Rezension über:

Simo Mikkonen / Pia Koivunen (eds.): Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe, New York / Oxford: Berghahn Books 2015, IX + 325 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-1-78238-866-1, USD 120,00
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Rezension von:
Claudia Kemper
Hamburger Institut für Sozialforschung / Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Agnes Bresselau von Bressensdorf im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kemper: Rezension von: Simo Mikkonen / Pia Koivunen (eds.): Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe, New York / Oxford: Berghahn Books 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/27907.html


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Simo Mikkonen / Pia Koivunen (eds.): Beyond the Divide

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Es ist wohl kein Zufall, dass diese Veröffentlichung von zwei finnischen KollegInnen zusammengestellt und herausgebracht wurde. Finnland ist nicht nur ein dynamischer, international organisierter Wissenschaftsstandort, sondern nahm auch historisch, zumal im Kalten Krieg, eine besondere Rolle ein. Der Sammelband "Beyond the Divide" nimmt europäische Grenzregime während des Kalten Krieges zum Ausgangspunkt, um auf Beziehungen, Verbindungen und Transfers aufmerksam zu machen, die sich quer zur klassischen Ost-West-Trennung vollzogen. Neben Finnland rückt auf diese Weise u.a. Frankreich deutlicher in den Blick. In ihrer Einleitung verorten sich Mikkonen und Koivunen an der Schnittstelle von transnationaler Geschichtsschreibung, Cold War Studies und der Geschichte der europäischen Integration. Die duale Geschichtsschreibung zu West- und Osteuropa soll im Sinne einer "entangled history" überwunden werden mit europäischen Ländern als eigenständigen Akteuren im und zugleich jenseits des Kalten Krieges, dessen Eiserner Vorhang sich "elastisch und halbdurchlässig" zeigte (3).

Der Band erschließt das europäische Beziehungsnetz anhand von vier Dimensionen: Ausgehend von den diplomatischen Netzwerken rund um den KSZE-Prozess folgen Beispiele akademischer Förder- und Austauschprogramme sowie Fallbeispiele zu den Beschränkungen transnationalen Kulturaustausches, abgeschlossen von Fällen, in denen konkrete Formen der Grenzüberschreitung im Mittelpunkt stehen. Die eindeutige Stärke des Bandes liegt darin, das Wechselspiel zwischen offizieller und inoffizieller Diplomatie nachzuverfolgen, Interaktionen zwischen NGOs und semi-staatlichen Institutionen, zwischen professionellen wie familiären Netzwerken zu erfassen, die den Ost-West-Gegensatz als mehrdimensionale Konstellation aufzeigen.

Im ersten Teil stellen Giles Scott-Smith, Marianne Rostgaard, Nicolas Badalassi und Matthieu Gillabert mit den Niederlanden, Dänemark, Frankreich und der Schweiz vier politische Akteure vor, die maßgeblich in die diplomatischen Beziehungen während der 1970er Jahre eingriffen. Von den Niederlanden aus agierten Vertreter wissenschaftlicher Institutionen als "informelle Diplomaten", die dabei keineswegs eindeutig die Linie der Regierung oder der Friedensbewegung vertraten. Aus dänischer Perspektive stand die Regierung vor dem Dilemma, einerseits das Monopol der Kulturdiplomatie zwischen den Supermächten aufbrechen zu wollen, und andererseits den Kontakt zur osteuropäischen Bevölkerung nur über die offiziellen staatlichen Stellen und Kanäle herstellen zu können. Aus dieser Zwickmühle heraus entstand das dänisch-polnische Nachwuchs-Führungs-Seminar, initiiert vom dänischen Jugendrat (Dansk Ungdoms Faellesrad, DUF), in dem vor allem Nachwuchspolitiker aus beiden Ländern aufeinandertrafen. Deutlich wird, dass die Wirkung der KSZE-Schlussakte nur vollständig verstanden wird, wenn die zahlreichen face-to-face-Kontakte berücksichtigt werden, die im Umfeld der Verhandlungen politisch opportun und von höchsten Stellen auf beiden Seiten goutiert wurden (und sei es nur, um die Kontakte als Argument für den eigenen guten Willen zu nutzen). Zudem - das zeigen die Beispiele Frankreich und Schweiz - gilt es, die bereits vor 1945 bestehenden transnationalen Beziehungen zu berücksichtigen, die die Haltung der beiden Länder etwa zu Polen oder Ungarn prägten.

Dies gilt auch im zweiten Teil zum Wissenschaftstransfer und insbesondere für die Fondation pur une entraide intellectuelle européene, die zunächst eng mit dem Kongress für Kulturelle Freiheit verbunden war und schließlich eigene Wege ging (Ioana Popa). Die Fallbeispiele akademischer Austauschprogramme (zwischen Estland und Finnland, Frankreich und Rumänien, Finnland und Ungarn) leben von dichten Beschreibungen, die auf der Grundlage von Zeitzeugengesprächen oder unlängst bearbeiteten diplomatischen Akten entstanden. Im Kalten Krieg stellte Finnland eine Art technologisches, wissensorientiertes Transitland dar, obwohl der politische Kontext schwierig war, etwa wegen des 1949 im Westen erlassenen high-tech-Embargos. Sampsa Kaatja zeigt Arbeitssituationen, Organisation aber auch Scheitern einer grenzüberschreitenden Informatik-scientific community in Estland und Finnland und weist auf offene Fragen hin, etwa nach den legalen und illegalen high-tech-Geschäften, die Estland auch in international besonders angespannten Phasen mit australischen oder japanischen Unternehmen abwickelte. Ebenfalls von Finnland gingen diplomatische Bemühungen aus, sich in diesem Forschungsfeld als Technologiepartner für Ungarn zu etablieren (Anssi Halmesvirtas). Der populäre Ministerpräsident Urho Kekkonen machte sich dafür stark, ganz im Sinne seiner Europapolitik, deren Bedeutung bislang noch wenig erforscht wurde. Sehr viel bürokratischer schien es zwischen Frankreich und Rumänien zugegangen zu sein, wie Beatrice Scutaru anhand der akademischen Austauschprogramme deutlich macht. Rumänien wollte die Öffnung nach Westen nach eigenen Maßgaben gestalten, Paris wiederum versprach sich eine Liberalisierung durch individuelle Erfahrungen von Rumänen in Frankreich.

Wie sich ursprüngliche Ideen von Kulturorganisation und kultureller Beziehung verschoben, zeigt der dritte Teil. Neben der tschechoslowakischen Geschichts- und Kulturpolitik (Václav Smidrkal) geht es um die sowjetische Kulturdiplomatie in Form zahlreicher Freundschafts-Gesellschaften, die zunächst Instrumente staatlicher Friedenspolitik waren und sich ab den 1970er Jahren zu interaktiven Plattformen im Rahmen der neuen Ostpolitik entwickelten (Sonja Großmann). Nicht nur Organisationen, deren Handlungsformen zwischen offizieller und privat-öffentlicher Politik changierten, sondern auch Printmedien wie das britische, in der Sowjetunion vertriebene "Anglia" stellten ein wichtiges, aber auch ambivalentes Wahrnehmungsorgan dar (Sarah Davies).

Im vierten Teil steht die Grenze stärker im Mittelpunkt, etwa in Form des latenten Konkurrenzverhältnisses zwischen der westlichen Europäischen Rundfunkunion und der osteuropäischen Internationalen Rundfunk- und Fernsehorganisation, die beide um eine gewisse europäische Hegemonie konkurrierten (Lars Lundgren), oder als Erfahrungsraum polnisch-finnischer Grenzgänger (Anna Matyska). Francesca Rolandi zeigt die italienische Popkultur im ätherischen Filter in Richtung slowenische Küste. Italien und Jugoslawien jeweils als Transmitter und Übergangsraum von "Ost" nach "West" zu interpretieren, stellt einen vielsagenden Abschluss des Bandes dar.

Auch wenn sich Leserinnen und Leser an der einen oder anderen Stelle etwas mehr gesellschaftspolitische Tiefenschärfe wünschen mögen, besitzen allein die zusammengestellten Fallbeispiele großen Neuigkeitswert. Besonderen praktischen Nutzen erhält der Band darüber hinaus durch seine Bibliographie und das Register. Insgesamt werden die Autorinnen und Autoren ihren selbst gesetzten Ansprüchen über weite Strecken gerecht. Die Zusammenstellung zeigt, wie variabel sich die europäische Integration vollzog und dass diese in deutlicheren Grautönen und Abstufungen je nach Land erzählt werden muss - zugleich im Wechselspiel mit den Einwirkungen des Kalten Krieges und frei von der Vorstellung, Ost- und Westeuropa hätten sich erst nach 1989/90 wieder angenähert.

Claudia Kemper