Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Alf Mayer: Alexander Kluge ist 90

Der Leser als Produzent seiner Erfahrung!

Kleine Begegnungen mit Alexander Kluge und seinem Werk

Hamburg, Ende September 1979. Einem Sonderzug aus München entsteigen am Bahnhof Dammtor unter anderem Margarethe von Trotta, Alexander Kluge, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, kurz alles, was im Jungen Deutschen Film Rang und Namen hat. Im CSU-Bayern waren sie mit Forderungen nach Filmförderung auf Granit gestoßen, Hamburg wird das erste Bundesland, das ihnen die Tore öffnet. Dort veranstaltet der deutsche Autorenfilm jetzt sein erstes Filmfest. Im Abaton. Aus diesem Anlass tagt dort auch die AG der Filmjournalisten. Abends zeigt Fassbinder seinen Film „Die dritte Generation“, zuvor aber ist Alexander Kluge dran – ohne den das alles hier nicht stattfinden würde. Seit Jahren zieht er die filmpolitischen Strippen, vernetzt und verbündet sich, ist spiritus rector und Grundsteinleger bei der Gründung von Filmverbänden und Filmbüros. (Eine noch viel zu wenig dargestellte Subgeschichte des deutschen Films.)

Hamburg ist, politisch, ein Erfolg. Die Freude über die sich bündelnden Kräfte ist Kluge anzumerken, dennoch bleibt er nervös. Denn am Nachmittag des 29. September 1979 zeigt er den versammelten Journalisten exklusiv seinen eben erst fertiggestellten Film „Die Patriotin“. Er sitzt neben mir, wir kennen uns aus Frankfurt, seine Schwester Karen (die sich in der Öffentlichkeit aus Symbiose mit dem Bruder Alexandra nennt) ist meine Hausärztin. Plötzlich springt Kluge auf, eilt in den Vorführraum. Kommt wieder. Zieht mich am Ärmel aus dem Kino. Flüstert, aufgeregt: Der Vorführer hat eine Rolle vertauscht, gerade läuft Akt 4 statt 3. Ob er den Film abbrechen solle? Ich rate ihm ab, meine Kollegen klebten doch förmlich an der Leinwand. Man könne das ja immer noch bei der Diskussion richtigstellen. Kluge atmet durch, lässt weiterlaufen. Niemand beschwert sich, keinem fällt etwas auf. Unisono preisen die Kritiker Kühnheit und Stringenz der Filmmontage.

Szene 2, zehn Jahre später: Ich komme verspätet in München auf dem Arri-Gelände an, wo der WDR (oder wer immer) für Kluge einen Schnittraum unterhält. Wir arbeiten seit einiger Zeit zusammen. Es gilt, jede Woche gute 20 Minuten Programm für die TV-Sendung „Ten to Eleven“ zu machen. Auf dem Schnittmonitor schleichen zwei müde, gedopte (?) Löwen  um umgestürzte Pappsäulen. Italienischer Stummfilm vom Untergang von Pompeij, da habe er ein paar Meter besorgen können, erklärt mir Kluge. Das Material ist bereits gestreckt, ich kenne das, die Löwen per Prisma vervielfacht, Bild im Bild im Bild. Auf einer Einblendtafel steht sinngemäß, dass beim Sturm auf die Bastille auch die Zirkuslöwen auf Freiheit bestehen. Viel anderes gibt das Material nicht mehr her, sagt Kluge. Wie kommen wir denn bloß ins 20. Jahrhundert? Am besten per Auto, platzt es aus mir heraus, die Filmgeschichte ist voller Autos. Kluge, tippt dem Cutter auf die Schulter: Kajetan, „In Gefahr und größer Not …“, die vierte Rolle, da sucht meine Schwester im Frankfurter Westend einen Parkplatz, das sind einige Minuten. Zack sind wir im 20. Jahrhundert und in einem Auto – ab jetzt geht es zügig weiter. Wir schaffen die 20 Minuten bis 17 Uhr.

Szene 3: Ich hole ihn am Hauptbahnhof in Frankfurt ab, wir laufen hinüber in die Savignystraße im Unteren Westend. Er soll bei einer Podiumsdiskussion im Jüdischen Gemeindezentrum dabei sein. Er hat das Thema vergessen, ich weiß es auch nicht, hatte nicht drauf geachtet, im Hinterkopf vage etwas mit Romantik. Dann sind wir da, die Veranstaltung schon fortgeschritten. Illustres Podium, voller Saal. Kluge wird begrüßt, auf die Bühne gebeten, erhält sogleich das Wort, hat keine Ahnung, was gerade Thema war, in welchem Zusammenhang er jetzt sprechen soll, und sagt, leise, im Zustand völliger Gelassenheit: Bei allem, was wir heute mit der Romantik verbinden, müssen wir immer miteinrechnen, was an Eigensinn sich seitdem in uns akkumuliert hat … und so weiter … und so fort. Rauschender Beifall. Großer Dank für einen substantiellen Beitrag, als hätte sein Statement die Tagung gerettet. 

Man darf sich Alexander Kluge nicht als Zauderer vorstellen. Das ist er ganz und gar nicht. Er vertraut – geradezu mit Urkraft (dazu im nächsten Monat im zweiten Teil meiner Würdigung mehr) – auf die Magie des Zusammenhangs, auf den Erkenntniswert der Montage, auf das Prinzip Zufall. Er ist ein Jongleur der Fundstücke, ein Turmspringer, ein beherzter Alchemist, der schon aus Prinzip mit allerlei Stoffen experimentiert und sie zusammenbringt. Bei ihm kommt alles in den Kessel, verändert den Aggregatzustand. Und was immer er daraus schöpft, macht Sinn. Buchstäblich. Jetzt Mitte Februar 2022 ist er 90 geworden, zaubert und experimentiert immer noch.

In der „Patriotin“ brachte er das Knie des in Stalingrad gefallenen Obergefreiten Wieland zum Sprechen. Die Heldin des Films, die von der beherzten Hannelore Hoger verkörperte Geschichtslehrerin Gabi Teichert, gräbt tatsächlich mit einer Schaufel in der Geschichte, tiefer und tiefer. „Je näher man ein Wort anschaut, desto fremder schaut es zurück – – – Deutschland“. In ihren Forschungen befasst sie sich mit Bombenangriffen, mit dem Parteitag der SPD, sie forscht nach der Geschichte der Körper, erlebt eine Kaufhausräumung, gerät in Konflikt mit Vorgesetzten, trifft auf Märchen, prüft das Verhältnis einer Liebesgeschichte zur Geschichte und so fort; alles das tut sie handgreiflich, praktisch, erprobt Werkzeuge. Wie man Autos oder Holzstücke bearbeitet, das weiß man; wie aber bearbeitet man die Geschichte unseres Landes? Geschichte, das sind für Kluge und Teichert nicht die gedruckten Buchstaben in den Bibliotheken. Aus der Perspektive eines toten Knies etwa sieht manches anders aus.

Im März 1981 erschien dann das in dreijähriger Zusammenarbeit mit Oskar Negt entstandene bibel-dicke Buch „Geschichte und Eigensinn“: 1284 Seiten (Zweitausendeins Verlag). Das Hauptinteresse des Buches, so die Autoren: „Die Kategorie des Zusammenhangs.“ Schon im neunseitigen Inhaltsverzeichnis gibt es Kommentare, so wenig können die Autoren ihren Diskurs zurückhalten. In der Nachbemerkung der Hinweis: „Man muss die Lücken mitlesen… Es ist keine Phrase, dass wir auf die Eigentätigkeit des Lesers setzen“… 

„Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch“, heißt es im zwanzig Jahre später erschienenen zweiten Band, er trägt den Titel „Der unterschätzte Mensch“. Ein Buch entsteht im Kopf des Lesers, ein Film im Kopf des Zuschauers. Kluge predigt das in diesen Jahren unentwegt. Und er meint es ernst. Es ist seine Methode. 

Er macht das seit 1962. Mit immer virtuoserer Verfeinerung von Stil und Zugriff und Chuzpe jetzt schon 60 Jahre lang. Seit seinem Buch „Lebensläufe“. Die neun Kapitel darin galten teils erfundenen, teils nicht erfundenen Personen: Oberleutnant Boulanger, Kriminalrat Scheliha, Fräulein v. Posa, E. Schinke, Anita G., Manfred Schmidt, Schebkowski, Korti. Der Erzählstoff streunte bereits mehr als wild. Nämlich frei – und dennoch konzentriert. 
Sein zweites Buch, „Schlachtbeschreibung“ von 1964, beschrieb „den organisatorischen Aufbau eines Unglücks“, nämlich das der Nazi-Kriegsführung und allen Wehrmachtsoldaten zum Trauma geratene Stalingrad. Im Winter 1943 kapitulierte dort die deutsche 6. Armee. Kluge montiert Dokumente wie einen Film. Egal, wo da die dritte oder vierte Rolle sitzt. Das zeigt auch die erweiterte und umgeänderte Version des Buches im Band 1 der „Chronik der Gefühle: Basisgeschichten“ (S. 509-793.). Abgeschlossene Werke gibt es für Kluge nicht: „Bücher halten nicht still. Sie sind auch nie ‚beendet‘.“ Während viele damalige Kritiker wenig damit anfangen konnten, befand Joachim Kaiser schon 1964, dass Kluge mit seiner Montagemethode seinem „Objekt schriftstellerisch gerechter wird als die allermeisten Kriegsromane“. Auszüge aus Feldpredigten gehören hier dazu, Erinnerungen von Offizieren, Soldaten und Ärzten in Interviewform, Beispiele für korrekte militärische Umgangsformen, historische Kriegspläne sowie die Besonderheiten der „Sprache der höheren Führung“.

Die Zeit wird es weisen, ob die literarische Bearbeitung unserer Gegenwart, ob der Übergang vom Zwanzigsten auf das Einundzwanzigste Jahrhundert sich nicht am ehesten anschaulich in den Miniaturen, Kommentaren, Kontainern und Erzählungen Alexander Kluges wiederfindet. Ob nicht er unser Vergil ist, unser Homer. Unser Universalgelehrter. In Erzählungen gemessen ist er jetzt schon weiter als Scheherazade, hält uns wach … Alexander Kluge, das ist kein Uni-, sondern ein Pluriversum, wie sich denn folgerichtig seine große Werkschau zum 85. Geburtstag im Folkwang-Museum betitelte.

Kluge, das ist die Verkörperung von Robert Musils Satz: „Wenn es einen Realitätssinn gibt, dann muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.“ Noch den größten Katastrophen vermag er Utopien, Überlebensstrategien und Subversives abzugewinnen, die Totendramen der großen Opern sind ihm Kraftwerk der Gefühle. Bei allem Faszinosum für die Abgründe menschlichen und technokratischen Wirkens ist er ein Vertreter des Lebens, das pure Gegenteil eines Nihilisten. Kluge ist ganz klar Humanist. Vielleicht muss man in unserer zynischen Welt sagen: der Letzte.

Unermüdlich forscht und gräbt und schürft er durch unsere Welt und deren Geistesgeschichte. Im Laufe seines nun schon so lange produktiven Lebens hat der 1932 Geborene uns eine schier unermessliche Fülle an Fundstücken, Geschichten, Verknüpfungen, Echolot-Signalen und Artefakten ausgebreitet, dass es Generationen brauchen würde, das zu ordnen, gar zu würdigen. Ein Detektiv ist er – in höherem Auftrag, kein sterblicher Auftraggeber könnte diesen Luftgeist halten. Mein Freund und Nachbar Alfred Edel sagte mir einmal dazu: „Wer wie der Alexander das Abendland retten will, muss jeden Tag früh aufstehen.“

Aber im Ernst: „Schlachtbeschreibung“ datiert von 1962, sein Erstlingsspielfilm „Abschied von Gestern“ von 1966, das ist mehr als 30 Bücher und 2.000 Filmminuten her, an die 3.000 TV-Sendungen und etwa 1.500 Stunden Sendezeit nicht gerechnet (die gängige DVD-Edition enthält alleine 108 Kluge-TV-Filme mit 30 Stunden Laufzeit), Vorträge und Präsenz allerorten noch oben drauf. Er ist einer unserer größten Intellektuellen, manche halten ihn für einen Alien. 

Alexander Kluge, das sind all die Sammlungen des Frankfurter Senckenberg Museums, das Frobenius-Institut dazu und die Humboldt-Archive, all die über die Museen Europas verstreuten Raubzugsgüter von Napoleons Expeditionen, ganze Bibliotheken, eben: das Abendland. – Und dennoch: In all der Ruhelosigkeit, dem steten Suchen und Schürfen klingt immer wieder ein Ungenügen an, eine Unzufriedenheit mit der eingeschränkten Fassungskraft des menschlichen Geistes, mit der Schwerkraft des eigenen Begreifens und Erfassens, wo doch theoretisch das Mögliche eben wirklich möglich wäre. Kluges Möglichkeitssinn will das Unendliche, will ALLES durchdringen. Immer wieder (wie etwa auch in seinem Buch „30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann; 2014) gibt es bei ihm jemanden, der sagt: „Niemand hat einen Überblick über das Ganze“. Der klassische Kluge-Filmtitel dazu stammt bereits aus dem Jahr 1970: „Der große Verhau“. (Alfred Edel im daran anschließenden, im Weltall Stalingrad paraphrasierenden „Will Tobler und der Untergang der Sechsten Flotte“ als Kybernetik-Professor Willi Tobler und manch Bügeleisen oder Staubsaugerkorpus als Raumschiff.)

„Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, dass Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, dass die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen“, sagte Kluge 1993 in seiner Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis.

Sein letzter „richtiger“ Kinofilm war 1985 „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“, auch der schon episodisch mit der Methode, Menschen, Medien und Maschinen im Wandel der Zeit zu zeigen. Eine polnische Hausmeisterfamilie will die Bestände einer Filmproduktion vor den einfallenden Deutschen schützen, ein blinder Regisseur mit phantasiereicher Bildgewalt die Oper „Falstaff“ verfilmen. Eine Ärztin wird von einer Maschine ersetzt, eine Theateraufführung von Tosca dokumentiert, Stummfilm-Sequenzen übereinander kopiert. Der nächste Film, von 1986, trug sein Programm schon im Titel: „Vermischte Nachrichten“. 

Dass und warum Kluge dann im sich ausbreitenden (Privat-)Fernsehen heimisch wurde, hat viele Gründe, einer davon war immer treuhänderisch – nur wollten ihm, das habe ich damals vielfach mitbekommen, kaum eine/einer seiner Regiekolleginnen und Kollegen so richtig und konsequent folgen, wie er es mit den plötzlich zur Verfügung stehenden Sendeplätzen machte. Fernsehen statt Kino. Statt sich über Jahre hinziehende Förderanträge jede Woche Produktion. Dauerausstoß. Dauerbetrieb. Dauerkreativität. Chuzpe. Italienische Stummfilmlöwen. Das ganze 17., 18. 19., 20. Jahrhundert. Die Welt. Unsere Kultur. 

Zwischen 1988 und 2018, also innerhalb von 30 Jahren, werden daraus unglaubliche 3.000 Sendungen: mittellange Essayfilme, Kurzfilme, Interviews, Reportagen, Experimente im Magazinformat. Es gab und gilt Sendeplätze zu füllen – und zwar nicht, wie manche Überforderte oder Neider glauben, zur Befeuerung des eigenen Egos. Sondern eben treuhänderisch. Oft genug habe ich Kluge um Mitstreiter, um Beteiligung werbend erlebt. In seinem Begriffsinventar und in seiner praktischen Arbeit ist „Kooperation“ eines der wichtigsten Stichwörter. 

Die Plattform für unabhängige Anbieter im deutschen Privatfernsehen werden ab Frühjahr 1988 die Kulturmagazine der dctp (Development Company for Television Program mbH), im Jahr zuvor  in Düsseldorf von Kluge und dem japanischen Werbekonzern Dentsu gegründet, heute von ihm zu 37,5 Prozent, von Dentsu (37,5), Spiegel-Verlag (12,5) und Neue Zürcher Zeitung (12,5) gehalten und für Partner wie Spiegel-TV, SternTV, Süddeutsche Zeitung-TV oder BBC Worldwide gemanagt. Von 2001 bis 2006 betrieb dctp gemeinsam mit Spiegel TV auch den Fernsehsender XXP

Die dctp-Programmflächen sind gesetzlich erzwungen, sind Teil der Rundfunkstaatsverträge. Die Privatsender müssen unabhängigen Programmveranstaltern wöchentlich eine gewisse Sendezeit einräumen – „zur Sicherung der Meinungsvielfalt“. Diese sogenannten Drittsendezeiten bespielt Kluge mit eigenen Magazinen, so weit die Kräfte und Bilder reichen. (Kann sich das jemand vorstellen: Jede Woche 20 oder 30 oder 45 Minuten sendefähigen Film? Kulturprogramm?)

In seinem Buch „Die TV-Falle“ schrieb der frühere Sat-1-Geschäftsführer Roger Schawinski in einem Kapitel mit der Überschrift „Lizenz zum Gelddrucken“ folgendes: „Der verdiente, äußerst kultivierte und sympathische Alexander Kluge … liefert Sendungen, die sich sonst im gesamten deutschen Fernsehen nirgendwo finden, in ihrer Radikalität nicht einmal bei 3sat oder Arte.“ Kluge nennt es, „das Fernsehen offen zu halten für das, was außerhalb des Fernsehens stattfindet“. Sein Ding sind Formate, „die ausloten, was Fernsehen eigentlich kommunikativ leisten kann, wenn es nicht ängstliches Quoten-TV sein muss“.

Peter Berling © dctp-tv

Seit Gründung der Filmabteilung 1963 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm experimentiert Kluge mit Kurzfilmen, seit 1965 mit großen Kinofilmen, seit 1988 im Fernsehen. Seit Output alleine im filmischen Medium ist ungeheuerlich und es kommen über 2.000 Erzählungen und Texte in seinen über 30 Büchern noch hinzu.

Alleine mit dem Filmproduzenten, Schauspieler und Schriftsteller Peter Berling hat Kluge über 160 Sendungen produziert. „Er ist jemand, der auf geniale Weise antworten kann. Wenn wir uns verabredet haben, hat er nicht gewusst was ich ihn frage und ich nicht gewusst was er antwortet“, erläutert Kluge den typischen Ablauf einer Sendung. Seine Rollen erfuhr Berling immer erst kurz vor der Aufnahme, bekam ein für die dargestellte Person typisches Kostüm hingereicht – dann war sein Talent zur Improvisation gefragt. Er war Kapitän der 1994 gesunkenen Estonia, ein Sträfling im Mittelalter, ein Bischof, ein Wissenschaftler. Unvergessen sein Auftritt als walfangender Kapitän Epsen Kioning („Walfang im Kuh-Sturm“). Sternstunden der TV-Geschichte. Helge Schneider ihm nacheifernd unter anderem als Cousin von Asterix, der nun aktive Sterbehilfe leistet, als Sicherheitsexperte unter Wasser vor Heiligendamm, als Waffen- oder Gammelfleisch-Händler, als Großstadtförster in New York oder als Chirurg von Silvio Berlusconi. Nahe am Gaga, noch näher an Erkenntnis.

Kluges einzelne Fernsehformate bei der dctp:

„10 vor 11“ (oder „Ten to Eleven“), vom 2. Mai 1988 bis 26. Juni 2018 auf RTL gesendet. Der Titel bezog sich auf den ursprünglichen Sendungszeitpunkt 22:50 Uhr. Die einzelnen Folgen hatten eine Länge von 24 Minuten. Die letzte, die 1509. Folge, wurde am 26. Juni 2018 ausgestrahlt. Es war ein 90-Minuten-Programm mit Helge Schneider, Hannelore Hoger, Thomas Gottschalk, Olli Schulz und zwei Nobelpreisträgern. Inhaltlich ging es um Philosophie, Kunst, Wissenschaft und die „Abrüstung vom Sinnzwang“. Der Titel: „Jeder Zirkus hat ein Ende.“

„News & Stories“, vom 4. Juli 1988 bis 23. Mai 2017 auf Sat1 gesendet. Je 45 Minuten lang, meist nach Mitternacht ausgestrahlt. Manchmal gab es Sendungen doppelter Länge, um Feiertagsausfälle auszugleichen.

„Prime-Time/Spätausgabe“, vom 21. Januar 1990 bis Ende 2008 wöchentlich im Spätprogramm von RTL. Länge je 15 Minuten. 

„Mitternachtsmagazin“, von 1993 bis 2007 auf Vox. Länge je  24, mit teilweise umgeschnittenen Inhalten von „10 to 11“.

„BekanntMachung! Magazin für Kunst und Zeitgeschichte“ wöchentlich von Sonntag auf Montag im Schweizer SRF 1, Länge je 24 Minuten, mit teilweise Umschnitten von „10 to 11“ oder „News & Stories“. Dies ist das einzige noch regelmäßig ausgestrahlte der Kulturmagazine, die Folgen gibt es auch im Internet.

Die Geschichte all dieser Sendungen und Reihen muss noch geschrieben werden. Und Kluge ist ja außerdem auch noch und vor allem Schriftsteller. Auf der Fahrt in die Schweiz, zwei Koffer und vier Taschen voller „Material“ für seinen „Russland Kontainer“ im Auto dabei, notiert er im Dezember 2018 in sein Tagebuch: „Auf die Frage, warum ich keine Romane schreibe, erwidere ich: Was ich schreibe, sind Romane. Romane sind ihrem Prinzip nach Sammlungen. Die klassischen Romane gehören zu einer Schicht der Öffentlichkeit, die sie für die Gegenwart zu „Material“ macht. Gerade das, dass man an ihnen weiterschreibt, dass ihr Potential größer ist als ihre Aura, fasziniert mich. Balzac, Flaubert, Fontane, Döblin, Joyce, Proust: Zu Sammlungen geworden, verlangen sie nach Fortsetzung. Am Sockel dieser Gebirge lässt sich eine Hütte bauen, ein Steingarten einrichten.
Insofern hat das Poetische den Charakter einer Baustelle. Nicht die geordnete Struktur einer Anstalt, sondern Material, Baugrund, Arbeitskraft in freier Bewegung. Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht darin wohnen, sondern weiterbauen will.“ (Russland Kontainer, 2020)

Das Material ist ihm kein totes Ding, sondern ein eigensinniger Stoff. Es redet mit ihm. Spricht mit ihm, sucht sein Potential zu behalten, ist „ungeformt“, ist wie eine weite, von Menschenfüßen unbetrapste, von Skispuren nicht geprägte Schneefläche.  „Was ist der Grund, dass ich ‚Materialsammlungen’ gegenüber Fertigprodukten vorziehe?“, fragt er sich, und antwortet: „Fertigprodukte schließen die Zuarbeit des Lesers aus. Der Leser als Konsument von ‚Werken’? Der Leser als Produzent seiner Erfahrung!“

Und jetzt habe ich noch gar nichts zu den drei letzten Kluge-Büchern gesagt, die ich hier eigentlich besprechen wollte: „Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele“, „Zirkus Kommentar“ und „Russland Kontainer“.

Alf Mayer

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