Rezension über:

Ute Hasenöhrl: Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945-1980 (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 632 S., 28 s/w-Abb., 11 Tabellen, ISBN 978-3-525-31707-5, EUR 59,95
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Rezension von:
Silke Mende
Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Silke Mende: Rezension von: Ute Hasenöhrl: Zivilgesellschaft und Protest. Eine Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung in Bayern 1945-1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/02/20624.html


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Ute Hasenöhrl: Zivilgesellschaft und Protest

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Spätestens seit der "Energiewende" und dem dadurch nochmals befeuerten Boom der Windkraft liest man regelmäßig über Kontroversen zwischen Umwelt- und Naturschützern. Während die einen Windkraftanlagen als unverzichtbaren Bestandteil einer umweltfreundlichen Stromerzeugung "nach Fukushima" preisen, kritisieren sie die anderen als Verschandelung der Landschaft. Solcherlei Diskussionen sind gegenwärtig zwar besonders häufig, aber keineswegs neu. Vor allem an der Atomkraft schieden sich in der bundesdeutschen Umweltbewegung zunächst in ähnlicher Weise die Geister. Denn während an der Wende zu den 1970er Jahren eine breite Protestbewegung gegen die zivile Nutzung der Kernenergie entstand, bewertete sie manch traditioneller Naturschützer durchaus positiv, galt sie vielen doch als "Allheilmittel gegen die Umweltverschmutzung und Landschaftszerstörung, die von anderen Energieträgern verursacht wurden" (232).

Was im Selbstverständnis und in den Geschichtsbildern der heutigen Protestbewegungen häufig ausgeblendet wird, arbeitet Ute Hasenöhrl in ihrer 2008 entstandenen Dissertation minutiös auf. Ihre Studie liefert eine umfassende Geschichte der bayerischen Naturschutz- und Umweltbewegung in den Jahren 1945 bis 1980. Im Mittelpunkt stehen mit Tourismus, Wasser- und Atomkraft zum einen die drei am intensivsten umkämpften Konfliktfelder, zum anderen die zentralen Akteure des bayerischen Natur- und Umweltschutzes. Der Leser erfährt viel über bisher vernachlässigte Gruppen und Protagonisten. Dazu gehören beispielsweise der einflussreiche Naturschutzbeauftragte des Freistaates, Otto Kraus, der dieses Amt von 1949 bis 1967 bekleidete, ebenso wie die aus der Arbeiterbewegung stammenden "Naturfreunde", denen in der öffentlichen Wahrnehmung wie in der Umweltgeschichte meist nur eine Nebenrolle beschieden wird.

Das Buch gliedert sich in sechs Abschnitte. Der Einleitung (I) folgt ein instruktiver Abriss zur Geschichte des bayerischen Naturschutzes vor 1945, in dem die sich wandelnden strukturgeschichtlichen Bedingungen von Natur und Umwelt seit der Industrialisierung beleuchtet und die Rolle der Naturschutzbewegung in Kaiserreich, Weimarer Republik und 'Drittem Reich' nachgezeichnet werden (II). Den größten Raum nehmen die beiden folgenden Kapitel ein, die sich mit den zentralen Akteuren und Konfliktfeldern vor (III) beziehungsweise nach 1970 beschäftigen (IV). Die Arbeit schließt mit zusammenfassenden methodisch-theoretischen Überlegungen zu "Zivilgesellschaft" und "Gemeinwohl" (V) sowie einem allgemeinen Fazit (VI). Der Anhang enthält informative Übersichten und Tabellen.

Die Arbeit ist am Berliner Wissenschaftszentrum entstanden und war dort in der Arbeitsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa" angesiedelt. Dementsprechend arbeitet sich die Autorin an den Begriffen "Zivilgesellschaft" und "Gemeinwohl" ab. Mit einer konstruktiven Skepsis gegenüber solch mitunter "ornamentalen Schlagwörtern" (503) und ohne ihre Darstellung sklavisch daran auszurichten, formuliert Hasenöhrl ein überzeugendes Plädoyer für ein "erweitertes Verständnis zivilgesellschaftlichen Handelns [...], das auch Aktivitäten einschließt, die jenseits der öffentlichen Arena stattfinden" (504). Damit wendet sie sich gegen ein allzu emphatisches Verständnis von Zivilgesellschaft, wie es vor allem in der älteren Protestforschung anzutreffen ist. Stattdessen argumentiert sie dafür, unter diesem Begriff auch jene Akteure zu subsumieren, die "ihre Forderungen eher über interne Kontakte oder durch die Einbindung in behördliche Verfahren verwirklichen wollen, wie es lange Zeit für den deutschen Naturschutz typisch war" (504).

Im Mittelpunkt steht nicht die Analyse von Diskursen und Ideen, sondern die konkrete politische und gesellschaftliche Praxis der Akteure. Dabei orientiert sich die Autorin unter anderem am Konzept "politischer Verhaltensstil", das auch Jens Ivo Engels für seine Geschichte der bundesdeutschen Natur- und Umweltbewegung als zentrales Instrumentarium gewählt hat. [1] Obwohl Hasenöhrl stärker am sozialgeschichtlichen Setting als an Habitus-Fragen interessiert ist, kann sie Engels Befunde in vielen Fällen am bayerischen Beispiel untermauern. So zeichnete sich auch der bayerische Naturschutz in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine starke Staatsorientierung aus, verfolgte meist eine konsensorientierte Strategie und setzte auf Lobbyarbeit wie persönliche Kontakte. Indem die Autorin die Übergänge von den 1960er zu den 1970er Jahren nachzeichnet, unterstreicht sie außerdem, dass sich der Naturschutz in diesem Zeitraum "von einer primär konservativen Bewegung zu einem Anliegen gerade auch der postmateriell orientierten Linken" wandelte (489) und die Distanz zwischen Staat und Zivilgesellschaft in den 1970er Jahren zunahm.

Doch Ute Hasenöhrl akzentuiert am Beispiel des Freistaats nicht "nur" die großen Linien der bundesdeutschen Umweltgeschichte, sondern fügt dem Bild zahlreiche bisher nicht oder nur kaum beleuchtete Aspekte hinzu. Vor allem jedoch arbeitet sie regionale Spezifika heraus. Dass bei manchen Themen ein regelrechtes Nord-Süd-Gefälle herrschte, illustriert der unterschiedliche Umgang mit der Kernkraft. Abgeschreckt durch die konfrontativen und mitunter gewalttätigen Auseinandersetzungen in Brokdorf, Grohnde oder Kalkar plädierten die bayerischen Anti-AKW-Bewegten entschieden für ein legales Vorgehen, setzten große Hoffnungen auf den Rechtsweg und versuchten, Eskalationen zu vermeiden. Das sollte sich erst Mitte der 1980er Jahre im Konflikt um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf ändern. Anders als in Norddeutschland, wo die einheimische Protestbewegung um regelmäßig aus dem gesamten Bundesgebiet anreisende und vor allem aus der linken Szene stammende Aktivisten ergänzt wurde, waren die bayerischen Kernkraftgegner größtenteils regional verankert und kamen aus dem "(bildungs-)bürgerlichen Milieu der städtischen Mittelschichten" (458).

Ute Hasenöhrls Studie besticht durch eine umsichtige Argumentation sowie stupende Sachkenntnis, die sie auch auf den entlegensten Seitenpfaden ihres Themas unter Beweis stellt. Darüber hinaus wertet sie eine Fülle von Fallbeispielen aus und argumentiert auf einer überaus umfangreichen Materialbasis. Neben Staats- und Bewegungsarchiven stützt sie sich auch auf private Sammlungen und Zeitzeugengespräche. Doch diese beeindruckende Kenntnisfülle und große Detailtreue birgt mitunter auch Nachteile. Die Absicht, "dem immer mehr an Farbe und Detailschärfe gewinnenden umweltgeschichtlichen Mosaik einige weitere empirische Steinchen" (12) hinzuzufügen, führt manchmal dazu, dass der Leser den roten Faden aus dem Blick verliert. So fragt man sich etwa beim Teilkapitel "Naturschutz und Tourismus" vor 1970, ob eine solch ausführliche Schilderung aller vier untersuchten Konflikte um den Bau von Bergbahnen notwendig ist. Dem Lesefluss abträglich ist zudem die mitunter große Häufung von Abkürzungen. Schließlich wurde recht viel Text in die Fußnoten ausgelagert, in denen sich zuweilen aussagekräftige "Geschichten" "verstecken", die manchmal vielleicht eine prominentere Schilderung verdient gehabt hätten. Dass beispielsweise Bernhard Grzimek seine Briefe mit dem Zusatz versah "Ceterum censeo progenium hominum esse deminuendam" ("Im Übrigen bin ich der Meinung, daß das Bevölkerungswachstum verringert werden muß.") (276, Anm. 84), hat mehr als nur anekdotischen Charakter, sondern verrät auch einiges über Ordnungsvorstellungen und Mentalitäten konservativ geprägter Umweltschützer.

Doch sollen diese Kritikpunkte den Wert der Studie keinesfalls schmälern. Stattdessen bleibt festzuhalten: Ute Hasenöhrl hat mit ihrer Arbeit zur bayerischen Natur- und Umweltschutzbewegung eine umfassende Regionalstudie zur Umweltgeschichte Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst und damit einen substantiellen Beitrag zur bundesdeutschen Naturschutz-, Umwelt- und Protestgeschichte vorgelegt.


Anmerkung:

[1] Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950-1980, Paderborn u. a. 2006.

Silke Mende