es hat, sich offen gegen die Mafia zu stellen.

Sein Roman erschien in Italien zum 30. Todestag von Giovanni Falcone, der wohl größten Symbolfigur Italiens im Kampf gegen die Cosa Nostra. 500 Kilogramm TNT, in einem Drainagerohr unter der Autobahn E90 Palermo – Mazara del Vallo versteckt und ferngezündet, zerfetzten  am 23. Mai 1992 den Konvoi des Untersuchungsrichters, der in einem Maxi-Prozess über 400 Mafiosi vor Gericht brachte und das Krebsgeschwür des Organisierten Verbrechens ins öffentliche Bewusstsein hob. Falcone und seine Ehefrau Francesca Morvillo sowie drei Leibwächter überlebten den Anschlag nicht. Der gewaltige Krater auf der Autobahn, eine brutalst-mögliche Machtdemonstration der Mafia, steht bei Saviano für all das »vergossene Blut, das niemals trocknet« und an das er mit seinem Roman erinnert.

Falcone wusste, worauf er sich einließ. Wusste, dass er vom Tod gezeichnet war. Wusste, so die Formulierung im Roman, »dass es ein Staffellauf geworden war. Jeder läuft eine Strecke, überreicht die Papiere dem nächsten und stirbt. Verstehst du diesen Wahnsinn?« Den Gerechten ist ein schwarzes Kreuz auf den Rücken gemalt, heißt es an anderer Stelle. Nüchtern und ohne hohles Pathos beschreibt der kraftvolle, dosiert poetische Roman Leben und Kampf eines aufrechten Mannes. Dass dieser Autor einen Auftrag hat und über ein Wissen verfügt, von dem wir als Gesellschaft lieber nicht so richtig Kenntnis und Gefühl haben wollen, spürt man in jeder Zeile. Bewundernswert ist, welche Form und welche Stimme Roberto Saviano dafür gefunden hat. Dieses Buch wird ein Klassiker werden, aufzubewahren für die Jahrhunderte, und verdient jede Beachtung. Diese Zeilen hier sind nur ein erster Hinweis. Mich hat das Buch an die Heike Monogatari erinnert, an das Samurai-Epos aus dem 12. Jahrhundert (hier von mir besprochen). Eine ausführliche Würdigung folgt in unserer Mai-Ausgabe.

Roberto Saviano: Falcone (Solo è il coraggio. Giovanni Falcone, il romanzo, 2022). Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2024. Gebunden, 544 Seiten, 32 Euro.

Ganz nah an der Wirklichkeit

(JF) Carson hat das Zeug zu einem Helden wie aus dem Groschenheft. Frauen finden ihn unwiderstehlich und Männer, die ihm an den Kragen wollen, müssen sich auf eine heftige Tracht Prügel gefasst machen. Selbst wenn sie in der Überzahl sind. Aber das ist längst nicht alles. Leider. Carson kann sich nur sehr schlecht beherrschen. Er trinkt zu viel, verkauft Drogen und hat ein entspanntes Verhältnis zu Eigentum anderer. Dass er als Aboriginal rassistische Diskriminierung erfährt, macht die Sache nicht besser. Also sitzt er immer wieder mal im Gefängnis. Keine Heldenstory.

Bird, ein multiperspektivisch erzählter Roman des australischen Autors Adam Morris, ist dafür viel zu nah an der Wirklichkeit. Carson selbst ist zwar die Hauptfigur, aber was wir von ihm erfahren, stammt aus zweiter Hand, von Daniel, Ariel, Jodie und all den anderen, die seinen Weg kreuzen. Darunter Gefängnispersonal, Polizisten, Komplizen. Und alle stecken in ihren eigenen Geschichten, die sich zu einem Mosaik von alltäglicher Tragik zusammenfügen. Das gesellschaftskritische Potential dieser Prosa ist ihr Realismus. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Morris, der auf langjährige Erfahrungen als Kunst- und Musiklehrer in Gefängnissen zurückblicken kann, seinen Roman unter dem Titel „Bird with a Broken Leg“ zusammen mit der Studie „Whiteness and Australian Fiction“ an der University of Western Autralia als Dissertation eingereicht hat. – Anm. d. Red.: Siehe auch unser „Reading Ahead“ vom März 2021: „Shake It All About„.

Adam Morris: Bird (2020). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Nautilus, Hamburg 2024. 303 Seiten, 20 Euro.

Bewundernswerte Leichtigkeit

(TW) Man soll sogenannte „Young Adults Books”, also “Jugendbücher” nicht unterschätzen. Auf Johannes Groschupf zum Beispiel bin ich über dessen Romane über junge Menschen today gestoßen. Und jetzt Murmel Clausen, den ich als Romanautor überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, als Co-Autor mit Andreas Pflüger der „Weimar Tatorte“ hingegen schon. Leming (ja, nur ein „n“) könnte man als YA verbuchen, aber recht eigentlich ist es ein schnelles Road Movie und ein Coming-of-Age-Roman. In einem „Ritzerforum“, also dort wo junge Menschen Dinge wie Selbstverletzung, Ängste, Tod und Suizid diskutieren, lernen sich Kolja, der Erzähler, Reinhold und Verena kennen. Sie verabreden sich zu einem finalen Trip an den Plattensee, wo Verenas Großvater ein Häuschen besitzt. Final deswegen, weil sie dort kollektiv Selbstmord begehen, es vorher aber nochmal richtig krachen lassen wollen, am liebsten mit Sex. Aber wollen sie das wirklich – oder hat ein jedes seine eigene Agenda? In Reinholds aufgemotzter Karre brettern sie nach Ungarn, treffen unterwegs merkwürdige und befremdliche Leute, fetzen sich, vertragen sich, sind beleidigt, mürrisch, fies, fröhlich, solidarisch und egoman – und als sie ankommen, liegt Opa tot im Häuschen. Das passt nicht, also muss er entsorgt werden ….  Ob sie am Ende, wie geplant, in den Vulkan springen, das lassen wir hier mal offen.

Bewundernswert an dem 198-Seiten schmalen Bändchen ist die Leichtigkeit, mit der Murmel Clausen finstere Thema bis zu den letzten Dingen – Leben und Tod – verhandelt. Das ist nicht frivol, das ist nur gut, klug und weise, gerade weil die drei jungen Menschen eben auch klug und weise sind, ungeachtet ihrer Verwundungen, Traumata und fragilen Dispositionen. Sprach – und Situationswitz mit Tragödie und Melodram vertragen sich prächtig. Was so genau in den Köpfen jugendlicher Menschen vorgeht, weiß vermutlich Murmel Clausen (* 1973) ebensowenig wenig wie ich (*1954) – aber was darin vorgehen könnte, hat er großartig erzählt.

Murmel Clausen: Leming. Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024. 198 Seiten, 22 Euro.

Subtil und empathisch

(JF) Als im März 1995 der Seeschlepper Pollux nördlich von Ameland havariert, sind gleich zwei Rettungsboote zur Stelle – ein deutsches und ein niederländisches. Bis auf den Kapitän kann die Besatzung geborgen werden. 21 Jahre später wird an der Küste Northumberlands ein menschliches Skelett gefunden. Es trägt eine Rettungsweste mit dem Aufdruck „Pollux“. Ein Fall für Kommissar Liewe Cupido von der Bundespolizei See in Cuxhaven. Doch der ist mit Ermittlungen in eigener Sache beschäftigt und agiert entsprechend unwillig, zumal ihm mit dem jungen Beamten Xander Rimbach ein Partner zugeteilt wurde, der dem eigenwilligen Kriminalisten auf die Finger sehen soll. Erst als die Nachforschungen eine zunehmend komplexere Gemengelage zutage fördern, scheint Cupidos Ehrgeiz geweckt und in der ihm eigenen Beharrlichkeit geht er der Sache auf den Grund. Systematisch führt er die Konfrontation mit dem hochmanipulativen Täter herbei, das resultierende verbale Duell ist ein Höhepunkt des Romans.

Der Retter ist der dritte Kriminalroman, in dem der niederländischen Autors Mathijs Deen Cupido ermitteln lässt. Und wie die Vorgängerbände überzeugt er durch eine ebenso subtile wie empathische Erzählweise, der jeder Sensationalismus fremd ist. Umso deutlicher zeigen sich die Abgründe menschlichen Verhaltens. In „Der Retter“ geht es auf fast meditative Weise vor allem um Schuld, Gerechtigkeit und falsches Heldentum. Wir haben es also nicht nur mit fabelhafter Krimikunst zu tun, sondern erleben auch realistisches Erzählen auf höchstem Niveau.

Mathijs Deen: Der Retter (De Redder, 2024). Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mare Verlag, Hamburg 2024. 378 Seiten, 23 Euro.

Fetziger Auftritt

(AM) Luftschutzalarm in Tel Aviv am hellen Tag. „Diese Hurensöhne, diese Scheißkerle, sollen sie in der Hölle schmoren“, schimpft ein schwitzender Mann. „Ach, weil Gaza noch nicht die Hölle ist“, erwidert ihm eine junge Frau im Pilates-Outfit und fragt: „Und wenn sie dich eine Woche lang aus der Luftbombardieren würden?“ Da sind wir auf Seite 4 von Lockvogel, dem realitätstüchtigen Krimidebüt von Daria Shualy, das nicht nur mit dem poppigen Cover einen recht fetzigen Auftritt hinlegt. Tatsächlich entstand der Roman 2022, das dumpfe Rumms des Raketenabfängers ist ein alltägliches Geräusch in Tel Aviv. Israel, heißt es nebenbei, befindet sich im Krieg. „Blitzableiter“ wäre die wörtliche Übersetzung des Originaltitels.

Es ist der heißeste Sommer seit fünfzig Jahren, Luftfeuchtigkeit wie nasse Ohrfeigen, und Masi Morris, die jetzt nach einer unehrenhaft beendeten Polizeikarriere als Privatdetektivin arbeitet, soll die verschwundene Frau ihres besten Jugendfreundes finden, die aus einer der reichsten Familien Israels stammt. In der Folge geht es um Familiengeheimnisse, die einem Ross Macdonald Ehre machen würden. Per Motorrad und ab und an mit Perücke und heißem Outfit verkleidet ermittelt Masi an ihrer Küste der Barbaren. Sie hat ein fotografisches Gedächtnis, eine 19-stellige Geheimzahl macht keine Probleme. Und sie schießt furchterregend gut: sechs Kugeln in das gleiche Loch. Kein Hehl macht sie aus ihren promiskuitiven Bedürfnissen, die es besser oft und gleich zu befriedigen gilt. So viel Sex, und so selbstbewusst nebenbei, ist selten geworden im Kriminalroman. Daria Shulay hat Gender Studies und Philosophie studiert, sie sei eine schreckliche Köchin verrät der Buchumschlag. (Ein Interview mit ihr hier.)

Masal „Masi“ Morris – der wir, so gut gelaunt, energiegeladen und respektlos, wie sie ermittelt, sicher wieder begegnen werden – ist eine Mischung aus Beatrix Kiddo („Kill Bill“), Saga Norén („Die Brücke“) und Stella Gibson („The Fall“). Als Lieblingsfilm gibt ihre Schöpferin „Chinatown“ an, der Film wirft tatsächlich einen giftigen Schatten auf das Buch. Masi hat eine rasche Auffassungsgabe, denn: „Kinder, die das Leben geschunden hat, lernen schnell.“ Das beflügelt den Erzählfluss enorm. Trotz seines Umfangs liest der Roman sich flüssig, schaltet im letzten Drittel noch einmal gehörig hoch. Ein Motorradunfall in Zeitlupe, ein Staatsbankett mit Angela Merkel und eine Handvoll Kung-Fu-Kumpels auf dem Dach eines Einkaufszentrums gehören dazu. Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ taucht auf, auch das lateinische Zitat „Et tu, Brute“ und am Ende wird Beckett paraphrasiert: „Der Sonne war es egal, auf wen sie schien…“

Daria Shualy: Lockvogel (Kali Barak, 2022). Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich 2024. Hardcover, 430 Seiten, 24 Euro.

Kriminalroman mit Ponyhof … und mehr

(JF) Manchmal ist das Leben eben doch ein Ponyhof. Nämlich dann, wenn angehende Führungskräfte im Umgang mit den Vierbeinern lernen sollen, störrische Untergebene nachhaltig zu motivieren. Das ist zumindest die Theorie. In der Praxis allerdings steht Mieke Jentsch, in leitender Position bei einer Reha-Klinik der Rentenversicherung beschäftigt und für höhere Aufgaben vorgesehen, ziemlich ratlos vor den bockenden Pferdchen. Und deren Besitzer, ein arroganter Alpha-Mann namens Moritz Blümel, macht die Sache auch nicht besser. Bis sie herausfindet, dass es sich bei dem „Führungskräftetraining“ um ein perfides Manöver ihres Vorgesetzten handelt, muss die junge Frau einiges einstecken. Dass sie gleichzeitig den weichen Kern unter Blümels rauer Schale entdeckt, versteht sich, denn wir befinden uns in einem Kriminalroman von Lucie Flebbe. Und die kommen selten ohne den erotischen Appeal  ungehobelter Kerle mit Dreitagebart aus.

Doch das ist nur Beiwerk. Hauptsächlich geht es in Bad Business um Milliardengeschäfte im Gesundheitsbereich. Reha-Kliniken in Trägerschaft der Rentenversicherungen sollen möglichst lukrativ an Krankenhauskonzerne verscherbelt werden. Und weil Profitgier zu Mord führt, schwebt Mieke Jentsch in Lebensgefahr. Zumindest sieht es so aus. Doch die Wahrheit ist komplizierter, wie sich im blutigen Finale des Romans zeigt. Vielleicht verdankt sich dieser zweite Handlungsstrang im Stil skandinavischer Mordgeschichten dem Umstand, dass es Lucie Flebbe zu langweilig war, sich auf einen Politthriller in bewährter aufklärerischer Tradition zu beschränken. Ihrem Publikum dürfte es gefallen.

Lucie Flebbe: Bad Business. Deal mit dem Tod. Kriminalroman. Grafit, Köln 2024. 420 Seiten, 15 Euro.

Scharfsichtig, poetisch und genau

(AM) In den USA erscheint dieses Buch jetzt im Mai 2024 im Verlagsprogramm SJP Lit, das die Schauspielerin Sarah Jessica Parker („Sex and the City“) als Imprint im New Yorker Independent-Verlag Zando herausgibt. Die deutsche Übersetzung kam bereits im November 2023 heraus – weithin unbeachtet und bis auf eine empathische Besprechung von Hanspeter Eggenberger auf seinem Krimi-Blog Krimikritik völlig untergegangen. Auch an der Krimibestenliste ging das Buch vorbei. So grausam und unachtsam kann der Markt sein. Der Promi-Appeal immerhin einer TV-Serie wie „Sex and the City“ wurde vom deutschen Verlag gar nicht erst bemüht. Dennis Lehane, mit einem nur auf zwei Bücher gekommenen Imprint bei FSG gelang es 2013 immerhin, die Autorin Ivy Pochoda zu etablieren (nach deutschem Start im Verlag ars vivendi bald bei TW/Suhrkamp mit „Sing Her Down“).

Frauen und Kinder zuerst von Alina Grabowski ist ein magnetisches, ja grandioses Debüt, wenn auch nicht „your normal Kriminalroman“. In der fiktiven Kleinstadt Nashquitten, Massachusetts, südlich von Boston angesiedelt, erzählt das Buch in zehn Stimmen von den Tagen um den Tod einer Schülerin, klar gegliedert in zwei Sektionen: „Vorher“ und „Nachher“. Alle zehn Perspektiven sind weiblich: Teenager, Mütter, eine Nachbarin, eine Lehrerin, Freundinnen. Lucy Anderson ist bei einer Party in einen leeren Swimmingpool gestürzt, so viel ist klar. War es ein Unfall? Ist sie ausgerutscht? Wurde sie geschubst? Hatte sie einen epileptischen Anfall?

Der Vorfall wirft ein neues, grelles Licht auf das alltägliche Küstenkaff-Nebeneinander, auf Beziehungsgeflechte und Sozialgefüge, Alina Grabowski beschreibt diese Welt mit großer erzählerischer Kraft und Poesie in vielen Vignetten, rasiermesserscharf und poetisch. „Am letzten Samstag im Mai ertrinke ich im Schlaf …“, beginnt das Buch. „Ich dachte, in Träumen dürfte man nicht sterben?“ Eine Klassenkameradin hat eine heimliche Affäre mit einem Lehrer, eine Lehrerin eine eigene Agenda; der erste Sex, Geheimnisse und Unsicherheiten, Niederlagen und Träume, Aufbruch und Resignation, das ganze Leben findet sich in diesen zehn Nussschalen – und die Suche nach dem, was da eigentlich passiert ist. Dass die Wahrheit verschiedene Seiten und Gesichter hat, wissen wir spätestens seit Akira Kurosawas RASHOMON, der 1950er Verfilmung von zwei Kurzgeschichten des großen Ryūnosuke Akutagawa (1892 – 1927), der mit seinen 150 Erzählungen als Vater der japanischen Short Story gilt. So etwas kann Alina Grabowski nie wieder einholen, aber auch sie ist eine Meisterin der kurzen Form, wurde für ihre Kurzgeschichten schon mehrfach ausgezeichnet. Hier flicht sie zehn Stränge zu einem beeindruckend ungewöhnlichen Roman. Diese Autorin muss man sich merken.

Alina Grabowski: Frauen und Kinder zuerst (Women and Children First. SJP Lit/Zando, New York 2024). Aus dem Englischen von Eva Kemper. Atlantik/Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 384 Seiten, 25 Euro.

Heftiger Stoff

(JF) Im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin leben um die sechs Millionen Menschen und über eine Millionen Milchkühe. Hier zur Dairy Queen gekrönt zu werden, ist schon etwas. Da erträgt man auch, sich von feuchten Politikerhänden betatschen zu lassen. Also lässt sich die Farmerstochter Heidi White nichts anmerken, als der Abgeordnete Cyrus Johnsrud ihren Rücken befummelt. Von Männern ist man hier offenbar Schlimmeres gewöhnt. Davon erzählt Bad Axe County, Auftakt zu einer bislang vierteiligen Reihe von Kriminalromanen des aus Wisconsin stammenden Autors John Galligan.

Im Mittelpunkt steht die ehemalige Milchkönigin, inzwischen verheiratet, Mutter von drei Kindern und vertretungsweise Sheriff des Countys. Die Farm gibt es nicht mehr, seit ihre Eltern gewaltsam ums Leben gekommen sind. Angeblich hat der Vater erst die Mutter erschossen und dann sich selbst. „Erweiterter Selbstmord“ nennt das die Polizei, eine Erklärung, die Heidi nicht akzeptiert. Dass ihre Zweifel berechtigt sind, versteht sich. Dafür spricht schon ihr genrekonformes detektivisches Gespür. Immerhin verdankt sie den Sheriff-Posten der raschen Auflösung eines Mordfalls. Das gefällt nicht jedem. Nicht nur Boog Lund, langjähriger Stellvertreter des bisherigen Amtsinhabers, findet, dass ein Mann an die Stelle gehöre. Aber Heidi Kick, wie sie seit ihrer Eheschließung heißt, ist taff und hartnäckig genug, sich in einer Welt zu behaupten, in der Gewalt gegen Frauen alltäglich ist, von den Initiationsriten des örtlichen Baseball-Clubs über obskure Partys in einem Striplokal bis zum organisierten Mädchenhandel. Das ist heftiger Stoff. Und manchmal nur schwer zu ertragen. Da hilft auch eine sympathische Ermittlerfigur wie Sheriff Kick nur bedingt, zumal sie langfristig auf verlorenem Posten stehen dürfte.

John Galligan: Bad Axe County (Bad Axe County, 2019) Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Polar Verlag, Stuttgart 2024. 423 Seiten, 17 Euro.

Eindeutig der irrste Showdown

(TG) Von nun an geht’s bergab. Das beschreibt die Kurve, die bei Till Raether Leben und Karriere des Adam (=Mensch) Danowski als Polizist in Serie machen. In nunmehr sieben Romanen hat sich Danowski durch alle denkbaren psychischen Zustände und polizeilichen Jobs (Fallanalytiker, Mordermittler, Aktenschieber) gearbeitet, ohne voranzukommen. Weder in der Karriere, noch in der Lebenseinsicht, noch im Selbstverständnis.

Sturmkehre ist das Ende. Seine beiden besten Freunde und Kollegen hat der hypersensible, hyperselbstkritische Mann so sehr vergrätzt, dass sie praktisch die Kommunikation mit ihm eingestellt haben. Die Scheidung von seiner Frau Leslie steht bevor, seine geliebten, aber irgendwie unverstandenen Töchter, sind auf dem Absprung oder haben bereits das Haus verlassen.

Als er endlich einmal (im vorletzten Roman „Hausbruch“, benannt nach einem Hamburger Viertel) das Richtige getan und einer gequälten Frau geholfen hat, sich der Leiche ihres Mannes zu entledigen, war das natürlich auch das Falsche. Weil er seine Kumpel in die verbotene Aktion nicht einbezogen hat, um sie vor dem Vorwurf der Mittäterschaft zu beschützen, hat sein Vorgesetzter Kienbaum davon erfahren. Der ist aber ein Sadist und Karrierist, er kommandiert Danowski wie sein Hündchen herum. Er braucht nur die Schublade zu öffnen, in der eine Akte mit Adams Verfehlungen liegt, und schon geht der in den Knast, wegen Beihilfe zu Mord oder Beseitigung eines Mordopfers. Das ist die Ausgangssituation von „Sturmkehre“.

Kienbaum will Polizeipräsident werden. Dafür will er seine  Fallstatistik aufbessern und manipuliert den bereits geständigen und gefassten „Fleetmörder“, noch ein Verbrechen mehr zu gestehen. Problem ist nur, dass die Leiche der angeblich von ihm ermordeten Maria Kolossa nicht nur nicht aufzufinden ist. Sondern dass sie, wie Danowski nach einigen Recherchen vermutet, sogar noch lebt. Aber versteckt. Er muss sie finden, tot oder lebendig, wenn er ein freier Mann bleiben will. – Wie das ausgeht, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Raether mochte schon immer irre Showdowns. Aber dieser, auf einer einsamen Insel in Dänemark ist eindeutig der irrste, den er erfunden hat. Und Danowski, eine der spannendsten verdrehten Figuren der deutschen Kriminalliteratur der letzten Jahre, tritt vielleicht doch nicht ab. Was zu hoffen wäre.

Till Raether: Danowski: Sturmkehre. Rowohlt Polaris, Hamburg 2024. Klappenbroschur, 304 Seiten, 18 Euro. – – Tobias Gohlis ist Begründer und Sprecher der Krimibestenliste. Zu seinem Krimiblog Recoil, von dem dieser Text stammt, geht es hier.

Genüsslich böse

(JF) Mordgedanken quälen Hartmut Frohmann. Und wer würde es ihm verdenken? Schon wieder ist der habilitierte Theaterwissenschaftler einer Mitbewerberin unterlegen. Gewiss, er könnte sich von seinem Lebensgefährten, dem schwerreichen Galeristen Fred Grohé, aushalten lassen, aber das lässt sein Ego nicht zu. Frohmann ist von seinen wissenschaftlichen Qualitäten mehr als überzeugt. Und das zu Recht. Seit mehreren Jahren vertritt er als Privatdozent erfolgreich eine vakante C4-Professur. Doch eine feste Stelle ist nicht in Sicht. Denn die werden regelmäßig mit Frauen besetzt.

Dass Frohmann unter Mordverdacht gerät, als eine seiner Hauptkonkurrentinnen gewaltsam zu Tode kommt, versteht sich. Es könnte aber auch Fred gewesen sein. Hauptkommissar Lau von der Berliner Kripo ermittelt eifrig, doch zunächst erfolglos. Und als er meint, das Rätsel gelöst zu haben, fehlen ihm die Beweise. Aber das ist auch nebensächlich. Der Frauenbeauftragte, laut Untertitel „ein queerer Campus-Krimi“, will vor allem Satire sein. Also bevölkern im Wesentlichen Karikaturen die Handlung dieses bösen kleinen Romans, der sich in genüsslicher Übertreibung des Universitätsbetriebs in den Zeiten von Genderforschung und Frauenförderung annimmt. Ausgeteilt wird nach allen Seiten. Und das mit offenkundiger Genugtuung. Kim Wakker, so der sehr nach Pseudonym klingende Name auf dem Cover, wird es großen Spaß bereitet haben, sich dieses Rüpelstück im Prosagewand auszudenken.

Kim Wakker: Der Frauenbeauftragte. Ein queerer Campus-Krimi. Alexander Verlag, Berlin 2024. 222 Seiten, 18 Euro.

Fast wie im wirklichen Leben

(JF) Geier kreisen über der Stadt. Rudel verwilderter Hunde lauern auf Beute. Und wo einst Asphalt und Pflasterstein den Boden bedeckten, stehen meterhoch Büschel  von scharfkantigem Gras. Von den einst vier Millionen Einwohnern Berlins ist nur eine Handvoll geblieben. Die Biologin Nathalie hat sich mit der kleinen Marie, die ihre Familie verloren hat, in einem ehemaligen Supermarkt einquartiert, während eine Gruppe bewaffneter Männer  auf der Suche nach Nahrung die überwucherten Straßen durchkämmt. So sieht es aus, wenn die menschliche Zivilisation an ihr Ende kommt.  Dabei hat alles ganz harmlos mit ein paar grünen Halmen in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen angefangen.

Der dystopische Öko-Thriller Gras von Bernhard Kegel malt aus, was passieren kann, wenn eine invasive Pflanze allen Versuchen, ihr den Garaus zu machen, widersteht, wenn elektrische Sensen und Herbizide versagen. Nathalie, der das tückische Grünzeug schon früh aufgefallen war, hat ihm sogar einen sprechenden Namen verpasst. Aber was es genau mit „Invicta“ auf sich hat, findet sie, all ihren wissenschaftlichen (und detektivischen) Bemühungen zum Trotz, nicht heraus. Handelt es sich um ein aus dem Ruder gelaufenes Experiment von Bio-Hackern? Oder um einen üblen Streich der Natur? Doch das ist angesichts der verheerenden Konsequenzen, die der studierte Biologe Kegel mit deutlicher Freude am schockierenden Detail ausmalt, auch zweitrangig. Expertenwissen kann ziemlich gruselig sein. Ob die Welt, wie wir sie zu kennen meinen, eine Chance hat, lässt das Ende des Romans offen. Also fast wie im wirklichen Leben.

Bernhard Kegel: Gras. Dörlemann Verlag, Zürich 2024. 381 Seiten, 25 Euro.

Erfrischend boshaft

(JF) Gehöriges Misstrauen wäre von Anfang an angebracht. Denn die Begründung, unter der sich der amerikanische Starfotograf Leslie Searle in dem idyllischen Flecken Salcott St. Mary, wo sich seit einiger Zeit eine regelrechte Künstlerkolonie etabliert hat, einnistet, scheint bei genauerem Hinsehen ebenso dubios wie die Umstände seines späteren Verschwindens. Aber solchen Argwohn erspart man sich gerne, wenn man sich in einem klassischen britischen Detektivroman, wo derlei Ungereimtheiten an der Tagesordnung sind, befindet.

Dem Ermittler ergeht es übrigens nicht anders. Ziemlich spät kommt Detective-Inspector Alan Grant von Scotland Yard, der im Fall des plötzlich verschwundenen Fremden lange im Dunkeln getappt ist, die entscheidende Idee. Dass die anschließende Auflösung recht naheliegend ist, verblüfft dann doch. Aber das mindert das Vergnügen an dem 1950 erstmals erschienenem Rätselkrimi Wie ein Hauch im Wind von Josephine Tey kaum. Stilistisch elegant und erfrischend boshaft schildert die Autorin (1896-1952), wie die kleine Dorfgesellschaft  durch Searles attraktive Erscheinung durcheinandergewirbelt wird. Selbstredend ist das Fiktion pur. Und wahrscheinlich reiner Eskapismus. Passend dazu kommt die Neuausgabe der 1990 erstmals in DuMonts Krimi-Bibliothek erschienenen, gut lesbaren deutschen Übersetzung als hübsches Pappbändchen im nostalgischen Design daher.

Josephine Tey: Wie ein Hauch im Wind (To Love and Be Wise, 1950). Aus dem Englischen von Manfred Allié. Oktopus bei Kampa, Zürich 2024. 316 Seiten, 23 Euro.

Lufthoheit im Kalten Krieg

(AM) Der gute alte Techno-Thriller feiert fröhlich Auferstehung bei Chris Hadfield. Wegen des Erfolgs von »Die Apollo-Morde« (ebenfalls bei dtv) sogar im Hardcover. Dort ging es in einer leicht veränderten Parallelwelt mit Apollo 18 auf eine russische Raumstation und zur Wasserlandung  im Pazifik, mitten im Kalten Krieg. Silvester Stallones Balboa Productions entwickeln daraus gerade einen Kinofilm, samt Serie für Amazon.

Hadfield trägt den Dienstgrad »Cmdr« (Commander) zurecht. Er war Testpilot der US Air Force wie der US Navy, Kampfpilot im Kalten Krieg, fing bewaffnete sowjetische Bomber im nordamerikanischen Luftraum ab, absolvierte drei Raumflüge, einen davon als Pilot der russischen Sojus, half beim Aufbau der Raumstation Mir, ging zwei Mal im Weltraum spazieren und diente als Kommandant der ISS. Außerdem war er für die NASA Director of Operations in Russland.

Sein neuer Roman The Defector. Die Jagd beginnt – verstehe solche Titel wer will – nimmt alle, die bei der Neuverfilmung von TOP GUN im Dolby-Atmos-Kinositz gesessen sind, mit ins Cockpit der ultimativen Kampfflugzeuge von 1973. Zu Anfang fetzt eine MiG-25 über den israelischen Himmel, eine legendäre »Foxbat«. Dies am Beginn des Jom-Kippur-Kriegs, der Gelegenheit zu einigen militärtechnischen Exkursen gibt, dann aber keine Rolle mehr spielt. Mosche Dajan eröffnet einen kleinen Reigen einäugiger Krieger und Kampfpiloten. Adolf Galland, auf einem Auge fast blind, gehörte auch dazu, lernen wir. Hadfields Hauptfigur, US-Marine-Pilot Kaz Zemeckis, schon beim Apollo-Fall dabei, hat ein Auge bei einem Vogelschlag verloren. Er erhält den Auftrag, den russischen Jet samt Überläufer auf das geheimste Testgelände der USA zu bringen. Von dem Überläufer wissen wir schon bald, dass er eigene Pläne hat. Dazu semmelt es tonnenweise unnützes Wissen zum Jet-Treibstoff JP-4, zu Funkfrequenzen, Radarhöhenmessung, Flugverhalten, nuklearbetriebenen Raketentriebwerken, M26-Splittergranaten bis zu den Vorzügen von Nike-Turnschuhen oder einer allmählicher Vergiftung durch Warfarin. In Kapitel 43 sind wir hautnah dabei, wie ein sowjetischer Zenit-4M-Spionagesatellit eine bestimmte Aufnahme schießt. Man ist ein wenig Flipperkugel in solch einem Techno-Roman.

Lang ist es her, dass Craig Thomas 1977 einen US-Piloten einen Russen-Jet stehlen ließ: »Firefox«, 1982 von und mit Clint Eastwood verfilmt. Der Kalte Krieg ist zurück – und damit seine Stoffe und Ideen. Auch um Lufthoheit geht es wieder.

Chris Hadfield: The Defector. Die Jagd beginnt (The Defector, 2023). Deutsch von Übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer. Verlag dtv, München 2024. Hardcover, 478 Seiten, 25 Euro.

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