Franz X. Eder: Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2018, 536 S., ISBN 978-3-593-50954-9, EUR 58,00
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Franz X. Eder ist ein Bahnbrecher auf dem in Deutschland noch wenig bearbeiteten Gebiet der Geschichte der Sexualitäten. Unter anderem verdanken wir ihm das umfassendste bibliographische Hilfsmittel, auch zur Erschließung der Quellen, zudem mit globalen Anspruch für die westliche Welt. Es handelt sich um "SEXBIBLIO - bibliography of the history of western sexuality", die seit 2014 online (https://wirtges.univie.ac.at/Sexbibl/about.html) verfügbar ist, zudem grundlegende Monographien wie "Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität" von 2002 (in 2. Auflage 2009).
Sein neuestes einschlägiges Werk ist neben einer Einleitung "Sexualität historisch erforschen" in fünf Kapitel gegliedert: "2. Regentschaft des Phallus: Griechische Antike", "3. Infamia und pudicitia: Römische Antike", "4. Wie der ›böse‹ Stachel in das Fleisch kam: Judentum und frühes Christentum", "5. Widersprüchliche Sexualwelten: Mittelalter", "6. Reformation und Disziplinierung: 15. bis 17. Jahrhundert" sowie 7. einen "Ausblick". Ziel ist es, die "Geschichte der Sexualität in Europa aus einer kulturellen und gesellschaftlichen Perspektive von der Antike bis in die Frühe Neuzeit zu verfolgen" (8).
Einleitend behandelt Eder das "soziale Konstrukt Sexualität" und macht einige generelle Aussagen: "Sexuelle und sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen, Kindern, Unfreien, Gefangenen etc. gehört zu den strukturellen Eigenschaften von Gesellschaften, in denen Macht und Herrschaft ungleich verteilt waren - und ist nach wie vor ein wenig erforschtes Feld der Sexualitätsgeschichte." Heiratsverbote waren zudem ein Grund, der viele Gruppen "von legitimen Geschlechtsverkehr ausschloss" (13). In West-, Mittel- und Nordeuropa betraf dies in der Vormoderne bis zu 40% der Bevölkerung (253). Eine Heiratserlaubnis war an den Nachweis gebunden, eine Familie ernähren zu können. Knechte, Gesellen, weibliche und männliche Dienstboten usw. durften i. d. R. nicht heiraten. Homosexualität wurde "lange als Minorität- und ›Anti‹-Kategorie der Heterosexualität essentialisiert und dabei übersehen, dass innerhalb der Gruppe der »Homosexuellen« große Differenzen nach Geschlecht, Alter und sozialer Zugehörigkeit sowie sexuellen Vorlieben und Verhaltensweisen existierten" (15). "Jede Form der Benennung und Beschreibung von (sexuellen) Gefühlen und Emotionen der Vergangenheit und Gegenwart ist mit einer grundlegenden Erkenntnishürde behaftet. Denn was eine Person fühlt, kann sie zwar entsprechend des diskursiven Repertoires der jeweiligen Zeit - in deren Begriffen, Kategorien und Bildern - artikulieren, ihr eigentliches ›inneres‹ Fühlen bleibt jedoch nicht kommunizierbar" (20). In der bisherigen Geschichtsschreibung haben Historikerinnen und Historiker oft die "Differenz zwischen Diskurs und Praxis" verwischt (28).
Die einzelnen Epochen werden souverän und mit großer Sachkunde durchschritten. Im antiken Griechenland besaßen Frauen nur beschränkte Freiheiten. Die bevorzugte sexuelle Stellung war die Reiterstellung: die Frau saß auf dem auf dem Rücken liegenden Mann und wandte ihm den Rücken zu. Die Missionarsstellung galt als "unnatürlich" (45 f.). Abtreibung wurde in der medizinischen Literatur breit behandelt, auch wenn sie wahrscheinlich überwiegend Prostituierte betraf. Die "abortiv wirkende Pflanze namens silpion ist aufgrund ihrer großen Beliebtheit wahrscheinlich ausgestorben" (56). Anale Penetration zwischen Männern wurde negativ bewertet. Das galt sowohl für den Penetrierten wie für den Penetrierenden, der die Selbstkontrolle verloren hatte (71). Kinaidos, der verweiblichte Mann, galt als krank (74). Es gab aber durchaus auch gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zwischen Gleichaltrigen (75).
Im alten Rom bestand ab 18 v. Chr. eine Ehepflicht, verwitwete Männer mussten sich sofort, Frauen innerhalb eines Jahres wiederverheiraten (83). Wie in Griechenland sollte der Mann der Frau nicht sexuell verfallen, um seine Selbstkontrolle zu wahren (85). Auch in Rom galt gleichgeschlechtlicher Sex als unehrenhaft bzw. krankhaft, war aber sehr gegenwärtig. In der Stadt Rom sollen tausende männliche Prostituierte gearbeitet haben (116 f., 122). Hochgestellte Persönlichkeiten wie Kaiser Hadrian konnten ihre Vorlieben öffentlich leben (125).
Im frühen Christentum kam es, anknüpfend an jüdische Vorstellungen, zu einem Umbruch. Alle Formen sexuellen Handelns, das nicht der Fortpflanzung innerhalb der Ehe diente, wurde nun negativ bewertet. Der Zölibat galt als höchste Existenzform. Allerdings war es nicht so, dass Jesus "klar machte", dass "»Unzüchtige«, »Lustknaben« und »Knabenschänder« »das Reich Gottes nicht erben könnten« (1. Kor. 6,9)" (137). In den Evangelien findet sich keine derartige sexbasierte Sündenökonomie. Sie entstand erst mit Paulus. Das griechische Wort, das mit "Unzüchtige" übersetzt wird, ist "Malakee". "Knabenschänder" steht für "Arsenokoitai". Eigentlich weiß niemand genau, was die beiden Begriffe damals bedeuteten. Hierüber gibt es eine breite anhaltende Diskussion. Im 2. Jahrhundert sollten sich christliche Jungfrauen verschleiern, um nicht geile Blicke zu animieren (170). "Im frühen Christentum verschob sich die Sexualkultur von der Scham zur Sünde" (172).
Gemäß den Bußbüchern des Mittelalters waren alle Handlungen, auch in der Ehe, verboten, die primär der Lust dienten (177). In der Praxis konnten sich solche Normen jedoch nur langsam durchsetzen. Während des gesamten Mittelalters war Polygamie in den Oberschichten verbreitet (185, 194). Noch im 14. Jahrhundert lebten in Katalonien 90 % der Kleriker im Konkubinat (195). Die Formen der Eheschließung waren vielfältig, Priester waren lange Zeit nicht daran beteiligt (186, 196). "Was Mediziner, Naturphilosophen und insbesondere Theologen über die sexuellen Verhältnisse zu sagen hatten, unterschied sich oft deutlich von dem, was die (Ehe-)Paare praktizierten" (194). In Avignon betrieben kirchliche Institutionen im 14. Jahrhundert Bordelle (251). Die Sanktionierung gleichgeschlechtlicher männlicher Sexualkontakte verschärfte sich ab dem 13. Jahrhundert. Galten zuvor zeitlich begrenzte Bußen erfolgte nun i. d. R. die Todesstrafe. Frauen standen weniger im Fokus. Für das gesamte mittelalterliche Europa sind nur zwölf Verurteilungen nachgewiesen (289).
Auch in der Frühen Neuzeit war "das Verhalten des ›einfachen Volkes‹ oft weit von den Sittenordnungen entfernt" (336). Ein "nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung (bis zu 20 %)" blieb lebenslang ledig, "weil er die Heiratskriterien nicht erfüllen konnte und so auch keine ›offizielle‹ Legitimation zum Geschlechtsverkehr besaß" (342). Die Müttersterblichkeit im Kindbett lag bei bis zu 20 % (351). In der Vormoderne gab es also ständig weniger Frauen als Männer wodurch für unvermögende Männer der Zugang zu legaler Sexualität enorm erschwert wurde. Der mit der Reformation einsetzende moralische Rigorismus, der Wettlauf, welche Konfession christlicher, sittlicher sei, führte im 16. Jahrhundert vielerorts zur Schließung der Bordelle (364). Damit verloren viele unverheiratete junge Frauen eine wichtige Erwerbsmöglichkeit und junge Männer, die noch keinen legalen Zugang zu Sex hatten, eine der wenigen Möglichkeiten doch Sex zu haben (376, 378).
Sehr positiv ist, dass auch Juden und Moslems sowie interreligiöse Sexualkontakte behandelt werden. Die große Leerstelle der Darstellung ist Skandinavien. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft steht Franz X. Eders Buch einzigartig da. Es ist das Standardwerk. Im "Ausblick" teilt der Autor mit, dass das besprochene Werk nur der erste Band einer zweibändigen Darstellung ist, die bis in die Gegenwart führen soll. Leserinnen und Leser dieses beachtenswerten Werkes dürfen gespannt sein.
Wolfgang Burgdorf