Stefan Laube: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort - Wunderkammer - Museum, Berlin: Akademie Verlag 2011, XIV + 585 S., diverse s/w-Abb., ISBN 978-3-05-004928-1, EUR 89,80
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Angezeigt wird die 2010 an der Humboldt Universität angenommene Habilitationsschrift von Stefan Laube. In einer über etwa sieben Jahrhunderte ausgreifenden Studie versucht der Verfasser die bildwissenschaftliche Wende der letzten zwei Jahrzehnte um eine "dingwissenschaftliche" Dimension zu ergänzen. Das ist ein Vorhaben, das hohe Erwartungen schürt, die der Verfasser aber nicht umfänglich einzulösen vermag. Trotz zahlreicher methodischer und theoretischer Anleihen bei unterschiedlichen hierfür wegweisenden Angeboten gelingt weder eine überzeugende konzeptionelle Verdichtung des Vorhabens noch eine abschließende Synthese, der man die Grundlegung einer "Dingwissenschaft" zutrauen mag. Zu häufig werden Ansätze aufgegriffen und eingeführt, deren Adaption auf die eigenen Untersuchungsmaterialien nicht überzeugt, weil der analytische Anspruch, der sich mit den Theorie- und Methodenangeboten verbindet, nicht eingelöst wird.
Die ausgewählten Beispiele, die vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert reichen, hingegen eröffnen ein breites Spektrum historischer "Dingwelten", ihrer programmatischen Pointierung sowie ihrer kulturellen Wahrnehmung. Die gut zu lesende Studie ist in sechs Kapitel gegliedert, mit denen der Verfasser sein ausgreifendes Vorhaben einer transepochalen Geschichte der Anschauungspotentiale von Dingen in der christlichen Tradition (XI) zu konturieren versucht.
Im ersten Kapitel arbeitet Laube heraus, dass die Bedeutung einzelner Objekte nur im Kontext ihrer räumlichen Präsentation zu begreifen ist. Um diese These zu belegen, führt er den Leser durch zahlreiche Sakralräume des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Auf diesem Weg werden interessante Beispiele vorgeführt, für die das Verhältnis von Semantik, Materialität, Performanz und Räumlichkeit von Objekten untersucht wird. In diesem Spannungsfeld sowie den nicht nur ins Frühchristentum, sondern auch in die pagane Antike reichenden Traditionen ihrer Eckpunkte ergibt sich erst die Bedeutung der Objekte selbst. So beschreibt Laube den vormodernen Sakralraum als ein "Kraftfeld" (Kapitel 1), auf dem heterogene Objekte zu überdeterminierten Zeichen christlicher Religion werden konnten. Die Bedeutung eines Straußeneis, eines Reliquienpartikels und einer Kanonenkugel werden in der Verbindung von Dingforschung und Raumkonzeption für eine zeitgenössische Wahrnehmung überzeugend rekonstruiert.
Es entsteht bei der Lektüre dieses Kapitels aber auch der Eindruck, dass der These zuliebe Eingeständnisse gemacht werden mussten; so trifft natürlich zu, dass zwischen all den heterogenen Dingen, die sich in Kirchenräumen fanden, ein Nahverhältnis bestand, doch hob diese Nähe das distinkte Moment zwischen ihnen niemals auf, wofür nicht zuletzt die Kirche immer wieder sorgte. Wenn Laube dies zwar ausführt, zugleich aber genau diese Auflösung für die Laien behauptet, bleibt er nicht nur den Nachweis schuldig, sondern macht "die Laien" auch zu den Urahnen einer heutigen Wahrnehmung, die dazu neigt, gleichsam alle historischen Dinge als auratisierte Produkte einer musealisierten Vergangenheit über einen Kamm zu scheren.
Im zweiten Kapitel wendet sich Laube in einer Langzeitperspektive den Sammlungspraktiken zu, die er für ein Verständnis vormoderner Dingwelten neben den Raumkonzeptionen als wesentlich begreift. Dabei legt er politische, soziale und kulturelle Strategien des Hortens und Sammelns frei, wobei er einen Fokus auf die beiden großen Reliquiensammlungen Friedrichs des Weisen in Wittenberg und Kardinal Albrechts in Halle legt. Laube konstatiert in diesen Sammlungen die Merkmale einer Zeitenwende und deutet sie (auch) als direkte Vorläufer frühneuzeitlicher Kunst- und Wunderkammern, ihre Besitzer als Sammler. Diese Verbindung wurde in der Forschung seit Pomian behauptet und kann mit dessen Konzept der Semiophoren seit gut vierzig Jahren auf eine solide methodische Grundlage zurückgreifen. So anregend die Lesart Pomians auch ist, haftet ihr ein Zug teleologischer Geschichtsdeutung an. Den "Ursprung des Museums" in mittelalterlichen Reliquiensammlungen und Kirchenschätzen zu behaupten, bedeutet auch eine Reduktion, die andere Möglichkeiten und Bedeutungsfacetten aus dem Blick verliert. Sowohl die Rückkehr einst der Zirkulation entzogener Objekte in die Warenströme mittelalterlicher Ökonomien wie auch der Entzug von Sichtbarkeit - so die zentralen Merkmale der Pomianschen These - lassen sich nachweisen, wurden aber von der Forschung bisher nicht systematisch untersucht.
Das Ergebnis ist knapp gesagt ein Modernisierungsnarrativ, gegen das sich Laube zwar explizit verwehrt (XII), das er aber gleichzeitig fortschreibt, wenn er von "Musealisierung" der Kirchenräume schreibt, ohne zu erläutern, worin für Mittelalter oder Frühe Neuzeit die Differenz zwischen einem Museum und einem Sakralraum eigentlich bestand. An dieser Stelle vom räumlichen Rahmen derselben Dinge direkt auf Bedeutungsidentität zu schließen, greift als historische Analyse schlicht zu kurz.
Im dritten Kapitel wendet sich Laube der Dingbedeutung in der Kultur des frühneuzeitlichen Protestantismus zu. Hier zeigt er auf, wie der Begriff "Reliquie" sich vom konfessionellen Propagandabegriff, der zur polemischen Abgrenzung vom Katholizismus diente, hin zur Materialisierung der historischen Erinnerung an die Reformation selbst wandelte. In Anlehnung an Maurice Halbwachs beschreibt Laube ausführlich, dass im neuen Glaubensbekenntnis trotz "sola scriptura" Dinge und Orte Träger historischer Erinnerung, aber auch spiritueller Erbauung sein konnten. Dass dabei um die Figur Martin Luthers ein vordergründig altgläubig anmutender Kult entstand, vermag auf den ersten Blick zu überraschen. Bei näherem Hinsehen ist damit nur wenig Neues gewonnen. Längst schon gilt weder das Luthertum noch der Protestantismus als die restlos nüchterne, unsinnliche, von aller Magie freie und entzauberte Welt, die sich allein auf das Wort berief. Es ist somit mehr als zugespitzt formuliert, wenn man den Bedeutungswandel von "Reliquien" von heiligen Körperpartikeln hin zu Relikten der Erinnerung als Tabubruch bezeichnet (460).
Mit dem vierten Kapitel greift Laube noch weiter aus, indem er die Geschichte frühneuzeitlicher Dingwelten mit Konzepten und Vorstellungen der Naturphilosophie und Wissenschaftsgeschichte zu verbinden versucht. Dabei postuliert er anhand der Metapher des theatrum eine charakteristisch frühpietistische Wissenskultur, die er als Ausdruck einer verstärkt an Objekten orientierten Wahrnehmung und Weltdeutung versteht. Auch hierfür betreibt Laube einen hohen Aufwand vertritt jedoch letztlich eine nicht nur weithin bekannte, sondern eine eher überkommene These; die Fokussierung auf eine frühneuzeitliche Dingwelt bestätigt das herkömmliche Narrativ einer "wissenschaftlichen Revolution" um 1600, die sich über Autopsie und Experiment von der Buchautorität der Vormoderne zu einer empirisch gestützten Wissenschaft gewandelt haben soll. Dass diese These seit nun etwa zwanzig Jahren kontrovers diskutiert wird, spiegelt sich bei Laube nicht, so dass sich ein hierfür grundlegender Titel wie etwa Steven Shapins "social history of truth" von 1994 in der Bibliographie bezeichnenderweise nicht findet.
Kapitel 5 und 6 widmen sich dem Verhältnis gesammelter Dingwelten und protestantischer Theologie am Beispiel der Franckeschen Kunst- und Wunderkammer in Halle bzw. der Kunstsammlung der Berliner Universität und des Theologen Ferdinand Piper als deren Begründer. Laube breitet interessante Materialien zur Geschichte dieser wichtigen Sammlungen aus und analysiert zahlreiche Einzelaspekte. In einem Abschnitt zu den Sammlungsschränken der Kunst- und Wunderkammer in Halle etwa gelingt ihm eine überzeugende Darstellung kultureller Praktiken des ordnenden Verwahrens, des Zeigens und Verbergens sowie der deutenden Vervielfältigung durch eine gelehrte Besichtigung. Dieser detailreichen Rekonstruktion des programmatischen Anspruchs ihres Begründers würde man wünschen, dass Laube ihr auch die Sicht zeitgenössischer Rezipienten an die Seite gestellt hätte. Denn ein Blick auf Akteure und Besucher der Sammlung hätte die Darstellung wesentlich bereichert; er könnte nicht nur aufzeigen, welche Wahrnehmungen das Vorhaben provozierte, sondern auch welche Alternativen zeitgenössische Wissensdiskurse boten.
Die Studie von Stefan Laube ist ein gewichtiges Buch, das eine Fülle interessanter Materialien enthält. Der Zuschnitt einer diachron und transepochal angelegten Untersuchung der "Anschauungspotentiale von Dingen in der christlichen Tradition" entspricht dem Trend kulturwissenschaftlich inspirierter Zugänge, in denen die Ordnungsfunktion von Epochen zusehends in Frage gestellt wird. Die Übertragung der interpretierenden Rolle an die Objekte selbst, also an den Untersuchungsgegenstand, ist aber nicht ohne Risiko, bzw. sie bedarf - denn eine historische Untersuchung bleibt es, auch wenn der Verfasser sie lieber als bild- und / oder dingwissenschaftlich bezeichnet - der Rückkoppelung an ihre jeweiligen zeitgenössischen und epochalen Kontexte der Produktion und Rezeption. In der Rekonstruktion seiner Beispiele erfüllt Laube diesen Anspruch durchaus, in der Synthese seiner Zwischenergebnisse und einem daraus folgenden historiographischen Narrativ hingegen nicht. Zu sehr verharrt er dafür bei herkömmlichen Deutungen, die den Lauf der Geschichte wenn nicht als linear, so doch mit einem Ziel vor Augen beschrieben haben; eine hier nötige wissenschaftsreflexive Analyse historischer Dingwelten bleibt aus. In diesem Sinn ist es bezeichnend, dass Laube sich zwischen den zwei Titelvarianten "Zwischen Reliquie und Ding" und "Von der Reliquie zum Ding" (XII) für letztere entschieden hat und damit historischen Verläufen von Beginn an eine Richtung zuweist. Für die weitere Forschung ist die Studie dennoch wertvoll, weil sie darauf hinweist, dass sich im Blick auf Dinge neue Analysemöglichkeiten kultureller Praktiken und Theorien in historischer Perspektive öffnen.
Lucas Burkart