Rezension über:

Emidio Campi / Peter Opitz (eds.): Heinrich Bullinger. Life - Thought - Influence. Zurich, Aug. 25-29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504-1575) (= Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte; Bd. 24), Zürich: TVZ 2007, 2 Bde, XV + 1005 S., ISBN 978-3-290-17387-6, EUR 64,00
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Rezension von:
Judith Becker
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Judith Becker: Rezension von: Emidio Campi / Peter Opitz (eds.): Heinrich Bullinger. Life - Thought - Influence. Zurich, Aug. 25-29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504-1575), Zürich: TVZ 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/10364.html


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Emidio Campi / Peter Opitz (eds.): Heinrich Bullinger

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Der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger wurde lange nur als "der Nachfolger" Zwinglis gesehen und in der reformationsgeschichtlichen Forschung eher vernachlässigt. Umso erfreulicher ist das Erscheinen der großen zweibändigen Sammlung mit fünfzig Aufsätzen, die Leben, Lehre und Wirken Bullingers aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die Beiträge beruhen auf Vorträgen bei dem Zürcher Kongress anlässlich der Jahresfeier des 500. Geburtstags Bullingers im Jahr 2004, wo längere Hauptvorträge und Kurzreferate einander abwechselten. Deswegen sind einige der Beiträge ausführlicher und tiefgehender als andere. Sehr grundlegende Einführungsartikel stehen neben Einzelanalysen, die neuere Thesen der Bullingerforschung vortragen. Damit vermittelt der Tagungsband einen guten Einblick in die neuere Forschung zu Heinrich Bullinger, bildet den Forschungsstand ab und gibt Impulse für die weitere Beschäftigung mit ihm und seiner Theologie.

Der Band wird eingeleitet durch einen Forschungsüberblick von Emidio Campi, in dem der Autor vor allem auf den Fortschritt in der Bullingerforschung seit den Feierlichkeiten zu Bullingers 450. Todestag im Jahr 1975 eingeht und weiterhin bestehende Forschungslücken benennt. Ergänzt wird der Überblick durch eine von Luca Baschera und Christian Moser erstellte Bibliographie der seit 1975 erschienenen Literatur zu Bullinger. Da es unmöglich ist, im Rahmen dieser Rezension auf alle Beiträge des Bandes einzugehen, sollen im Folgenden nur die großen Linien der Forschung aufgezeigt werden.

Der Band ist - seinem Titel entsprechend - in drei Rubriken gegliedert: Life, Thought, Influence. Durch diesen weitgefassten Ansatz kann ein umfassendes Bild Bullingers gezeichnet werden. Allerdings werden einige Beiträge zu ähnlichen Themen durch die Zuordnung zu den Rubriken auseinander gerissen. So findet sich unter "Life" ein Aufsatz von Evelyn Ingold über Veränderungen von Eheordnung, -moral und -verständnis zu Beginn des 16. Jahrhunderts, expliziert an Bullingers eigener Familiengeschichte. Dem wird Bullingers Eheverständnis eingeschrieben. Fast vierhundert Seiten später beschreibt Carrie Euler unter der Rubrik "Thought" Bullingers Ehetheologie als erfolgreiche Vernetzung von Lehre und Moralität, Theorie und Praxis. Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen Ansätzen und Ergebnissen sind evident; eine größere räumliche Nähe hätte den Vergleich noch offensichtlicher gemacht. In noch stärkerem Maße gilt dies für die Beiträge von Christine Christ-von Wedel zu Erasmus' Einfluss auf Bullinger und von Irena Backus zu Bullinger und dem Humanismus. Während Christ-von Wedel die These vertritt, dass Bullinger mit der Methode des Erasmus in der Exegese automatisch auch dogmatische Entscheidungen übernommen habe - wenn auch nicht alle -, betont Backus, Bullinger habe bewusst gewählt, welche Teile der Lehre der Humanisten er aufgenommen habe. Bullingers Beziehung zu bzw. sein Einfluss auf den Umgang mit Täufern werden von Urs B. Leu im ersten und von Hanspeter Jecker im dritten Teil thematisiert.

Ein Thema, das sich durch alle drei Sektionen zieht, ist die Bundestheologie. Sie wird gemeinhin als Kern von Bullingers theologischem Denken angesehen, und auch ein Großteil der vorliegenden Aufsätze verweist als Begründung für bestimmte Lebenshaltungen und theologische Einsichten des Reformators wie für seinen Einfluss auf die reformierte Tradition auf die Bundestheologie. Dem stellt Christoph Strohm einen Beitrag an die Seite, der Bullingers Verständnis der Rechtfertigungslehre beschreibt und ihre Bedeutung für die Theologie des Reformators betont. Hier wird auch die Nähe zu Luthers und Melanchthons Ansätzen herausgearbeitet. Direkt im Anschluss problematisiert Willem van 't Spijker die Zentralstellung der Bundestheologie und zeigt gleichzeitig ihre Bedeutung auf. Eine Analyse von Bullingers "De testamento" legt Aurelio A. García vor. Nochmals steht die Bundestheologie dann in der Rubrik "Influence" im Zentrum, dort direkt in mehreren Beiträgen und insbesondere in zweien, die Bullingers Lehre für die Gegenwart fruchtbar zu machen suchen (Ruedi Reich, Lukas Vischer).

Ein weiteres Thema, das den Band durchzieht, ist Bullingers Historiographie bzw. sein Geschichtsverständnis. Dies gilt nicht nur für die Beiträge, die sich explizit mit Bullingers Geschichtsbild beschäftigen (Hans Ulrich Bächtold, Silke-Petra Bergjan, Ilse Haari-Oberg, Christian Moser, Daniel Bolliger), sondern auch für eine Reihe anderer Aufsätze. So erklärt Bullinger laut Paul Widmer die Erfolge der Türken vor Wien mit dem Verfall der Kirche und bettet sie in seine Geschichtsauffassung ein. Auch die weltgeschichtliche Bedeutung des Humanismus hebt Bullinger hervor (Irena Backus). Christian Moser arbeitet die auch theologische Bedeutung der Universalgeschichtsschreibung für Bullinger heraus.

Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Bullingers Ausübung des prophetischen Amtes. Differenziert stellt André Holenstein die neuere Forschung zu Bullingers Umgang mit der Obrigkeit dar. Prophetische "Fürträge" waren sein wichtigstes Mittel, in die "Tagespolitik" einzugreifen. Bullingers Lehre vom prophetischen Amt wird von Peter Opitz beschrieben. Seine Ausübung des Amtes in Bezug auf eine fremde Obrigkeit zeigt Torrence Kirby auf. Bullinger legte der englischen Obrigkeit seine Sicht ihrer Aufgaben in schriftlichen "Fürträgen" nahe.

Auch Bullingers seelsorgerlicher Impetus wird immer wieder betont, nicht nur in seiner Korrespondenz (Andreas Mühling), sondern auch z.B. in seiner Bibelauslegung (Jean-Pierre Delville zu Mt. 20,1-16). Viele Beiträge suchen jedoch die Bedeutung des Theologen Heinrich Bullinger zu profilieren, während die des Praktikers schon lange etabliert scheint.

Als Wirkungsfelder Bullingers stehen zwei Regionen im Vordergrund: Osteuropa und England. Z.B. hebt Jan-Andrea Bernhard hervor, dass die Confessio Helvetica Posterior in Siebenbürgen bis zur Wende zum 19. Jahrhundert zur Abwehr der Aufklärung genutzt und so die Aufklärung dort wesentlich länger hinausgezögert worden sei als in anderen europäischen Ländern. Diarmaid McCulloch gibt einen Einblick in die sehr vielfältigen Beziehungen Bullingers zu England und zeigt, wie der Zürcher Antistes zeitlebens versuchte, Einfluss auf England zu gewinnen, um so seiner Vision einer gesamteuropäischen Reformation näher zu kommen. Zur Regierungszeit Elisabeths I. konnte er die größten Erfolge verzeichnen; Schottland hatte er hingegen wenig im Blick. Margaret Aston untersucht den Einfluss von Bullingers Ablehnung der Bilderverehrung ebenfalls am Beispiel Englands.

Daneben wird aber auch auf Länder außerhalb Europas (Rudolph M. Britz), reformierte Territorien im Reich (Albrecht Thiel, Lyle D. Bierma) und selbstverständlich die Schweiz selbst eingegangen (Daniel Bolliger, Christine Stuber).

Zusammenarbeit mit und Abgrenzung von anderen Reformatoren innerhalb des reformierten Protestantismus wird in vielen Beiträgen angesprochen, gesondert thematisiert wird insbesondere der Vergleich mit Zwingli (W. Peter Stephens). Insgesamt herrscht Einigkeit, dass Bullinger selbst sich als "der Nachfolger" sah und versuchte, Zwinglis Erbe zu bewahren und zu verteidigen. Dass er dies dazu transformieren und neuen Entwicklungen anpassen musste und sich dessen auch bewusst war, betont Peter Opitz. Bullingers Beziehung zum Luthertum, genauer den Württemberger Lutheranern als seinen wichtigsten Kontakt- und Abgrenzungspersonen, behandelt Irene Dingel.

In der Fülle der Beiträge, von denen hier nur ein Ausschnitt dargestellt werden konnte, wird deutlich, wie sehr Heinrich Bullinger ein eigenständiger Theologe war. Er lässt sich nicht eindimensional einer Traditionslinie oder einem theologischen Lager zuordnen, sondern hat eine eigene Theologie entwickelt, die sich durch die erwähnte Betonung des Bundes, aber auch durch den beständigen Bezug auf die Praxis, sei es im Umgang mit Obrigkeiten, sei es in der Schulbildung oder der Seelsorge, auszeichnete. Seine Bedeutung für die reformierten Kirchen war groß, seine Theologie ist noch recht wenig untersucht, sodass auf weitere Forschungen zu Bullinger in den nächsten Jahren zu hoffen ist.

Judith Becker