Rezension über:

Georg Habenicht: Ablass. Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen musste, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2020, 336 S., 92 Farb-, 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0955-2, EUR 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Stefan Rhein
Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Rhein: Rezension von: Georg Habenicht: Ablass. Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen musste, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/34829.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Georg Habenicht: Ablass. Wertpapier der Gnade

Textgröße: A A A

"Not for sale" / "Für Geld nicht zu haben" - so titulierte der Lutherische Weltbund seine internationale Kampagne zum Reformationsjubiläum 2017 ("Liberated by God's Grace" / "Befreit durch Gottes Gnade") und verdeutlichte damit die reformatorische Erkenntnis, dass Gottes Gaben (Schöpfung, Mensch, Erlösung) nicht käuflich sind. Das Motto attackierte die Ökonomisierung von Religion und Seelenheil und stellte sich programmatisch in die Nachfolge des reformatorischen Anfangs, als dessen Zentrum in polemischer Absetzung von allen Formen bepreisten Heilsstrebens die Entdeckung der den Menschen umsonst geschenkten göttlichen Gnade gilt. Das konfessionelle Differenzkriterium bildet also (nicht nur für den Lutherischen Weltbund) das unterschiedliche Verständnis von Glaube, Verdienst, Schuld und Geld, so dass ein monetaristischer Untersuchungsfokus die Genese der Reformation am besten zu beschreiben imstande scheint. Das ist der Ansatz der Studie von Georg Habenicht, der durch kunsthistorische Arbeiten u.a. zu spätmittelalterlichen Altären ausgewiesen ist und offensichtlich durch einen spektakulären Fund im Stadtarchiv Nördlingen auf das kulturhistorische Thema des Ablasses und seiner reformationsgenerierenden Wirkung stieß. Die Nördlinger Unterlagen illustrieren eine Ablasskampagne von 1480/83, die die Errichtung des geplanten städtischen Kirchturms finanzieren sollte und durch eine Vielzahl von Abrechnungen, Instruktionen, Briefen etc. minutiös rekonstruiert werden kann. Diese umfangreichen Akten sollen 2022 in einer gesonderten Publikation ediert werden und werden deshalb nur in wenigen, für die Argumentation aber besonders aussagekräftigen Ausschnitten als Belegmaterial herangezogen. Das hier vorzustellende Buch ist das Ergebnis der Untersuchungen zur mental- und wirtschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung des Nördlinger Aktenfundes, besitzt aber ein eigenständiges Gewicht als umfassende Darstellung des spätmittelalterlichen Ablasswesens. Dass es von einem Verlag hergestellt wurde, der auf Ausstellungskataloge spezialisiert ist, lässt sich unschwer an der brillanten Qualität der Abbildungen erkennen, die den Text hilfreich ergänzen und weiterführen.

Habenicht schildert an Hand einer Vielzahl von Beispielen die spätmittelalterliche Leistungsfrömmigkeit, die er als "gigantische Heilsmaschine" (22) versteht. Die Alltagsfrömmigkeit war vor der Reformation so intensiv wie nie zuvor und auch nicht danach, geprägt von Messen, Wallfahrten, Almosen etc. Das Ziel war, die befürchteten Strafen des Fegefeuers zu minimieren, also die eigenen Schulden zu reduzieren und wenn möglich sogar aufzuheben. Das Zahlmittel war der Ablass, der die Einzahlungen jedes Gläubigen in Jahre umrechnete, die er weniger im Fegefeuer zu leiden hatte. Dafür gab es verschiedene Ablassformen, die entweder partiell oder vollständig die Schuld(en) aufhoben (Partikular- bzw. Plenarablass). Der Ablass wurde zur Maßeinheit, die Heilkraft aller guten Werke wie Besuche der Messe, Reliquienverehrung, Gebete vor Bildern oder Wallfahrten exakt zu beziffern und vergleichbar zu machen (so erbrachte z.B. die Wallfahrt nach Wilsnack pro gelaufener Meile 40 Tage Ablass und der regelmäßige Messbesuch in der Nürnberger Pfarrkirche St. Sebald im Jahr 367.759 Tage bzw. 1.007 Jahre Ablass). Der Ablass wurde so zum allgemein gültigen Maß für Schuld und zum zentralen Ziel aller frommen Entschuldungsanstrengungen. Sünde wurde quantifizierbar, es entstand eine Buchführung der Schuld und der Glaube folgte den Regeln der Gewinnmaximierung. Der Ablassbrief war ein Schuldschein wie auch Geld ein Maß für Schuld wurde. Ablassbriefe wurden sogar als Zahlungsmittel eingesetzt, etwa bei der Bezahlung von Dirnen durch Ablasskommissare (so der Vorwurf von Johannes Eck, 85). Ablässe fungierten zudem als verschleierte Abgaben und Steuern, da mit ihrer Hilfe z.B. auch kommunale Investitionen (Kirchen, Brücken etc.) finanziert wurden.

Nach 1480 expandierte das Ablasswesen und führte durch die Inflationierung v.a. des Plenarablasses zu einer zunehmenden Entkoppelung von Beichte, Reue und Strafe (d.h. Geldzahlung): "Die Bußpastoral wurde durch ihre Monetarisierung zu einem Kaufgeschäft" (105). Aus seelsorgerlichen Gründen wurde der Plenarablass immer preiswerter, so dass sein Kauf sogar als Ersatz für gute Werke angepriesen wurde (auch waren Fälschungen von Ablassbriefen nicht selten). Mit der Verramschung der Gnade entstand eine Ablassblase, so dass die ständigen Ablasswellen zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit Widerspruch erregten. Die Ablasskrise, d.h. das fehlende Vertrauen in die Deckung der päpstlichen Gnadenmittel, entwickelte sich zur Kirchenkrise. Die Ablassblase platzte - und es entstand die Reformation oder, so Habenicht, das "Luthermoment", das in den frühen 1520er Jahren von Mitteldeutschland aus, einer Region mit besonders vielen Reliquiensammlungen, ganz Deutschland erfasste und das System der geistlichen Heilsmaximierung zum Einsturz brachte. Letztendlich ersetzte Luther den päpstlichen Plenarablass durch einen göttlichen "Totalablass", zeitlich entfristet, gebührenfrei, als Gnade Gottes, die dem Christgläubigen direkt zukommt (diese Kohärenz von Ablass und Luthers Gnadenlehre übernimmt Habenicht von Berndt Hamm).

Habenichts Buch ist flott geschrieben, aktualisiert seine Beschreibungen gern mit Vergleichen aus der Gegenwart (ein Beispiel: den Abstieg des Hochwürden zum gierigen Pfaffen parallelisiert er mit dem Absturz des einst honorigen Bankiers zum skrupellosen Bankster, 188), zitiert gern Wortschöpfungen ("Gewissensmelker") und Einsichten Ernst Jüngers, appliziert aufschlussreich moderne Wirtschaftstheoreme auf die Prozesse des 15./16. Jahrhunderts (z.B. Hayeks "perverse Elastizität des Kreditangebots" oder Friedmans "Helikoptergeld") und verarbeitet die umfängliche Forschung zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit und zum Ablass gerade der letzten Jahre (Enno Bünz, Berndt Hamm, Hartmut Kühne, Christiane Laudage etc.) in detaillierten Anmerkungen. Mit Philipp Robinson Rössner zieht er einen wichtigen Vertreter des monetären Ansatzes zur Erforschung des Reformationsgeschehens allerdings nur sehr sporadisch heran (Anm. 73 u. 932), ohne sich z.B. mit dessen Überlegung, dass der Zuspruch für Luthers Lehre auch darin begründet gewesen sei, die bislang notwendigen Geldzahlungen für das Seelenheil nun für ökonomische Zwecke verwenden zu können, auseinanderzusetzen. [1] Doch der erste Eindruck bleibt auch nach der Lektüre: ein attraktives, informatives und sehr anregendes Buch! Seine Stärke liegt in der Vielfalt der herangezogenen Quellen, von Rechnungsbelegen bis zu Gemälden, die die bislang v.a. ablasstheologisch-textzentrierte, kirchen- oder druckgeschichtlich formatierte Forschung um eine alltags- und kunstgeschichtliche Dimension ergänzen.


Anmerkung:

[1] Vgl. Philipp Robinson Rössner: Ökonomie und Religion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt [u. a.], Dresden 2017, 30-37.

Stefan Rhein