Rezension über:

Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944-1989 (= Moderne europäische Geschichte; Bd. 7), Göttingen: Wallstein 2013, 475 S., ISBN 978-3-8353-1307-1, EUR 42,00
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Rezension von:
Gregor Feindt
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Gregor Feindt: Rezension von: Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944-1989, Göttingen: Wallstein 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/27162.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft

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"Welche Farbe hat der Schwarzmarkt?" (9), fragt Jerzy Kochanowski zu Beginn seiner Betrachtung des Schwarzmarkts in der Volksrepublik Polen zwischen 1944 und 1989 und steckt damit den Rahmen der Untersuchung ab. Mit dieser nur auf den ersten Blick rhetorischen Frage stellt der Verfasser bereits einleitend geläufige Einschätzungen dieses Handels "jenseits der Planwirtschaft" infrage, und so ist die Antwort, um es vorwegzunehmen, denkbar einfach: Der Schwarzmarkt ist bunt und in Vielem schillernd.

Schwarzmarkt und inoffizieller Handel sind bekannte Begleiterscheinungen von Mangelsituationen oder Wirtschaftsregulierungen und geradezu typisch für den Staatssozialismus. Dennoch greift eine solche Charakterisierung zu kurz, um den ausdifferenzierten und wandlungsfähigen Handel jenseits der staatlich geplanten Wirtschaft im polnischen Sozialismus zu erfassen. Kochanowski differenziert vielmehr die Schattierungen, die ein solcher Handel zwischen legalen, halblegalen und illegalen Strukturen annehmen konnte. Die gesamte Darstellung hindurch zeigt der Verfasser immer wieder anschaulich, wie der Schwarzmarkt praktisch alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens der Volksrepublik Polen durchzog und nicht von einem anderen, vermeintlich "weißen" Markt abzugrenzen war. So behandelt Kochanowski nicht nur den illegalen Handel, sondern auch die Wege der dort gehandelten Güter, die bei staatlichen Stellen "abgezweigt", über die unterschiedlichsten Wege geschmuggelt oder einfach in Eigenregie produziert wurden. Dies führte immer wieder zu Grenzfällen und Absurditäten des sozialistischen Wirtschaftssystems, die zugleich eine klare Eingrenzung des Schwarzmarkts unmöglich machen. Wie sind zum Beispiel die Erzeugnisse staatlicher Betriebe zu bewerten, für die Rohmaterialien oder auch Maschinen erst auf inoffiziellem Wege - von staatlichen oder nicht-staatlichen Stellen abgezweigt oder gar gestohlen - beschafft werden mussten, und die dann auf den offiziellen Markt gelangten? Kochanowskis Blick überschreitet hier ein enges Verständnis des Schwarzmarktes derart weit, dass sein Buch einer Gesamtdarstellung der inoffiziellen Wirtschaft im sozialistischen Polen gleichkommt.

Der Verfasser behandelt zunächst in einem Überblick die Rahmenbedingungen des Phänomens und bespricht die Geschichte des Schwarzmarkts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kapitel 2), die Konjunkturen des inoffiziellen Handels in der Volksrepublik Polen (Kapitel 3) und seine Geografie (Kapitel 4). Er kann anschaulich aufzeigen, dass der Schwarzmarkt sich sowohl aus historisch persistenten Strukturen heraus entwickelte als auch situative Anpassungen erfuhr. Dieser diachrone Blick arbeitet zum Beispiel die fortwährende Bedeutung alter Grenzen zwischen den Teilungsgebieten oder regionaler Traditionen heraus und macht deutlich, dass einzelne Gebiete oder Akteursgruppen, wie die Góralen um Zakopane oder auch Seeleute, sich einer staatlichen Kontrolle wirksam entziehen konnten. Dabei tritt weniger der klare Gegensatz zwischen Staat und Bürger in den Vordergrund, als vielmehr die Amalgamierung dieses wirtschaftlichen Eigen-Sinns mit staatlichen Strukturen. Eine solche "massenhafte und allgemeine Privatisierung des Staates" (247) schuf freilich auch, über die Nomenklatura hinaus, eine breite Schicht Privilegierter, die Zugang zu dieser Form des Handels hatte. So ist Kochanowskis Buch implizit auch eine Geschichte derer, die in einem korrupten System ihren eigenen Vorteil suchten und fanden (vgl. 442ff.).

In einem zweiten Schritt betrachtet Kochanowski gezielt die Waren dieses Marktes (Fleisch, Alkohol, Benzin sowie Gold und Devisen; Kapitel 5-8) beziehungsweise den Auslandstourismus (Kapitel 9) als weit verbreitete Gelegenheit zum Schwarzhandel. Diese Prismen ermöglichen es ihm, eine Alltagsgeschichte des Konsums zu schildern, die die gesellschaftliche Wahrnehmung des Mangels mit seinen tatsächlichen Ausmaßen und den davon oft losgelösten Bewältigungsstrategien konfrontiert. Wurden in der öffentlichen Wahrnehmung, wie auch oft in der historischen Forschung, Fleischmangel beziehungsweise Preiserhöhungen für Fleisch und Wurstprodukte als Auslöser von Krisen angeführt, schränkt der Verfasser dieses master narrative der polnischen Zeitgeschichte deutlich ein. In der langen Dauer zeigen sich eher die stabilisierende Wirkung des hochsubventionierten Fleischs und der Erfolg der auch als "Bigoskommunismus" (Włodzimierz Borodziej) titulierten Fürsorge- und Konsumdiktatur. Auch dem Alkohol, dessen illegale Herstellung in den 1970er-Jahren auch in den Städten weit verbreitet war, kann eine solche stabilisierende Rolle zugeschrieben werden. Umso bedauerlicher ist es daher, dass Kochanowski die Bedeutung dieser Volksdroge hier nicht konkreter kontextualisiert. Der illegale Handel mit legal, also staatlich hergestelltem und besteuertem Schnaps veranschaulicht zudem eine grundlegende Problematik des polnischen Schwarzmarktes: Die bewusste Tolerierung der Illegalität trug zur Stabilität des Regimes bei, indem sie strukturelle Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft abfederte und teils - wie im Falle von versteuertem Alkohol - sogar die Staatskassen füllte (290).

Die quellengesättigte Darstellung argumentiert immer wieder anhand von konkreten Beispielen und bindet alltagskulturelle Quellen - wie Sprichwörter, Lieder oder Karikaturen - mit ein. Dies trägt zum einen zur guten Lesbarkeit des Buches bei, demonstriert zum anderen aber auch, wie vergleichsweise offen der Schwarzmarkt in Polen besprochen wurde. Wenn beispielsweise in den 1960er-Jahren in offiziell erscheinenden Zeitschriften über den profitablen Schleichhandel polnischer Auslandstouristen berichtet wurde (391), war dies nicht nur die Darstellung verwerflichen oder gar kriminellen Verhaltens, sondern auch die pragmatische Behandlung einer allseits bekannten Tatsache.

Problematisch ist bei dieser Darstellung vor allem die zwangsläufige Verknappung. Trotz eines breiten Blicks auch in die polnischen Regionen dient vor allem die Hauptstadt Warschau als konkreter Gegenstand der Untersuchung. Für den deutschen Leser wären an einigen Stellen, wie zum Beispiel bei der nur sehr kurzen Erwähnung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność (118f.), zusätzliche Erläuterungen sicherlich hilfreich gewesen.

Dies alles stellt aber den großen Wert der Arbeit nicht in Frage. Dem Verfasser gelingt eine umfassende Darstellung des Schwarzmarkts in der Volksrepublik Polen, die die transnationalen Bezüge der polnischen Zeitgeschichte sichtbar werden lässt und die Paradoxien des polnischen Sozialismus herausstellt. Ganz im Sinne neuerer Forschungen zum Staatsozialismus kann Kochanowski überzeugend herausarbeiten, dass das Verhältnis der Bürger zum sozialistischen Regime sich nicht in einem bloßen Dualismus von Zustimmung und Ablehnung fassen lässt, sondern vielfältige Schattierung kannte. Für die Kulturgeschichtsschreibung zur Volksrepublik setzt die Arbeit Maßstäbe.

Gregor Feindt