Tommaso Manfredi: Filippo Juvarra. Gli anni giovanili (= Biblioteca Blu. Saggi; 3), Rom: Argos DAT Donat Dicat Srl 2010, 568 S., 763 Abb., ISBN 978-88-88690-36-0, EUR 90,00
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Das Interesse an Juvarra (1678-1736) ist relativ spät erwacht, und die Anerkennung als einem der Großen des Barock erfolgte erst in den letzten Jahrzehnten. Prämoderner einerseits, so brillanter wie phantasiereicher Zeichner andererseits sind die Ingredienzien seines rezenten Erfolgs. Nach den Pionierarbeiten von Telluccini (1907, 1909 und 1926) stellte ihn Brinckmann 1931 erstmals in Theatrum Novum Pedemontii ins Zentrum und widmeten ihm Rovere/Viale/Brinckmann eine Monografie, deren Abbildungen seiner Zeichnungen noch heute beeindrucken. Es folgten 1957 die Itinerari juvarriani von Griseri sowie die - wie schon die Titel besagen - auf das gebaute Œuvre und damit die Jahre nach Rom konzentrierten Monografien von Boscarino (1973) und Gritella (1992); selbiges gilt für die Ausstellung an seinen Wirkungsorten als praktischer Architekt, Madrid (1994) und Turin (1995). Das von Millon geleitete Corpus Drawings from the Roman Period. 1704-1714 (1984-1999) führte nach Rom und zu den Zeichnungen zurück, in der von Kieven besorgten Ausstellung Von Bernini bis Piranesi. Römische Architekturzeichnungen des Barock (Stuttgart 1993) nimmt er die Mitte ein.
Das monumentale Buch von Manfredi kann - soweit eine solche angelsächsische Diktion zulässig und sinnvoll ist - als 'definitiver' Beitrag zur ersten, der Heranbildung und Entfaltung im Medium der Zeichnung gewidmeten Hälfte des Künstlerlebens in Messina und Rom angesehen werden.
Seit dem 1977 von Braham und Hager veröffentlichten Katalog der in Windsor aufbewahrten Zeichnungen von Juvarras Lehrer Carlo Fontana (1638-1714) hat sich einerseits das Verständnis der europäischen Dimension der auf die Blüte des Barock folgenden römischen Architektur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts etabliert und andererseits mit dem von Contardi und Curcio konzipierten Katalog In Urbe Architectus. Modelli, disegni, misure: la professione di architetto. Roma 1680-1750 eine breite und minutiöse Lokalforschung eingesetzt, die u.a. in der von Debenedetti herausgegebenen, von 1985 bis heute 27 Bände umfassenden Reihe der Studi sul Settecento Romano ihren Ausdruck findet. Manfredi hat dazu seit 1989 mit 32 Publikationen beigetragen, die gewissermaßen den Grundstock des vorliegenden Werkes bilden.
Es beginnt angenehmerweise mit "Filippo Juvarra nacque a Messina il 27 marzo 1678, da Pietro argentiere [...]". Ebenso detailliert wie dann zu Rom, setzt sich der Autor mit der schwierigen politisch-ökonomischen Situation der Stadt sowie mit dem familiären und freundschaftlichen Umfeld auseinander. Letzterem verdankt Juvarra sein Figürliches und Dekoratives umfassendes Interesse am Zeichnen, der geistlichen Schulung (Priesterweihe 1703) einen weiteren kulturellen Horizont. In der Architektur war er bis zur Übersiedlung nach Rom und dem Eintritt in das Atelier Fontanas 1704 Autodidakt.
Die Laufbahn des Künstlers entfaltet sich in acht Kapiteln: La prima formazione. Messina - Alla scoperta di Roma. La città di Clemente XI Albani e i centri della cultura architettonica - La conquista dell'identità - L'architetto romano - L'accademico - Alla corte del cardinale Ottoboni - L'architetto virtuoso - L'architetto del re. Zweierlei steht bei den Ausführungen Manfredis im Vordergrund: das Einzelobjekt, ob Zeichnung oder Projekt, und das Netz - obwohl er das Wort nicht verwendet - der künstlerischen und sozialen Beziehungen. Erstere spielen ja in der italienischen historischen Forschung überhaupt eine größere Rolle als in der deutschen, und der Autor kann immer wieder auf das Glücklichste deren Bedeutung aufzeigen. So ist schon der Weg von Messina nach Rom mit dem Zwischenaufenthalt in Neapel und späteren Reisen nach Lucca mit zwei Namen verbunden: dem der Ruffo, führender Adelsfamilie der Heimatstadt, und ihrem Exponenten an der römischen Kurie und späteren Kardinal Tommaso sowie dem des zunächst in Messina ansässigen Luccheser Händlers Coriolano Orsucci. In Rom sind es die Kolonie der Messinesen; das dominante und verzweigte Atelier von Carlo Fontana und dessen frühverstorbenem Sohn Francesco, dem Juvarra als sein "amatissimo discepolo" eines seiner Papierdenkmäler setzt, sowie die von Fontana mehr oder weniger unabhängigen Architekten, z.B. Alessandro Specchi; die päpstliche Kunstakademie von San Luca und die lokale der Virtuosi al Pantheon; der mit der Akademie und dem päpstlichen Hof in vielfältigem Austausch befindliche Dichterkreis der Arcadia; der um Kardinal Ottoboni gescharte Hof - der Ausdruck ist berechtigt - und die anderen Mäzene des Musiktheaters. Insgesamt liegt eine mit stupender Detailkenntnis verfasste Summa der römischen Situation von Juvarras Ankunft 1704 bis zum Tod Fontanas und seinem Abgang 1714 vor.
Dabei geht es nie um psychologische oder im engeren Sinne persönliche Fragen, wie derlei vom Autor überhaupt ausgeklammert wird: Eine Charakterisierung des Helden in physischer und psychologischer Hinsicht nach den zeitgenössischen Biografien erscheint erstmals in einer Fußnote (66), dann aus Anlass des Luccheser Villenlebens (457) und ist endlich als "immagine pubblica" in den Annex "Iconografia dell'architetto" relegiert. Die vielleicht vom deutschen Leser aufgrund der 'Jugendjahre' des Titels gehegte Erwartung der Darstellung eines Bildungs- und Reifungsprozesses wird enttäuscht.
Die den Hauptteil des Buches einnehmende Behandlung der Werke, d.h. von Zeichnungen mit Ausnahme der Cappella Antamoro und einiger Dekorationen, führt der Autor komplett und differenziert durch. Die ausgezeichneten Analysen legen - der historischen Stellung Juvarras entsprechend - großes Gewicht auf die Verwandlung von Vorbildern ("riplasmare i modelli", eine der häufigsten Formulierungen ist "mutuato da [...]"). Es sind Einzelanalysen, erst aus ihrem Mosaik kann sich der Leser eine Gesamtvorstellung bilden (so wird der Einfluss Borrominis mehrfach angesprochen, doch nicht ausformuliert). Die entscheidende Prägung durch Fontana und die von diesem propagierte zeichnerische Anverwandlung der römischen Tradition sowie durch die Akademie mündet schon 1705 in Juvarras Triumph beim Concorso Clementino, der den Grundstein zu seiner weiteren Karriere legte. 1709 nahm ihn Ottoboni als Szenografen in seine Dienste.
Manfredi betont die bisher zu wenig beachtete Tatsache, dass es sich bei den Zeichnungen Juvarras in den wenigsten Fällen um konkrete Planungen handelt, auch wenn es so scheinen mag (wenn man natürlich die Szenografien ausnimmt). Alles ist Juvarra Anlass weiterzuspinnen, zu experimentieren, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen: die Themen der akademischen Wettbewerbe, gesehene Bauten, wie die Villen von Lucca, gerade vollendete oder noch unfertige Bauten, so schon vor Rom beim kurzen neapolitanischen Aufenthalt und zum Schluss dem Projekt zur Fertigstellung des Königspalastes in Messina als Probeaufgabe seines künftigen Dienstherren - "pensieri" schreibt er oft auf seine Blätter. Daraus folgt ein weiteres: Gebildet und konversationsgewandt, akademischer Preisträger und Lehrer, brillante Ideen und faszinierende Raumphantasien freigiebig in Zeichnungen ausstreuend, aber ohne praktische Erfahrung entspricht er dem Bild des "virtuoso" - der Sprung von da zum Architekten ist ein neuartiges Karrierebild.
Die engmaschige Führung erlaubt dem Autor, Zeichnungen anhand der Lebensumstände, auch wenn nicht einschlägig beschriftet, gelegentlich bis auf den Tag genau zu datieren. Die Forschung hat durch Barghinis Entdeckung des Zeichnungs-Albums im Kriegsarchiv in Vincennes einen Neuerungsschub erhalten (1994, 1995). Das zeitgleich von McPhee im Vatikanischen Archiv aufgefundene Album (1993, 1994) akzeptierte Manfredi zunächst, lehnt die Zuschreibung jetzt aber - wohl zu Recht - ab und schlägt als möglichen Autor Vasconi vor (427). Die Frage ist wichtig und verlangt eine eingehendere Neuüberlegung (z. B. scheint "per Germania 1704" für beide Kandidaten zu früh). Keine Erwähnung findet der Berliner Entwurf eines Mausoleums für einen König von Frankreich, den Kieven 1993 auf 1711/1715 datierte: da er sinngemäß zur Gruppe der von Manfredi angesprochenen, römischen akademischen Arbeiten gehört, wäre es sinnvoll gewesen, ihn zu besprechen, obwohl der Autor ihn in früheren Publikationen als durch den Tod Ludwig XIV. angeregt und somit nachrömisch eingeordnet hat.
Überhaupt finden wissenschaftliche Diskussionen nur in knapper Form in Anmerkungen oder gar nicht statt: Es geht dem Autor primär um die kontinuierliche, flüssig geschriebene Darstellung. Er meidet auch allgemeine Überlegungen zur Eigenart und den Methoden des Künstlers. Kleine Schwächen zeigen sich im Umgang mit Nicht-Italienischem: es ist die Rede vom "imperatore d'Austria", von Karl IV. statt VI., von der Kirche "Saint Gervaise" in Paris; die Transkription der französischen diplomatischen Korrespondenz scheint verbesserbar.
Insgesamt ein eindrucksvolles 'Monument' für den 'jungen' Juvarra, hervorragend produziert, mit einer erstaunlichen Fülle farbiger Abbildungen (höchstens manchmal zu klein für eine einwandfreie Lesung) und kompletten, gut angeordneten Fußnoten. Welcher Dynamik sich die Juvarra-Forschung weiterhin erfreut, erweist ein seit dem Erscheinen des Buches, 2011 stattgefundener Kongress zu ihm.
Jörg Garms