Astrid Stölzle: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 49), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 227 S., ISBN 978-3-515-10481-4, EUR 42,00
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Jenseits der großen Überblicksdarstellungen, die 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs erscheinen und ein großes Publikum finden, hat sich die Historikerin Astrid Stölzle detailliert mit der Versorgung erkrankter und verwundeter Soldaten durch deutsche Schwestern und Pfleger befasst. Die geschichtswissenschaftliche Dissertation entstand am Stuttgarter Institut der Robert-Bosch-Stiftung für Geschichte der Medizin bei Robert Jütte, der sie als Beiheft des Jahrbuchs "Medizin, Gesellschaft und Geschichte" platzieren konnte. Sie widmet sich Organisation und Durchführung der Pflege sowie dem Personal. Damit schließt sie eine Forschungslücke, stand die Kriegskrankenpflege doch bislang im Schatten der in größerer Zahl publizierten Studien zur allgemeinen Medizin und zum Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Dabei unterscheidet sich der deutsche Sprachraum deutlich vom angloamerikanischen, wo u.a. Christine E. Hallett, Janet Lee und Yvonne McEwen mit entsprechenden Arbeiten hervorgetreten sind.
Stölzle stützt sich vorwiegend auf Ego-Dokumente, vor allem Briefe, Tagebücher und spätere Erinnerungen. Hinzu kommen Akten, Dokumente und Chroniken diakonischer Einrichtungen oder katholischer Orden, Schulungsmaterial sowie amtliche Unterlagen aus Landesarchiven. Interessant und verstörend zugleich ist die Information, dass die ohnehin rare Überlieferung des Deutschen Roten Kreuzes durch den jüngsten Umzug des DRK-Generalsekretariats von Bonn nach Berlin weitere Verluste erfahren hat. Es gibt dort nun "keine einzige Akte zur Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg" mehr (22).
Der staatliche Sanitätsdienst wurde im Ersten Weltkrieg auf freiwilliger Basis von zahlreichen Vereinigungen unterstützt. Wichtige Akteure waren neben dem Roten Kreuz die Ritterorden (Malteser, Johanniter, Georgsritter), die Samariter, die katholischen Pflegeorden, die evangelische Diakonie und die jüdischen Krankenpflegevereine. Schon vor 1914 hatten sie sich auf den Krieg vorbereitet und von staatlicher Seite 1907 mit einer "Dienstverordnung für die freiwillige Krankenpflege" konkrete Instruktionen erhalten. Während des Krieges waren mehr als 213.000 Frauen und Männer für selten mehr als 100, oft nur 30 Mark Monatslohn in der freiwilligen Krankenpflege tätig, davon ein gutes Drittel in Frontnähe, mindestens 47.000 Männer und mindestens 23.000 Frauen.
Der Bedarf war zwar höher, doch gab es zumindest formale, möglicherweise abschreckende Beschränkungen für Interessierte. So waren den Anwärtern der freiwilligen Krankenpflege Pocken- und Typhusimpfung vorgeschrieben. Hier wie an mancher anderen Stelle stößt die Studie an ihre Grenzen: "Inwieweit die rigorose Vorsichtsmaßnahme eingehalten wurde, ist fraglich", schreibt Stölzle (56). Die Autorin weiß von Fällen der Zurückweisung Nichtgeimpfter zu berichten, zugleich aber auch vom Ausbruch der Krankheiten unter dem Personal. Eine ähnliche Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit betrifft die Hygienebedingungen. Selbst unter selten gegebenen optimalen Lazarettbedingungen war es nach einem Diakonissenbericht üblich, nur am Ende eines Arbeitstages Hände und Unterarme mit Seife zu waschen. Zur Relation zwischen Patienten und Pflegepersonal nennt Stölzle "bei voller Belegung" als Beispiel, dass eine Nachtschwester für 600 kranke Soldaten in 20 Baracken zuständig war (60). Tagsüber kamen zwei Schwestern auf 30 Patienten.
Bisweilen unter den Augen von Pflegern wurden Ärzte und Militärbehörden getäuscht. Stölzle berichtet von Fällen, bei denen Blut, Sekret oder Sputum Schwerkranker unter dem Namen nur leicht Erkrankter ins Labor gelangten. Ein Tbc-Befund bedeutete die sofortige Verlegung in die Heimat. Zur Bestechung waren oft Zigaretten ausreichend.
Andere Anforderungen kamen auf die für die Verwundetenpflege zuständigen Lazarettabteilungen zu. Im ungünstigsten Fall lag eine solche 180 Kilometer vom Gefechtsort entfernt. Stölzle schildert so drastisch wie realistisch die völlig unzureichenden Bedingungen, wenn in kürzester Zeit Dutzende Soldaten mit Bauchschüssen eingeliefert wurden. Wer die Fahrt und die ersten Stunden im Lazarett überlebte, flehte bald nach aus therapeutischen Gründen verweigertem Wasser und Morphium. Die Pflegekräfte spritzten manchmal mit der Hoffnung auf einen Placeboeffekt anstatt des gewünschten Morphiums eine Kochsalzlösung. Die grausamen Verhältnisse dürfen freilich nicht über das im Sinne der Kriegsführung erfolgreiche Wirken in den Lazaretten hinwegtäuschen: 95 Prozent der eingelieferten Verwundeten und Erkrankten kamen zurück an die Front.
Stölzle schöpft aus den Quellen auch wichtige Details, die sie nicht in ausgreifenden Kapiteln behandelt. Dies führt zu ungewöhnlichen Gewichtungen. So mag es verständlich sein, dass der erstmals in Kriegslazaretten berücksichtigten "Zahnabteilung" nur wenige Zeilen gewidmet werden. Erstaunlich aber ist - trotz der bedeutenden Arbeiten zum Bereich der "Kriegssneurotiker" u.a. von Hans-Georg Hofer - ein ähnlich knapper Abschnitt zur "Nervenabteilung".
Mentalitätshistorisch von höchstem Interesse sind die von Stölzle präsentierten Funde zum Verhältnis des Pflegepersonals zu den Soldaten, die in der Regel als Helden verehrt wurden. Gegenüber jungen Soldaten erschien die Pflegeschwester häufig als Ersatzmutter. Aber auch die "Gleichstellung" der Schwester "mit dem Soldaten als 'Kameradin'" lässt sich nachweisen (105). Wenn das weibliche Pflegepersonal unbefangen vom Umgang mit den männlichen Patienten in Briefen nach Hause berichtete, konnte dies zu Irritationen, gar Ermahnungen der Eltern führen. Leichter Erkrankte und Verletzte führten in den Lazaretten nicht selten unerwünschte Unruhe herbei. Um dem entgegenzuwirken wurden unter anderem Jesuiten eingesetzt, die Vorträge hielten oder durch Spiele für Beschäftigung sorgten.
Dass Quantifizierungen und statistisch fundierte Aussagen offenbar kaum möglich sind, wird man der Autorin nicht vorwerfen können. Sie liefert einen tiefen Einblick in die Kriegswirklichkeit und weist dabei auf Forschungsdesiderate hin, die bestehen bleiben: Heimatpflege, jüdische Krankenpflege, psychische Folgen des Kriegspflegeeinsatzes für die Freiwilligen. Einzelne Unschönheiten sind der Schlusskorrektur entgangen (Setzfehler, 205). Es verwirren Hinweise auf die Verlängerung der Ausbildungszeit für Vollschwestern "um" bzw. "auf" drei Jahre (203). Stölzle selbst schätzt den ansonsten kaum mehr gebrauchten Begriff "Etappe" für die Versorgungsorte hinter der Front sehr und verwendet ihn auf vielen Seiten mehrfach. Ansonsten schreibt sie in einer eingängigen, leicht verständlichen Sprache. Dazu trägt ihr auf die namentliche Nennung von Akteuren weitgehend verzichtender, über weite Strecken zur Generalisierung neigender Stil bei. Folglich kann man im Sach- und Personenregister nur ganz wenige Namen finden. Dies wird den an biographischen Informationen interessierten Leser enttäuschen.
Ralf Forsbach