Rezension über:

Bernd Nicolai / Klaus Rheidt (Hgg.): Santiago de Compostela. Pilgerarchitektur und bildliche Repräsentation in neuer Perspektive, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015, 430 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1429-9, EUR 57,10
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Rezension von:
Anna-Laura de la Iglesia y Nikolaus
München
Redaktionelle Betreuung:
Saskia Jogler
Empfohlene Zitierweise:
Anna-Laura de la Iglesia y Nikolaus: Rezension von: Bernd Nicolai / Klaus Rheidt (Hgg.): Santiago de Compostela. Pilgerarchitektur und bildliche Repräsentation in neuer Perspektive, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/06/28963.html


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Bernd Nicolai / Klaus Rheidt (Hgg.): Santiago de Compostela

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Als eines der großen Pilgerziele der Christenheit ist die Kathedrale von Santiago de Compostela eines der bekanntesten Bauwerke des Mittelalters. Der romanische Bau mit seiner berühmten Portalskulptur des "Pórtico de la Gloria", der sich hinter der Barockfassade des 18. Jahrhunderts verbirgt, ist dabei paradoxerweise kunst- und baugeschichtlich bislang nur ungenügend erschlossen. Die monumentale, elfbändige Baugeschichte von Antonio López Ferreiro (1898-1911) und die Doktorarbeit zur Bauchronologie von Kenneth John Conant (1926) bilden bis heute den Ausgangspunkt jeder Bauforschung. Der jüngere wissenschaftliche Diskurs bewegt sich daher größtenteils im Raum der spekulativen Argumentation, ohne durch konkrete Baubeobachtungen gestützt oder widerlegt werden zu können. Hierfür sei nur die bislang umstrittene Frage angeführt, ob der berühmte magister Mateo seinen Westbau 1188 tatsächlich von Grund auf neu errichtete oder hierfür eine ältere, bereits vorhandene Westfassade umnutzte oder sogar abriss.

Durch das mit Vorarbeiten seit 2004 laufende interdisziplinäre Forschungsprojekt der Universität Bern (Kunstgeschichte) und der BTU Cottbus (Baugeschichte) wird dieser Missstand aktuell in Angriff genommen. Im Zentrum steht dabei eine grundlegende bautechnische Erschließung des Gebäudes mittels digitaler Vermessung, Laserscans, Fotogrammetrie, Steinkartierung und 3D-Modellen, kombiniert mit einer Neusichtung der Quellen und stilkundlichen Einzeluntersuchungen. In einem wissenschaftlichen Kolloquium vom 25.-27. März 2010 in Bern konnten die beteiligten Wissenschaftler ihre bis dahin erzielten Ergebnisse vorlegen. Mit dem vorliegenden gleichnamigen Sammelband werden diese Vorträge nun in Form von Einzelaufsätzen publiziert.

Grundsätzlich sei vorausgeschickt, dass die Autoren für ein Publikum schreiben, das ebenso tiefgreifend in die Materie eingearbeitet ist wie sie selbst: Die grundsätzlichen Baudaten (um 1075 Baubeginn, 1188 Türsturzinschrift des Pórtico de la Gloria, 1211 Weihe), die Namen und Lebensdaten der wichtigsten Beteiligten wie Bischof Diego Gelmírez (1100-1140) und den 1168 zum magister (je nach Quelleninterpretation: Bauleiter / Bildhauer/ Architekt / Verwalter) bestellten Mateo sind Voraussetzung, um die Beiträge überhaupt verstehen zu können, ebenso wie man zum Beispiel wissen muss, dass "Puerta de las Platerías" und "Südportal" ein und dasselbe meinen. Auf einleitende Überblicke (Pläne, Abbildungen, Zeittafeln), die solche Grundinformationen liefern könnten, wurde verzichtet (einzige Ausnahme ist ein Grundriss im Vorsatz mit Eintrag der Jochbezeichnungen). Doch ist dies ein Manko, das der Gattung Tagungsband durchweg zu eigen ist, und sollte der vorliegenden Publikation nicht als Kritikpunkt angerechnet werden. Die aus dem Berner Santiago-Projekt hervorgegangene grundlegende Zusammenstellung der Baugeschichte aus den Quellen von Jens Rüffer sollte man bei der Benutzung des Tagungsbandes auf jeden Fall griffbereit haben. [1]

Der Band vereint 24 fachlich wie inhaltlich breit gestreute Aufsätze: 13 deutsche, acht englische, zwei spanische und ein französischer Beitrag decken das internationale Spektrum der aktuellen Santiago-Forschung ab. Diese sprachliche Polyfonie ist dabei Programm; auf übersetzte Zusammenfassungen wurde verzichtet, lediglich die Kapitelüberschriften sind durchgängig in Deutsch und Spanisch wiedergegeben, der Buchtitel sogar dreisprachig (inklusive korrigiertem Übersetzungsfehler). Sprachlich sind die einzelnen Aufsätze, insbesondere diejenigen, die in einer den Autoren fremden Sprache (meist Englisch) verfasst wurden, von unterschiedlicher Verständlichkeit. Doch schließlich handelt es sich hier um einen Tagungsband, bei dem nicht Optik und Lesbarkeit, sondern die Präsentation der Forschungsergebnisse im Vordergrund steht.

Nach dem Vorwort der beiden Projektleiter (Bernd Nicolai / Bern, Klaus Rheidt / Cottbus) ist der Band in drei Teile gegliedert. Teil 1 ("Santiago und die Pilgerstraßen - Die schriftlichen und baulichen Zeugnisse im neuen Fokus") vereint vier thematisch recht gemischte Aufsätze, denen allein das quellenkritische Vorgehen gemeinsam ist: die Analyse einer Zeichnung der Kathedrale von 1657, die noch den mittelalterlichen Bauzustand wiedergibt, die Diskussion der Baubeschreibung nach dem berühmten Pilgerführer im sogenannten Codex Calixtinus um 1140, sowie die Analyse der Lage der Bischofskapelle und die Untersuchung der entbarockisierenden Restaurierungskampagne des mittleren 20. Jahrhunderts.

Von eigentlichem Interesse ist Teil 2 ("Die Kathedrale von Santiago in neuer Perspektive"), in denen die einzelnen Projektbeteiligten ihre Ergebnisse vorstellen. Klaus Rheidt und Corinna Rohn liefern aus ihren bautechnischen Beobachtungen überzeugende Bauentwicklungen von Langhaus bzw. Chor, erstere gestützt durch Anke Wunderwalds Analyse der Langhauskapitelle. Problematisch wird der Ansatz des Tagungsbandes, die einzelnen Beiträge unkommentiert aneinander zu stellen, bei den beiden Aufsätzen von Christabel Watson und Annette Münchmeyer zu der sogenannten Westkrypta, die aus ihren jeweiligen Beobachtungen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen zum Bauablauf kommen. Als einer der wenigen Autoren bezieht sich Peter Cornelius Claussen in seiner Analyse der berühmten Mateo-Türsturzinschrift auf Ergebnisse seiner Kollegen (insbesondere Münchmeyer); eine ähnliche dialogische Vorgehensweise statt dem Tagungsband-typischen monologen Referieren wäre grundsätzlich wünschenswert gewesen. Bernd Nicolais Untersuchung zum Vorgängerportal des Pórtico de la Gloria, dessen Reliefs später teilweise an der Puerta de las Platerías verbaut wurden, weckt durch seine interessanten ikonografischen Einzelbeobachtungen (etwa die Identifizierung einer bislang als Moses gedeuteten Konsolfigur als überwundener Satan) den Wunsch nach einer neuen Gesamtanalyse aller Bauskulpturen. Sarah Keller (islamische Architekturmotive) und Katrin Kaufmann (Rekonstruktion des Lettners) tragen Ergebnisse ihrer Dissertation bzw. Magisterarbeit vor. Die Vorstellung des an der University of California erarbeiteten 3D-Modells der romanischen Kathedrale rundet diesen Block ab und macht deutlich, dass ein umfangreicherer Abbildungsteil mit großformatigen Darstellungen der meist nur erwähnten oder viel zu klein dargestellten neuen Aufmaße, Pläne und Laserscans zu den dringlichsten Wünschen gehört, die man an eine wohl immer noch geplante Abschlussmonografie haben wird.

Der dritte Teil ("Santiagos Stellung innerhalb der Romanik Spaniens und Frankreichs") analysiert, dem Titel entsprechend, in acht Beiträgen architektonische und skulpturale Vergleichsbeispiele und verortet Santiago in den Kontext romanischer Pilgerbauten.

Als typischer Tagungsband ist das Buch durch einen wuchtigen Fußnotenapparat charakterisiert. Die Abbildungen sind auf die einzelnen Beiträge zugeschnitten, wodurch es dementsprechend zu Doppelungen kommt; ganzseitige Abbildungen, den einzelnen Beiträgen vorangestellt, liefern den (wenn auch für Fachfremde sicher unzureichenden) Kontext und Überblick. Insgesamt bildet der Band einen wichtigen Meilenstein in der Bauforschung zu Santiago de Compostela, auch wenn dieser durch die (ebenfalls tagungstypische) Verzögerung der Publikation bereits in Teilen schon wieder überholt ist (so durch die Veröffentlichung der Dissertation von Münchmeyer 2016). [2] Die ursprünglich angedachte Abschlussmonografie bleibt in jedem Fall ein Desiderat.


Anmerkungen:

[1] Jens Rüffer: Die Kathedrale von Santiago de Compostela (1075-1211). Eine Quellenstudie, Freiburg 2010

[2] Annette Münchmeyer: Die Kathedrale von Santiago de Compostela - der romanische Westbau und seine Baugeschichte, Cottbus 2016.

Anna-Laura de la Iglesia y Nikolaus