Michael von Cranach / Annette Eberle / Gerrit Hohendorf u.a. (Hgg.): Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde, Göttingen: Wallstein 2018, 432 S., 51 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3212-6, EUR 24,90
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Thea Diem war, wie ihre Nichte schreibt, "die hübscheste, klügste" und "flinkste" unter ihren Schwestern. Die 1908 in München geborene Frau wuchs in München-Nymphenburg auf und besuchte die Schule der Englischen Fräulein in Pasing. Mit 19 Jahren traten bei der jungen Frau zum ersten Mal epileptische Anfälle auf, die die Familie überforderten. Die gläubigen Eltern beschlossen daher, ihre Tochter in die katholische Assoziationsanstalt Schönbrunn bei Dachau zu geben, wo sie das Leben eines "ganz normale[n] junge[n] Mädchen[s]" führte, "das auch Freundschaften hatte". Am 9. April 1941 wurde sie von Schönbrunn in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar verlegt und von dort aus am 29. April nach Hartheim bei Linz deportiert, wo sie in der Gaskammer starb. Ihre Familie scheute sich lange, über dieses traumatische Ereignis zu sprechen.
Dieses Beschweigen lag unter anderem daran, dass die nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde bis in die jüngste Zeit kein Teil der deutschen Erinnerungskultur waren. Es dauerte lange, bis die wissenschaftliche Erforschung des ersten Massenmords der Nationalsozialisten in Gang kam, und noch länger, bis man die Betroffenen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte. Das nun erschienene Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde, das von dem Psychiater Michael von Cranach, der Sozialwissenschaftlerin Annette Eberle, dem Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf und der Historikerin Sibylle von Tiedemann herausgegeben wird, bildet den vorläufigen Höhepunkt einer Diskussion über den richtigen Umgang mit diesem Thema, die vor etwa zehn Jahren begonnen hat. Das Buch selbst war dabei lange Zeit ein Politikum. Umso erfreulicher ist, dass es nun nach mehrjähriger Bearbeitungszeit erschienen ist und dass alle etwa 2026 ermordeten Münchner Bürgerinnen und Bürger mit vollem Namen sowie Geburts- und Sterbedatum genannt werden. Das Buch reiht sich dabei in eine Reihe von Publikationen ein, die die Namen der Opfer der "Aktion T4" aus gewissen Städten nennen, geht jedoch insofern darüber hinaus, da die Autorinnen und Autoren auch versuchen, die Opfer der sogenannten dezentralen Euthanasie zu erfassen. [1]
Der Sammelband gliedert sich in mehrere Teile. Den Geleitworten folgt eine Einleitung, in der die Herausgeberinnen und Herausgeber das Projekt und seine Entstehungsgeschichte erläutern. Zehn Aufsätze beschreiben dann den historischen Hintergrund sowie die Geschichte der "Euthanasie" in Oberbayern. So werden die Geschichte der Münchner Psychiatrie, die an den Morden beteiligten Institutionen und die Täter vorgestellt; fünf Aufsätze beleuchten die verschiedenen Mordprogramme und Opfergruppen näher. Zwei Aufsätze zur Situation der Angehörigen und der Nachgeschichte der "Euthanasie" runden diesen Teil des Buches ab.
Als "Historische Einführung" konzipiert bieten diese Aufsätze kaum Neues, informieren den historisch interessierten Laien jedoch fundiert über die Geschichte der "Euthanasie"-Morde. Eindrucksvoll wird dem Leser vor Augen geführt, wie viele Faktoren zusammenwirken mussten, um ein Verbrechen wie die Patientenmorde zu ermöglichen. Problematisch erscheint dabei die Überbetonung der Kontinuität von der nationalsozialistischen Zwangssterilisation bis zu den Patientenmorden, die von Hohendorf und Eberle "in einem engen ideologischen Zusammenhang" (29) gesehen werden. Tiedemann und Cranach behaupten weiter, Ernst Rüdin und die Gesellschaft für Rassenhygiene hätten den "ideologischen Boden für die späteren Patientenmorde" bereitet (58). Wo genau dieser Zusammenhang lag, bleibt jedoch unklar. Die "Euthanasie"-Morde wurden eben nicht aus eugenischen Gründen in Gang gesetzt. Gerade der Dreiklang von Prävention durch Rassenhygiene, Behandlung der Heilbaren und Vernichtung der Unheilbaren, den die Autoren betonen, prägte ja die Heil- und Pflegeanstalten im Nationalsozialismus. Dass Rassenhygiene und Sterilisationspraxis dazu beitrugen, die Hemmschwelle für die Morde zu senken ist dabei unstrittig. Dennoch hätte man den in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts herrschenden Diskurs um Eugenik deutlicher von den "Euthanasie"-Debatten unterscheiden müssen. [2] Die Eugenik hatte die vorgeburtliche Auslese zum Inhalt, sollte also die Fortpflanzung vermeintlich erbkranker Menschen verhindern. Die Debatten um "Euthanasie" liefen hingegen in einem deutlich engeren Rahmen ab, wurden erst unter den spezifischen Bedingungen des Nationalsozialismus als politikfähig angesehen und konnten erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs umgesetzt werden, folgten dabei aber hauptsächlich "zweckrationale[n] Zielsetzungen". [3] Dass nur 18 Prozent aller "Euthanasie"-Opfer zuvor auch einer Zwangssterilisation unterzogen worden waren, stützt neuerdings diese These. [4]
Das Anliegen des Buches ist es, wie schon der Titel verrät, der Opfer zu gedenken. Die Herausgeberinnen und Herausgeber erheben einen doppelten Anspruch: Einerseits sollen die Opfer der Patientenmorde "aus der Vergessenheit geholt" werden, andererseits sollen die "betroffenen Familien [...] die Möglichkeit" erhalten, "weiter zu recherchieren und ihre vielleicht vergessenen Angehörigen in das Gedächtnis der Familie zurückzuholen" (21). Um diesen Anspruch zu erfüllen, war es unumgänglich, die vollständigen Namen der Opfer zu nennen. Historiker hatten das schon lange Zeit gefordert, sie waren jedoch immer wieder an den hohen rechtlichen Hürden gescheitert. Die Szenerie änderte sich erst mit der Gründung des NS-Dokumentationszentrums in München und der Idee eines Gedenkbuchs, das von der Stadt München und vom Bezirk Oberbayern finanziert wurde. Letztlich setzte sich - angestoßen durch das Münchner Gedenkbuch - die Meinung durch, dass eine Nennung der Namen nicht nur wünschenswert, sondern auch rechtlich möglich ist. [5] Dass diese Frage nun endgültig entschieden ist, bleibt zu hoffen.
Im Zentrum des Buches steht die 124 Seiten umfassende Liste der etwa 2026 Münchner Opfer der verschiedenen "Euthanasie"-Maßnahmen. Darunter waren 1014 Opfer der "Aktion T4", 79 Kinder und Jugendliche, die der sogenannten Kindereuthanasie zum Opfer fielen, 35 Menschen, die im Rahmen der "Aktion 14f13" ermordet wurden, und 16 jüdische Anstaltspatienten, die in ein Konzentrationslager überstellt wurden und dort starben. Diese Recherche ist schon eine Leistung für sich, wobei die Autoren zu Recht darauf hinweisen, dass es sich um eine Mindestanzahl handelt, weil sie ihre Nachforschungen auf Heil- und Pflegeanstalten in Bayern beschränkten.
Die eigentliche Mammutaufgabe war es jedoch, die Opfer der sogenannten dezentralen Euthanasie zu ermitteln - also solche, die aktiv oder passiv durch Vernachlässigung, die schlechte Versorgungssituation, fehlende Hygiene oder Nahrungsmittelentzug starben. Die Autoren haben dafür jede der 1321 noch überlieferten Krankenakten von Münchner Patienten, die in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar untergebracht waren, systematisch ausgewertet. Sie gehen davon aus, dass von diesen Menschen zwischen dem 1. September 1939 und 31. Juli 1945 nur 471 Personen eines natürlichen Todes oder durch einen Therapiefehler starben. Dementsprechend seien 64,3 Prozent der Patienten in diesem Zeitraum eines nicht natürlichen Todes gestorben. Neben dem beabsichtigten Hungertod (192 Opfer) und dem Tod durch Vernachlässigung (166 gesicherte Fälle, 113 Verdachtsfälle) gibt es eine große Opfergruppe, bei der die Autoren mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie - wie bei der "Kindereuthanasie" - durch gezielte Gabe von Medikamenten ermordet wurden. Zwar gibt es darauf keine direkten Hinweise, beispielsweise durch Aussagen von Ärzten oder Vermerke in Krankenakten, jedoch starben diese Menschen innerhalb kürzester Zeit an den typischen Erscheinungen einer Tötung durch Medikamente. Bei insgesamt 200 Personen besteht dieser Verdacht; ob er der Wahrheit entspricht, ist im Nachhinein kaum zu ermitteln. Bei 179 Menschen waren sich die Autoren selbst nicht sicher, ob es sich um einen Tod durch Vernachlässigung, Hunger, Medikamente oder durch eine Kombination mehrerer Faktoren handelte. Ob es sinnvoll war, 313 "Verdachtsfälle" in die Opferliste mit aufzunehmen, ist schwer zu beurteilen. Möglicherweise wäre es besser gewesen, die Verdachtsfälle abgesetzt von den als gesichert geltenden Mordopfern zu nennen.
Der Opferliste folgen 14 Biografien, die teilweise von Angehörigen verfasst, teilweise jedoch auch schon an anderer Stelle publiziert worden sind. Sie bilden ein passendes Gegenstück zur Namensliste, indem sie die Opfer aus der Anonymität hervorholen und sie als Menschen mit einer Geschichte zeigen. Somit ist das Buch selbst ein gelungener Beitrag zur Aufarbeitung und Historisierung einer komplexen Geschichte von Verschweigen, Verdrängen und Erinnern.
Anmerkungen:
[1] Bisher erschienen sind unter anderem Elke Martin (Hg.): Verlegt. Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart, Stuttgart 2011; Harald Jenner / Michael Wunder (Hgg.): Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017. Mittlerweile hat auch das Bundesarchiv Berlin eine Liste mit allen Namen von "Euthanasie"-Opfern publiziert, zu denen im Bundesarchiv eine Akte vorliegt: https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/Aus-unserer-Arbeit/liste-patientenakten-euthanasie.pdf?__blob=publicationFile.
[2] Vgl. dazu Michael Schwartz: "Euthanasie"-Debatten in Deutschland (1895-1945), in: VfZ 46 (1998), 617-665.
[3] Götz Aly: "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, 55. Vgl. dazu auch Winfried Süß: Der "Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München 2003.
[4] Vgl. Gerrit Hohendorf: Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013, 98f.
[5] Vgl. dazu Gerrit Hohendorf u.a. (Hgg.): Die "Euthanasie"-Opfer zwischen Stigmatisierung und Anerkennung. Forschungs- und Ausstellungsprojekte zu den Verbrechen an psychisch Kranken und die Frage der Namensnennung der Münchner "Euthanasie"-Opfer, Münster 2014; Andreas Nachama / Uwe Neumärker (Hgg.): Gedenken und Datenschutz. Die öffentliche Nennung der Namen von NS-Opfern in Ausstellungen, Gedenkbüchern und Datenbanken, Berlin 2017.
Moritz Fischer