Stefan Zeppenfeld: Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 26), Göttingen: Wallstein 2021, 430 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5022-9, EUR 39,00
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Heutzutage arbeiten Türkeistämmige in "nahezu allen Wirtschaftssektoren und Beschäftigungsformen" (376) und sind ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Türkische Migrantinnen und Migranten, die seit 1961 im Rahmen des offiziellen Anwerbeabkommens in die Bundesrepublik einwanderten, übten in ihrer ursprünglichen Rolle als "Gastarbeiter" zunächst vorwiegend einfache Tätigkeiten in der Industrie aus. Wie sich ihre Arbeitswelten nach dem Ende der Anwerbephase im Herbst 1973 wandelten, wurde in der bisherigen Forschung lediglich marginal beleuchtet.
Stefan Zeppenfeld fragt in seiner Dissertation nach der Entwicklung türkischer Erwerbsbiografien in den 1970er und 1980er Jahren. Der Autor zeichnet den Wandel und die Diversifizierung der Arbeitswelten anhand von fünf Beschäftigungsfeldern nach. Zeppenfeld zeigt in seiner Untersuchung, dass die "türkischen Erwerbsbiografien einem langfristigen, oft mehrgenerationellen Normalisierungsprozess im Sinne eines Aufholens und einer Angleichung an bundesdeutsche Erwerbsbiografien unterlagen" (379). Darüber hinaus seien türkische Lebensläufe branchenübergreifend zerklüftet und klassischerweise durch "horizontale berufliche Mobilität gekennzeichnet" (377). Nur in Ausnahmenfällen sei eine Mobilität "nach oben" aus der "Gastarbeiterposition" heraus möglich gewesen (378). Dies änderte sich graduell und punktuell ab den 1980er Jahren.
Über die Anwendung des Agency-Zugriffs lenkt der Autor den Blick auf das migrantische Handeln und räumt den "Gastarbeitern" ihre verdiente Rolle als eigenständige Akteure in der bundesdeutschen Gesellschaftsgeschichte ein. Diesem Ansatz wird Zeppenfeld durch seinen breiten Quellenfundus gerecht. Ihm gelingt es, die Stimmen der Betroffenen durch die Nutzung von Quellen aus Archiven von "unten" sowie mittels diverser literarischer Ego-Dokumente und einiger Interviews in die Analyse einzubeziehen. Die Perspektive unterschiedlicher Akteursgruppen der Aufnahmegesellschaft rekonstruiert der Autor anhand von Beständen aus staatlichen und nicht-staatlichen Archiven.
Der Einleitung folgt ein kontextualisierendes Kapitel zu den deutsch-türkischen Verflechtungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Daran anschließend strukturiert Zeppenfeld seine Arbeit thematisch anhand von fünf Beschäftigungsfeldern.
Als Ausgangspunkt für die Untersuchung betrachtet Zeppenfeld am Beispiel von Siemens industrielle Großbetriebe. Diese seien auch nach 1973 weiterhin von großer Bedeutung für türkeistämmige Arbeiterinnen und Arbeiter gewesen. Die beruflichen Perspektiven in der Industrie seien häufig mit einer Stagnation im "Gastarbeiterstatus" einhergegangen. Erst ab den 1980er Jahren boten Unternehmen, vornehmlich für die zweite Generation, gezielte Aus- und Weiterbildungsangebote für migrantische Mitarbeitende an. Dennoch sei dies nicht als "kollektive Erfolgsgeschichte" (142) der zweiten Generation zu verstehen. Der Anwerbestopp habe die Entwicklung der türkischen Arbeitswelten nur bedingt eindämmen können, da sich Migrantinnen, Migranten und Unternehmen mittels alternativer Rekrutierungskanäle teilweise über diese politische Maßnahme hinwegsetzen konnten. Dies betraf sowohl die Einreisemöglichkeiten als auch die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Arbeitswelten an sich. Der Mauerfall hingegen sei als Wendepunkt für die ehemaligen "Gastarbeiter" zu bewerten, da nun vorwiegend Ostdeutsche eingestellt wurden.
Im öffentlichen Dienst seien ähnliche Muster zu beobachten. Zeppenfeld unterscheidet im vierten Kapitel zwischen drei Typen von Karriereverläufen in diesem Bereich. Auch im öffentlichen Dienst überwogen einfache und austauschbare Tätigkeiten. Diese gingen ebenfalls mit einer häufigen Stagnation im "Gastarbeiterstatus" einher, wie an den Beispielen von Reinigungskräften und Kurierfahrern verdeutlicht wird. In seltenen Fällen sei jedoch ein Aufstieg durch den Anschluss an Qualifikationen aus dem Herkunftsstaat möglich gewesen, zum Beispiel für Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen und Erzieher. Aufstiegschancen und langfristige Perspektiven seien dennoch eher für höherqualifizierte Türkeistämmige ab der zweiten Generation, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben, zu beobachten. Des Weiteren werden strukturelle Benachteiligungen bezüglich der Karrieregestaltungsmöglichkeiten deutlich. Insbesondere die Beamtenlaufbahn war an die deutsche Staatsbürgerschaft geknüpft und blieb für die meisten Migrantinnen und Migranten nicht zugänglich.
Rechtsanwälte und Ärzte dienen als Beispiel für akademische Berufsfelder. Auch hier führten strukturelle Hürden und Diskriminierungen zu Einschränkungen der Zugangsmöglichkeiten. Zeppenfeld zeigt zwar, dass Höherqualifizierte im Vergleich zu niedrigqualifizierten Türkeistämmigen sozial eher akzeptiert wurden, dennoch sei auch "[d]ie Ausprägung akademischer Bildungskarrieren als mehrgenerationelle Ausdifferenzierung und Höherqualifizierung migrantischer Arbeitswelten, als langsame und äußerst punktuelle 'Aufstiegsgeschichte'" (228) zu verstehen. Diese Beobachtung reiht sich folglich in die Muster der anderen Beschäftigungsfelder ein. Inwiefern die berufliche Ausgangsposition vor der Auswanderung tatsächlich eine berufliche Mobilität "nach oben" oder durch potenzielle Dequalifikationen von ausländischen akademischen Titeln möglicherweise "nach unten" darstellte, bleibt offen, da die Erwerbsbiografien vor der Auswanderung in der Analyse nicht berücksichtigt wurden.
Anhand eines Kreuzberger Straßenzugs untersucht Zeppenfeld das selbstständige Gewerbe als Beschäftigungsfeld. Es wird deutlich, dass "türkische" Gewerbe nicht nur migrantische Erwerbsbiografien beeinflussten, sondern zum Wandel der bundesdeutschen Arbeitswelten "nach dem Boom" betrugen, indem sie die zunehmende Tertiarisierung mitgestalteten. Für türkischstämmige Personen in West-Berlin zeigt Zeppenfeld neben wenigen erfolgreichen Ausnahmen auf, dass die Muster der türkischen Selbständigkeiten tendenziell aber eher "den unsteten, (selbst-)flexibilisierten und wechselhaften Mustern der abhängigen 'Gastarbeiter'-Tätigkeiten folgte[n]" (311).
Als letztes Beschäftigungsfeld widmet sich Zeppenfeld unkonventionelle Tätigkeiten. Darunter werden die "Nicht-Arbeit" sowie die "illegalen Formen des Gelderwerbs" zusammengefasst (26). Er betont, dass Türkeistämmige häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen waren, diese jedoch im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft durchschnittlich von kürzerer Dauer war. Dies sei durch die befürchteten aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit zu erklären und der damit einhergehenden Bereitschaft, prekäre Beschäftigungsverhältnisse einzugehen.
Die Arbeit überzeugt insgesamt durch die breite Darstellung der komplexen Vielfältigkeit der Arbeitswelten türkeistämmiger Personen in West-Berlin. Da Zeppenfeld die "Gastarbeiterposition" als Ausgangspunkt sieht, bleibt jedoch die Frage offen, in welchem Verhältnis die beruflichen Mobilitäten in der Bundesrepublik zu den Arbeitserfahrungen und die im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen standen und inwiefern sich die beruflichen Mobilitäten im grenzüberschreitenden Rahmen veränderten.
Zeppenfeld überwindet den bisherigen engen Blick auf die Migrationspolitik und die branchenspezifische Fokussierung auf die Industrie. Die Vielfalt türkischer Arbeitswelten sowie die damit verbundenen strukturellen Hürden und Handlungsspieleräume werden offengelegt. Es wird deutlich, dass die Entwicklung der "türkischen" Arbeitswelten politisch nicht vollständig kontrollierbar war. Sowohl in abhängiger als auch selbstständiger Form trugen Türkeistämmige zum Wandel der bundesdeutschen Arbeitswelten bei. Zeppenfeld leistet mit seiner Studie somit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur sozialhistorischen Migrationsgeschichte, sondern auch zur bundesdeutschen Gesellschaftsgeschichte und zum Forschungsfeld der Geschichte der Arbeit im zeithistorischen Kontext.
Nele Falldorf