Rezension über:

Henning Türk: Treibstoff der Systeme. Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland (= Die geteilte Nation. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1990; Bd. 3), Berlin: BeBra Verlag 2021, 200 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-89809-197-8, EUR 22,00
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Rezension von:
Jonas Kreienbaum
Historisches Institut, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Jonas Kreienbaum: Rezension von: Henning Türk: Treibstoff der Systeme. Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland, Berlin: BeBra Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36454.html


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Henning Türk: Treibstoff der Systeme

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"Du hast 'n Pulsschlag aus Stahl/Man hört ihn laut in der Nacht/Du bist einfach zu bescheiden/Dein Grubengold/Hat uns wieder hochgeholt/Du Blume im Revier...". Mit diesen Zeilen aus dem 1984er Grönemeyer-Hit, in dem der Popmusiker seine vom Kohlebergbau geprägte Heimatstadt "Bochum" besingt, beginnt Henning Türk seine Energiegeschichte der beiden deutschen Staaten. Es folgt ein Verweis auf den ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann, der einige Jahre später melancholisch die Schließung des Braunkohletagebaus in der Lausitz verarbeitete. Mit diesem sehr gelungenen Einstieg verdeutlicht der Autor nicht nur den rapiden Wandel der Energiewirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten, sondern auch seinen Ansatz, Bundesrepublik und DDR gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Türk untersucht parallele und gegenläufige Entwicklungen in beiden Staaten sowie Verflechtungen. Damit stößt "Treibstoff der Systeme" in bislang wenig erforschtes Terrain vor. Denn es existieren bis dato weder "Gesamtdarstellungen der Energieversorgung in der Bundesrepublik und der DDR" (11) noch wurde dem Themenfeld Energie in der historiografischen Literatur zu den deutsch-deutschen Beziehungen bislang viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Der Autor beginnt seine Abhandlung mit einem knappen Abriss des energiepolitischen Erbes der NS-Zeit. Im Zuge der Autarkiepolitik hatte das nationalsozialistische Regime versucht, die heimische Energieproduktion - Braun- und Steinkohle sowie Erdöl - hochzufahren, und zusätzlich auf die synthetische Herstellung von Treibstoffen gesetzt. Die vielfach im Krieg zerstörten Anlagen wurden nach 1945 meist zügig repariert und sorgten für eine rasche Erholung der Kohleförderung in den Besatzungszonen.

Anschließend widmet sich der Autor in sieben thematisch gegliederten Kapiteln verschiedenen Aspekten der Energiegeschichte. Dabei analysiert er den Kohlebergbau in den späten 1940er Jahren. Sowohl für die Steinkohle-Reviere in der britischen Besatzungszone wie für den Braunkohletagebau in der SBZ existierten zunächst Sozialisierungspläne. Doch während diese im Osten zügig umgesetzt wurden, setzte sich in den Westzonen schließlich die amerikanische Präferenz für marktwirtschaftliche Strukturen durch. Danach skizziert Türk den Aufstieg des Öls. Gerade im Westen lief der zunächst günstigere und vielseitig einsetzbare Rohstoff der Steinkohle in den 1960er Jahren den Rang als wichtigster Primärenergieträger ab. Auch in der DDR stiegen die Erdölimporte, allerdings vor allem als Grundstoff für ein ambitioniertes Chemieprogramm, das die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft voranbringen sollte. Mit dem massiven Preisanstieg im Zuge der Ölkrise von 1973/74 entpuppte sich dann die Abhängigkeit von importiertem Öl - aus dem arabischen Raum beziehungsweise aus der Sowjetunion - für beide deutschen Staaten als problematisch. Während in der Bundesrepublik in der Folge jedoch die Energieintensität sank, setzte die DDR noch stärker auf den Abbau heimischer Braunkohle, ohne den Energieverbrauch effektiv zu senken.

Als eine Alternative zum Erdöl erschien die Nutzung der Atomenergie, deren Potenzial in beiden deutschen Staaten in den 1950er Jahren euphorisch gefeiert wurde. Die Ölkrise half nun gerade in Westdeutschland eine gewisse Skepsis in der Energiebranche zu überwinden, was die kommerzielle Nutzung von Atomstrom anging. Beide Länder planten neue Reaktoren, wobei sie auf Technik aus den USA beziehungsweise der Sowjetunion zurückgriffen. Die Reaktorunfälle in Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 veränderten die Situation dann aber gerade in der Bundesrepublik grundlegend. Die bereits existierende Anti-Atomkraftbewegung gewann deutlich an Kraft, und in der Bundesrepublik wurden nun keine neuen Reaktoren mehr geplant. Dass der Kernkraftwerksbau in den 1980er Jahren auch im Osten nicht voranging, lag hingegen vor allem an den ökonomischen Problemen der Sowjetunion, die zunehmend Lieferschwierigkeiten hatte. Die vergleichsweise kleine Umweltbewegung in der DDR spielte dann laut Türk 1989/90 eine Schlüsselrolle, als sie ihren Einfluss in der Regierung Modrow nutzte, um die Abschaltung sämtlicher Reaktoren in Ostdeutschland durchzusetzen.

Stand bislang der Vergleich zwischen den beiden deutschen Staaten im Vordergrund, widmen sich die beiden folgenden Kapitel verstärkt den Verflechtungen beider Länder im Energiebereich. Sie rücken den Pipeline-Bau zwischen den Blöcken und den Kohleabbau im Grenzgebiet in den Fokus. Beides ließ sich erst vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik seit den späten 1960er Jahren und des Grundlagenvertrages von 1972 realisieren. Die Pipelines ermöglichten den Transport von sowjetischem Öl und Gas sowohl nach Ost- wie nach Westeuropa. Die UdSSR stieg so zum zentralen Erdgasversorger des geteilten Deutschland auf, was für die Bundesrepublik eine willkommene Linderung der Abhängigkeit von arabischem Erdöl bedeutete. 1976 begann darüber hinaus der kooperative Abbau von Braunkohle unter der deutsch-deutschen Grenze durch Betriebe aus West und Ost.

Schließlich untersucht der Autor Rekultivierungsmaßnahmen am Beispiel von Braunkohlerevieren in der Lausitz und am Rhein. In beiden Staaten war die Kritik an den negativen Umweltfolgen des Tagebaus stark angewachsen, so dass der Rekultivierungspraxis eine hohe Bedeutung zukam. In Ost und West sollten, etwa mit dem künstlich angelegten Senftenberger See bei Cottbus, Naherholungsgebiete entstehen, die dem Regenerationsbedürfnis der wachsenden urbanen Bevölkerung Rechnung trugen. Damit versuchte sich gerade die DDR-Führung "von der rücksichtslosen kapitalistischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen" abzugrenzen und einen "sozialistischen Umgang mit der Natur" (154) zu propagieren. Im rheinischen Revier reklamierten vor allem die Bergbauunternehmen die Rekultivierungserfolge für sich und versuchten so nachträglich, ihre massiven Eingriffe in die Landschaft zu rechtfertigen.

Erneuerbare Energien, so schließt Türk im Fazit, spielten im Vergleich zu Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland kaum eine Rolle. Das änderte sich erst allmählich mit den zunehmenden Diskussionen über Energie, Umwelt und Klimawandel seit den 1980er Jahren. Erst mit dem Atomausstieg und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz aus dem Jahr 2000 seien die Weichen für den massiven Umbau des Energiesystems gestellt worden, der in den kommenden Jahrzehnten noch bevorsteht.

Henning Türk hat ein gut lesbares, knapp gehaltenes Buch vorgelegt, das sich an ein breiteres Publikum wendet und einen konzisen Einblick in die Energiegeschichte des geteilten Deutschlands liefert. Es gelingt ihm dabei überzeugend, beide Staaten teils vergleichend, teils in ihren Verflechtungen in den Blick zu nehmen und dabei nicht zuletzt manche überraschende Parallelentwicklung über die Systemgrenzen hinweg zu skizzieren. Gerade mit Blick auf Studierende, die besonderes Interesse an solch einem knappen Überblickswerk haben dürften, hätte sich der Rezensent aber mitunter etwas ausführlichere Literaturverweise und Hinweise auf divergierende Forschungsmeinungen gewünscht. Das ändert aber nichts am positiven Gesamteindruck.

Jonas Kreienbaum