Rezension über:

Marcus Gräser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880-1940 (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 476 S., ISBN 978-3-525-36846-6, EUR 59,90
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Rezension von:
Sven Steinacker
Bergische Universität Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Sven Steinacker: Rezension von: Marcus Gräser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880-1940, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16332.html


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Marcus Gräser: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat

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Wie die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, weisen die Sozialsysteme in den USA und in Deutschland nicht viele Gemeinsamkeiten auf. Auf der einen Seite der Prototyp des "liberalen" Wohlfahrtsregimes [1] mit vorrangig marktförmig organisierten Austauschbeziehungen und einer nur geringen öffentlichen Eingriffstiefe; auf der anderen Seite die beispielgebende Blaupause für das "konservativ-korporatistische" Wohlfahrtsregime mit einer komplexen institutionellen Matrix und einem umfassenden öffentlichen Regulierungs- und Gestaltungsanspruch. Ein historisch angelegter Vergleich der beiden Systeme könnte also, wie Markus Gräser in seiner Studie zur "Bürgerliche[n] Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880-1940" eingangs zu Recht ausführt, in Gefahr laufen, die bekannten Ergebnisse lediglich zu reproduzieren und den Staaten erneut die "die extremen Positionen des Pioniers und des Nachzüglers" (13) zuzuweisen.

Wer dies erwartet, sieht sich nach der Lektüre der Frankfurter Habilitationsschrift allerdings in mehrfacher Hinsicht eines Besseren belehrt. Zum einen geht es Gräser ohnehin weniger darum, bloß die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Modelle darzustellen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach den Ursachen und Folgen des jeweils eingeschlagenen Weges in beiden Staaten (17). Zum anderen zeigt er anschaulich, dass das einfache Bild vom wegweisenden Original im alten Europa und der verspäteten Kopie auf der anderen Seite des Atlantiks ins Leere läuft, zumindest aber unterkomplex ist. Auch durch den methodischen Zuschnitt seiner Studie verlässt Gräser das Fahrwasser bekannter Erzählungen und nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand durchaus innovativ.

Institutionell zielt er nicht auf das Kernstück des Wohlfahrtsstaates, die Sozialversicherung, sondern konzentriert sich vor allem auf die kommunale Armenfürsorge, deren Entstehung er als "Ur-Szene" (26) des Welfare State Building versteht - wenn sich auch, wie der Ländervergleich zeigt, die Rolle des Staates, die handlungsleitenden Vorstellungen und die praktizierten Methoden deutlich unterschieden. Damit wird der Fokus zudem auf die kommunale Ebene und - insbesondere im deutschen Beispiel - die Stadt als administrativen Akteur gelegt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Städte Frankfurt am Main und Chicago, die - ungeachtet aller sonstigen Unterschiede - als frühe Zentren privater Armenpflege und Brennpunkte wohlfahrtspolitischer Diskurse gelten können. Als zentrale Akteure seiner Studie nimmt Gräser schließlich das städtische Bürgertum und dessen wohlfahrts- und sozialpolitisches Engagement in den Blick. Die staatsfrei und selbstorganisiert in den Kommunen betriebene Wohlfahrtspflege subsumiert er unter den Begriff "Wohlfahrtsgesellschaft" (13), um damit den Unterschied zum öffentlich organisierten Sektor des "Wohlfahrtsstaates" bzw. der "Wohlfahrtsstadt" zu markieren.

Die Studie teilt sich in drei große Kapitel. In einem ersten Schritt wird die Entstehung der Bürgerlichen Sozialreform untersucht, wobei diese nicht nur als Set sozialpolitischer Einstellungs- und Handlungsweisen, sondern als Modus zur Konstitution des bürgerlichen Subjekts verstanden wird. Sie diente als Abgrenzungsbewegung sowohl gegenüber den Armen als auch gegenüber anderen bürgerlichen Gruppen. Der zweite Teil fragt nach der konkreten Verortung und Ausgestaltung der privat-bürgerlichen Fürsorge im kommunalen Gefüge, womit neben dem Verhältnis von "Wohlfahrtsgesellschaft" und "Wohlfahrtsstadt" vor allem die Frage nach Reichweite und Grenzen der (sozial-)politischen Einflussmöglichkeiten im Mittelpunkt steht. Im dritten Abschnitt wird schließlich der Blick auf das Beziehungsgeflecht von lokaler und überlokaler Ebene gerichtet. Am Beispiel der Tuberkulosefürsorge (313-323) schildert er instruktiv, wie kommunale Wohlfahrt und staatliche Kranken- und Invalidenversicherung in Deutschland dynamisch ineinandergriffen und ein effizientes System der Tuberkulosebekämpfung bildeten, während ein solches Instrumentarium in den USA zwar als zweckmäßig erachtet wurde, aber letztlich nicht umzusetzen war.

Der Ertrag der Studie ist beachtlich und lässt sich in allen Details in einer Rezension kaum angemessen diskutieren. Genannt werden sollen an dieser Stelle nur zwei Punkte, die das Bild vom verspäteten und 'schwachen' amerikanischen Wohlfahrtsstaat ein Stück weit revidieren und auch für die Geschichte der deutschen Wohlfahrtspflege besonders interessant sind.

Mit Blick auf die Professionalisierung Sozialer Arbeit kann nämlich von einer Rückständigkeit der amerikanischen Armenpflege keineswegs die Rede sein. Im Gegenteil: In der Gegenüberstellung zeigt sich eher ein deutliches Professionalisierungsdefizit des deutschen Fürsorgesystems. Nach Gräser ist dafür vor allem die frühe Inkorporation der privat organisierten Fürsorge in den kommunalen Wohlfahrtssektor verantwortlich, die anders als die Arbeit der amerikanischen Charity Organizations und Settlements nur wenig Raum für reziproke und 'demokratische' Beziehungen zwischen Klientel und Wohlfahrtspersonal ließ. Mit der zunehmenden Bürokratisierung wurde das ursprüngliche Motiv der persönlichen Hilfe in eine hierarchisch-paternalistische Beziehung transformiert, während man sich im (zumindest bis zum New Deal) weitgehend staatsfreien Wohlfahrtssektor der US-amerikanischen Städte stärker auf die fachliche Entwicklung der Fürsorge konzentrieren konnte bzw. beschränken musste. Die erfolgreiche Verberuflichung Sozialer Arbeit in den USA erscheint in dieser Perspektive als Ausgleich für den ausgebliebenen wohlfahrtspolitischen Gestaltungseinfluss, den die Bürgerliche Sozialreform in Deutschland zumindest bis in die Weimarer Republik wahrnehmen konnte.

Nicht zuletzt dieser De-Autonomisierung der Bürgerlichen Sozialreform ist es Gräser zu Folge auch geschuldet, dass Frauen zwar in der Ausbildung und im (ehrenamtlichen) Außendienst, nicht aber an den administrativen Schalthebeln des deutschen Wohlfahrtssystems Fuß fassen konnten und so von wesentlichen Machtpositionen ausgeschlossen blieben. Umgekehrt war es gerade die exklusive Stellung der privaten Fürsorge in den amerikanischen Städten in Verbindung mit einem schwach ausgeprägten öffentlichen Sektor, der es Frauen wie Jane Adams, Mary Richmond oder Florence Kelley ermöglichte, an einflussreiche Positionen zu gelangen.

Sicher muss man nicht allen Einschätzungen Gräsers folgen, sondern wird im Detail zu anderen Urteilen kommen können. Angesichts der umfassenden Perspektive der Untersuchung und der Vielzahl der angesprochenen Themen würde es auch verwundern, wenn es anders wäre. Wer sich aber von der zum Teil sperrigen Darstellung - Gräser wechselt sogar in einzelnen Sätzen mehrfach zwischen Deutsch und Englisch - nicht abschrecken lässt, wird mit der Arbeit zweifellos zu wertvollen Einsichten kommen. Insgesamt liegt mit der fundierten Studie eine ausgezeichnete Arbeit vor, an der die historische Wohlfahrtsstaats- und Fürsorgeforschung künftig nicht vorbei kommen wird.


Anmerkung:

[1] Die prominente Typologisierung von Wohlfahrtsstaaten in "liberale", "konservative" und "sozialdemokratische" Regime findet sich bei Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. Einen aktuellen historisch-systematischen Überblick bietet Franz-Xaver Kaufmann: Varianten des Wohlfahrtsstaates. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003.

Sven Steinacker