Mathias Franc Kluge: Die Macht des Gedächtnisses. Entstehung und Wandel kommunaler Schriftkultur im spätmittelalterlichen Augsburg (= Studies in Medieval and Reformation Traditions; Vol. 181), Leiden / Boston: Brill 2014, XIV + 428 S., ISBN 978-90-04-26675-9, EUR 138,00
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Mathias Franc Kluges Dissertation untersucht die Entstehung der kommunalen Überlieferung Augsburgs und den Wandel der städtischen Schriftkultur vom Jahr 1234, in dem die Augsburger Bürgerschaft erstmals nachweislich ein Siegel verwendete, bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Die Arbeit orientiert sich an den "Leitfragen der Schriftlichkeitsforschung nach den Gründen der wachsenden Verbreitung von Schriftlichkeit", nach deren Bedeutung für die städtische Verwaltung und "für die Legitimation von Macht und Amtsautorität" (354). Dabei grenzt Kluge sich vom Münsteraner Sonderforschungsbereich "Pragmatische Schriftlichkeit" ab, der den "Verschriftlichungsprozess des europäischen Spätmittelalters [...] als Ergebnis eines von Italien ausgehenden Lern- oder Aufholprozesses spätmittelalterlicher Eliten" betrachtet habe (10). Einer "nach neuzeitlichen Kategorien der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte" (135) gedachten Untersuchungsperspektive, die "im Gegenwärtigen die höchste Stufe einer langen Entwicklung sieht" (12), möchte er eine kulturhistorische Betrachtungsweise entgegensetzen, die einerseits die Wahrnehmung der Zeitgenossen berücksichtigt, für die sich die Verschriftlichung als ergebnisoffener Prozess darstellte, und andererseits die Zunahme der Schriftlichkeit weniger als Resultat planvoller "Optimierungsbestrebungen" (14), denn als Teil eines Wandels kollektiver Denkgewohnheiten und Handlungsmuster versteht. Damit knüpft Kluge in den einführenden theoretischen und methodischen Überlegungen dezidiert an Forschungen zu Schrift und Gedächtnis insbesondere von Michael T. Clanchy sowie Aleida und Jan Assmann an. Eine Auseinandersetzung mit Ansätzen der Kommunikations- und Medientheorie oder der "Kulturgeschichte des Politischen" erfolgt hingegen nicht, einschlägige Studien werden jedoch im Verlauf der Untersuchung einbezogen.
In drei der Chronologie folgenden Kapiteln untersucht Kluge den Verschriftlichungsprozess und den mit ihm verbundenen Wandel der Verschriftlichungs- und Überlieferungsabsichten. Im Zentrum seines Interesses stehen einerseits "materielle Objektivierungen" - etwa das Schriftgut, die Kanzlei samt Personal, Materialien, Abläufen und Einrichtung, Siegelstempel oder "bildliche Darstellungen von Schriftstücken im öffentlichen Raum der Stadt" -, andererseits "immaterielle Objektivierungen" wie "zeitgenössische Vorstellungen, die sich in herrschaftslegitimierenden Ritualen, Gerichtsurteilen, Prozessen der Rechtfertigung, der kommunalen Geschichtsschreibung oder Gelehrtentexten spiegeln." (21) Augsburg eignet sich für diese Analyse sehr gut, da die kommunale Überlieferung trotz erheblicher Verluste sehr umfangreich und vielfältig ist. Neben einem großen Urkunden- und Briefbestand haben sich verschiedenste Amtsbücher wie Stadtrechts-, Bürger- und Achtbuch, Steuer- und Rechnungsbücher, Briefausgangsregister, Ratsdekrete und -protokolle erhalten.
Kapitel II "Geburt: Adaption und Assimilation (1234-1304)" (29-137) konzentriert sich auf die Anfänge "kommunaler Schriftlichkeit in einer Phase, in der der Augsburger Bürgerverband gerade dabei war, seine politische und rechtliche Unabhängigkeit auszuprägen". Hier betont Kluge, dass die frühe kommunale Schriftlichkeit in Augsburg "weder im bürgerlichen Milieu erfunden noch erkämpft" (355) wurde, sondern Vogt, Bischof und Domkapitel maßgeblich an ihrer Ausformung beteiligt waren. Der höhere Verschriftlichungsgrad beförderte die Loslösung politischer Autorität von Einzelpersonen und führte zu einer immer engeren Bindung der Legitimation von Herrschaft und Amtsträgern an Schriftlichkeit, während gleichzeitig orale Traditionen an Bedeutung verloren.
In Kapitel III "Reife: Legitimität im politischen Organismus (1304-1368)" (138-243) wertet Kluge die städtische Überlieferung, besonders die Rechnungsbücher und die Kanzleiordnung von 1362 systematisch aus, um die weitere Entwicklung der Kanzlei nachzuzeichnen. Die weiter gewachsene Bedeutung der Schriftlichkeit zeigt sich u.a. an der hohen Entlohnung des Stadtschreibers und seiner wichtigen Rolle in städtischen Entscheidungsprozessen und als Repräsentant der Stadt nach innen und außen. "Neuerungen der Schriftkultur" kamen nun ohne den zuvor praktizierten Wissenstransfer von "Experten aus den Kreisen von Klerus oder Adel" aus; bei Bedarf erkundigte man sich in anderen Städten nach deren Vorgehensweisen (239).
Kapitel IV "Macht: Verschriftlichung und Kontrolle des Alltagslebens (1368-1450)" (244-353) konstatiert den weiteren Anstieg der Menge des städtischen Schriftguts und zeigt auf, wie das schon seit dem frühen 14. Jahrhundert verwendete Papier zum vorherrschenden Beschreibstoff wurde. Die steigende Bedeutung von Sendbriefen in Recht und Politik führte zur zunehmenden Kodifizierung der Briefe und zu ihrer systematischen Erfassung in Briefbüchern; auch Ratssitzungen wurden immer häufiger schriftlich dokumentiert. Durch die Analyse von Rechnungsbüchern, Inventaren und Urkundenvermerken kann Kluge "die Entstehung eines neuen Ordnungs- und Aufbewahrungssystems" im städtischen Archiv verfolgen.
Seine Befunde stellt Kluge konsequent in den Kontext der Entwicklungen sowohl in anderen Städten als auch in weltlichen und geistlichen Territorien sowie der königlichen und päpstlichen Kanzlei. So erhält er den angestrebten "struktur- und entwicklungsgeschichtliche[n] Gesamtblick" (136), der eine Beschränkung auf eine rein stadt- oder gar lokalgeschichtliche Perspektive vermeidet, und kann die eingangs formulierte These belegen, nach der die Entwicklung der städtischen Schriftlichkeit nicht hauptsächlich auf die planerische Vorausschau und das willentliche Handeln städtischer Entscheidungsträger zurückzuführen sei.
Ebenso deutlich wird, dass das Schriftgut schon der Frühphase nicht nur der Fixierung der Ergebnisse politischer Aushandlungsprozesse diente; die Auseinandersetzungen selbst waren bereits stark durch "Verfahren der Konfliktlösung auf schriftlicher Basis" geprägt (37). Dennoch sollte die Bedeutung des höheren Schriftlichkeitsgrades Kluge zufolge nicht überschätzt werden. Anders als oft angenommen habe dieser weder zu "mehr Übersichtlichkeit" noch zu einer erheblichen Verstärkung der obrigkeitlichen Kontrolle über die Stadtbewohner geführt (137).
Kluge argumentiert überwiegend sehr differenziert, bisweilen fast übervorsichtig. Die häufige Verwendung von Metaphern wie Geburt und Reife, Wurzeln und Organismus und die vielen Verweise auf die spezifische Dynamik der Verschriftlichung schreiben dieser allerdings ein merkwürdiges Eigenleben zu, so dass an die Stelle der Teleologie des geplanten Fortschritts eine biologistische zu treten scheint. Stellenweise mindern ein sperriger Nominalstil und sprachliche Ungenauigkeiten den Lesegenuss. Trotz dieser kleinen Monita zeigt der Band, dass die Beschäftigung mit pragmatischer Schriftlichkeit nach wie vor ein sehr lohnendes Unterfangen ist.
Iris Holzwart-Schäfer