Georg Herbstritt (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1963. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 320 S., ISBN 978-3-525-31101-1, EUR 30,00
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Mit dem von Georg Herbstritt bearbeiteten Band liegt mittlerweile der zwölfte von 36 Bänden der Edition der geheimen Berichte des MfS an die SED-Führung vor. Georg Herbstritt setzt das Jahr 1963 in seinem einleitenden Text gekonnt in Szene, "auch wenn es in der Erinnerungskultur keinen herausragenden Platz gefunden hat" (12). Die Bedeutung des Jahres wird anhand verschiedener, teils lange nachwirkender Prozesse nachvollziehbar, die hier ihren Anfang hatten. Als Ausgangspunkt wählt er deutsche und internationale Entwicklungen, die für die DDR nach außen wie nach innen prägend waren. Egon Bahr, der Sprecher des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, präsentierte im Juli in einem Vortrag "Wandel durch Annäherung" als neues Konzept für die deutsch-deutschen Beziehungen und verwies damit auf jene Entspannungspolitik, die später unter Brandt als Bundeskanzler umgesetzt werden sollte. Auch zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion entspannte sich der Kalte Krieg, nachdem die Kubakrise die Welt an den Rand eines heißen Krieges gebracht hatte.
Herbstritt richtet seinen Blick dann auf Reformbestrebungen der SED und damit auch ins Innere der DDR. Die Reformpläne für das Wirtschaftssystem schienen 1963 verheißungsvoll, versprachen sie doch den Betrieben mehr unternehmerische Verantwortung und Entscheidungsfreiheit sowie den Beschäftigten Aussicht auf höhere Löhne und mehr Urlaub. Spätestens 1967 waren Ulbrichts Wirtschaftspläne jedoch gescheitert. Auch die als "zweite Justizreform" bezeichneten Gesetze aus dem Jahr 1963 deuteten zunächst auf eine rechtspolitische Lockerung hin. Immerhin stärkten der Rechtspflegeerlass im April und die ihm folgenden Gesetze zur Regulierung von Strafverfahren, zur Aufsicht der Staatsanwaltschaften und zur Gerichtsverfassung die jeweiligen Justizorgane. Die Ausgestaltung und Anwendung in den einzelnen Rechtsbereichen fiel jedoch unterschiedlich aus. Das MfS wurde erstmals offiziell als Untersuchungsorgan in der Strafverfolgung genannt und musste zumindest seine normativen Regularien anpassen. Von einer "vollständige[n] strafverfahrensrechtliche[n] Normalisierung der Arbeit" des MfS kann jedoch keine Rede sein. [1] Die neue Gesetzgebung änderte auch nichts an der Funktion der DDR-Geheimpolizei als Repressionsorgan gegen die eigene Bevölkerung. Nicht zuletzt versprach das im September vom Politbüro verabschiedete Jugendkommuniqué mehr Freiräume für die Heranwachsenden als "Hausherren von morgen". Doch trotz des Werbens um Zustimmung und Loyalität für den politischen Kurs ließ der Text insgesamt keinen Zweifel daran, dass sich die Jugendlichen gefälligst nur in den von der Partei vorgegebenen Grenzen entfalten sollten.
Herbstritt betont diese Ambivalenz immer wieder. Auf der einen Seite standen die positiven Impulse durch das erste innerdeutsche Passierscheinabkommen sowie durch Modernisierungs- und Reformansätze, die bei nicht wenigen DDR-Bürgern zu einer Art Aufbruchsstimmung führten. Auf der anderen Seite hielt jedoch die SED-Spitze am absoluten Herrschaftsanspruch und an ihrer Repressionspolitik fest. Vor dem Hintergrund der geschlossenen Grenze und einer Mauer rund um West-Berlin waren dies keineswegs Zeichen für eine Liberalisierung in der DDR.
In der Berichterstattung des MfS an die Parteispitze wird eher die repressive Seite des Jahres 1963 greifbar: "Hier zeichnen sich nicht die Umrisse des Traumlandes Utopia ab, sondern man begegnet einer real existierenden Anti-Utopie, gekennzeichnet von Enge, Unterdrückung und Unzulänglichkeit." (35) Insgesamt 233 Berichte hat Herbstritt kommentiert; im vorgelegten Buch ist nur eine Auswahl abgedruckt. Sie spiegeln die Perspektive der DDR-Geheimpolizei wider und breiten gleichzeitig ein Kaleidoskop abweichenden Verhaltens bis hin zu sozialen Protesten und politischen Widerstandshandlungen gegen das Regime aus. Hinsichtlich der nicht geringen Anzahl junger Widerständiger hebt Herbstritt hervor, dass das MfS diese zwar nach wie vor mit aller Macht verfolgte, vor dem Hintergrund des Jugendkommuniqués jedoch in seinen Berichten an die Parteiführung darauf verzichtete, deren Handlungsweisen als politische Gegnerschaft auszuweisen. Gelungene und gescheiterte Fluchten über die abgeriegelte Grenze nach Westen bilden wie erwartet einen weiteren Schwerpunkt in der Berichterstattung. Fluchthilfe ist dagegen vergleichsweise selten Gegenstand der Rapporte, was durchaus Fragen aufwirft. Immerhin war Fluchthilfe - von der SED als "Menschenhandel" bezeichnet - auch 1963 ein fortwährendes Thema in den medialen Kampagnen in der DDR, und das MfS hatte bei deren Bekämpfung die Schlüsselrolle inne. Zudem berichtete die DDR-Staatssicherheit über "Sicherheitsdefizite und regelwidrige Vorkommnisse" (41) bis hin zu Fahnenfluchten in den bewaffneten Organen Nationale Volksarmee, Grenztruppen und Volkspolizei. Andere Themenfelder sind der Sport, Kultur und Kunst sowie die Kirchen. Auch Vorfälle in Industrie, Handel und Verkehr wie Brände, Unfälle und Havarien finden sich in den Berichten. Das Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 dominiert erwartungsgemäß die Berichterstattung in den letzten Tagen des Jahres.
Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der einzelnen Bände des Editionsprojekts leisten eine wahre Kärrnerarbeit für Fachkolleginnen und -kollegen wie für die interessierte Öffentlichkeit. Die Frage stellt sich aber, welche Rolle die Edition in den zeitgeschichtlichen Debatten über die DDR im Allgemeinen und über das MfS im Besonderen hat. Inwiefern beantwortet sie Fragen über Möglichkeiten und Grenzen der MfS-Berichterstattung und ihre Bedeutung für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR? In welchem Maße greift die Forschung auf diese veröffentlichten Quellen zurück? So wäre es durchaus wünschenswert, wenn die Bearbeiterinnen und Bearbeiter ihre erworbenen Kenntnisse in weitaus stärkerem Maße als bisher durch vertiefende Beiträge in den Forschungsdiskurs einbrächten. Georg Herbstritt selbst schlägt vor, die ZAIG-Berichte mit den SED-internen Meldungen aus den Bezirken zu vergleichen, um Entstehung, etwaige Überschneidungen oder auch die Art der Rezeption untersuchen zu können. Für die 1960er Jahre sind bereits fünf Jahrgänge des zentralen Berichtswesens der DDR-Staatssicherheit erschienen. Dieses Jahrzehnt würde sich daher anbieten, dieser und weiteren Fragen nachzugehen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Roger Engelmann / Frank Joestel: Die Hauptabteilung IX: Untersuchung (MfS-Handbuch; Bd. 27), Berlin 2016, 94-103, Zitat 101.
Elke Stadelmann-Wenz