Miroslav Vaněk / Pavel Mücke: Velvet Revolutions. An Oral History of Czech Society, Oxford: Oxford University Press 2016, xi + 251 S., ISBN 978-0-19-934272-3, GBP 26,49
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Monografie der tschechischen Historiker Miroslav Vaněk und Pavel Mücke basiert auf ca. 300 Oral History-Interviews mit tschechischen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher sozialer Schichten und Berufsgruppen zu ihren Erfahrungen während der sozialistischen Zeit und nach 1989. Die Interviews wurden 2006-2013 im Rahmen unterschiedlicher Forschungsprojekte des Oral History Centers der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag geführt und sind dort auch als Audiodateien verfügbar. Das Buch besteht zu einem großen Teil aus Zitaten aus den Interviews. Diese werden mit quantitativen Meinungsforschungsdaten und Interpretationen der Autoren verknüpft. In der Terminologie der Sozialforschung folgt die Analyse der Interviewtexte einer inhaltsanalytischen Kategorisierung. Die Autoren fassen die Aussagen der Interviewten unter thematischen Kategorien zusammen und gehen dabei nicht auf die einzelnen Fälle ein, sondern ordnen die diversen Meinungen und Erzählungen sieben analytischen Oberbegriffen unter.
Das erste Kapitel befasst sich mit den erlebten und ersehnten Dimensionen des großen Begriffs "Freiheit". Hier kommen sowohl Vertreterinnen und Vertreter intellektueller Berufsgruppen zu Wort als auch die als "little Czechs" benannten einfachen Leute. Im zweiten Kapitel stehen Wertvorstellungen von Familie im Fokus. Das dritte Kapitel widmet sich dem Thema Freundschaft und der Frage, wie Tschechinnen und Tschechen das (kapitalistische) Ausland bewerten. Die Bedeutung des Themas leiten die Autoren aus dem Umstand ab, dass Tschechien in der geografischen Mitte Europas liege und seine Bewohnerinnen und Bewohner deshalb stark auf das Ausland Bezug nähmen (88). Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg ist zentrale Analysekategorie des vierten Kapitels. Hier wird vor allem die schulische Sozialisation aufgegriffen. Im fünften und sechsten Kapitel befassen sich die Autoren mit Arbeit und Freizeit und vergleichen Erinnerungen und Bewertungen aus sozialistischer und postsozialistischer Zeit. Das siebte Kapitel analysiert die Kategorie "Wir und/gegen sie" und ist ähnlich wie das erste Kapitel einem abstrakten Deutungsmuster und weniger Alltagspraktiken gewidmet.
Die Zitate der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden in den Interpretationskontext der Autoren eingebunden. Der Aufbau der einzelnen Kapitel folgt jeweils demselben Muster: Zunächst wird allgemein mit Verweis auf Zensus- oder andere statistische Daten und Sekundärliteratur die Bedeutung des Themas hervorgehoben. Anschließend werden verschiedene Aspekte des Themas in einer Kombination von Interviewzitaten und Interpretationen dargestellt. Die beiden Autoren nutzen eine (philosophisch-)anthropologische Argumentation, um diese Kategorien zu rechtfertigen, Bildung oder Arbeit unterscheide den Menschen vom Tier. Hier wäre meines Erachtens eine überzeugendere sozial- oder geisteswissenschaftliche Begründung wünschenswert gewesen.
Abschließend kommen die Autoren zu dem Fazit, dass sich sozialistisches und kapitalistisches Regime nur begrenzt vergleichen ließen und jedes Individuum unterschiedliche Erinnerungen, Prioritäten und Werte habe (199). Für ein Buch zur Oral History, die genau auf diese verschiedenartigen Perspektiven von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen abhebt, ist dies eine relativ magere Konklusion. Danach leiten die Autoren auf die Frage nach dem Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in einer Demokratie über. Die Pluralisierung von Erinnerungen - nostalgische Rückbesinnung auf die Zeit vor 1989 von Seiten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einerseits und vehementer Anti-Kommunismus in der jüngeren Generation andererseits deuten die Autoren mit Bezug auf psychologische Erklärungsmodelle als ein inter-generationales Phänomen der Abgrenzung. Vaněk und Mücke plädieren für das Nutzen der erreichten Freiheit und für einen demokratischen Austausch über Erinnerungen.
Das Buch bietet einen umfassenden Einblick in unterschiedliche Erinnerungen und stellt durch sein umfangreiches Material einen wertvollen Beitrag zur Oral History postsozialistischer Länder dar. Es ist jedoch meinem Eindruck nach vor allem an ein Publikum gerichtet, das sich kaum mit der Kultur und Geschichte Tschechiens auskennt.
Zentrale Thesen lassen sich nur schwer in den einzelnen Kapiteln zusammenfassen. Der vorliegende Band bietet eher im Sinne einer impressionistischen Reportage Einblicke in die sieben Themenfelder. Der Versuch der Autoren, statistische Erhebungen, die auf der Logik numerischer Häufigkeit basieren, mit den Ergebnissen der nicht-standardisierten Oral History-Interviews zu kontrastieren, erweckt den Eindruck, dass einzelne Textfragmente die statistischen Aussagen validieren könnten. Doch den beiden Verfahren liegen unterschiedliche Forschungslogiken zugrunde, welche in der Sozialforschung, auf die sich Vaněk und Mücke dezidiert beziehen, ausführlich und seit Langem mit ihren Herausforderungen diskutiert werden. Die hier vorgenommene Kombination trägt meines Erachtens dazu bei, dass die Besonderheiten der einzelnen Fälle zugunsten einer Repräsentativitätslogik verloren gehen. Dies schwächt das Plädoyer für die Pluralität von Erinnerungen.
Die Stärke des Bandes liegt darin, Alltagsmenschen eine Stimme zu verleihen und nicht nur Intellektuelle oder Oppositionelle, sondern ein breites Spektrum von Alters- und Berufsgruppen mit unterschiedlicher Herkunft zu befragen.
Ina Alber-Armenat