Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München: C.H.Beck 2008, 332 S., ISBN 978-3-406-57376-7, EUR 14,95
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Der Nationalismus war, wie Norbert Elias treffend bemerkt hat, "eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts". [1] Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hält die Anziehungskraft nationalistischer Deutungsmuster weiter an. Seit dem Ende des Kalten Krieges lässt sich weltweit eine Renaissance des Nationalismus beobachten, die ihren Ausdruck im Ausbruch von Nationalitätenkonflikten, dem Erstarken nationalistischer Parteien und Bewegungen sowie in vielfältigen politischen und intellektuellen Bemühungen um eine (Re-)Konstruktion nationaler Identität im Zeichen multikultureller Verunsicherung findet. Welche Rolle Nation und Nationalstaat in Zukunft in Politik und Lebenswelt spielen werden, ist jedoch unklar. Einerseits bestimmen sie weiterhin in hohem Maße das politische Denken und Handeln der Menschen, andererseits haben sie im Zuge fortschreitender Globalisierung und supranationaler Integration zahlreiche ihrer traditionellen Funktionen verloren. Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung in Europa, wo der Nationalismus einst entstanden war und von wo aus er seinen Siegeszug um die Welt begann.
Die Frage nach der Zukunft von Nation und Nationalstaat treibt auch Dieter Langewiesche um. Sie bildet den Fluchtpunkt des hier rezensierten Sammelbandes, der 14 Aufsätze des Tübinger Historikers enthält (davon drei bislang unveröffentlichte und einen weiteren, der erstmals in deutscher Sprache vorliegt). Langewiesche ist ein ausgewiesener Kenner der deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, dessen Arbeiten der Nationalismusforschung wichtige Impulse gegeben haben. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrüßen, dass seine neueren Aufsätze zu diesem Thema nunmehr in einem Sammelband vorliegen, der an eine frühere Aufsatzsammlung aus dem Jahr 2000 anknüpft und diese fortführt. [2] Das Leitmotiv, das die thematisch vielseitigen Beiträge miteinander verbindet, ist eine klare Absage an jedwede Form von nationaler Teleologie. Langewiesche analysiert die Entstehung von Nationalstaaten nicht als das Ziel der Geschichte oder als vermeintliche "Normalität", die abweichende Entwicklungen als historische Irrwege abstempelt. Sein Interesse gilt vielmehr auch den historischen Versuchen, Alternativen zum Nationalstaat theoretisch zu begründen und politisch zu verwirklichen. Aus dieser Perspektive erlangen insbesondere die Kleinstaaten und multinationalen Reiche des 19. Jahrhunderts eine neue Bedeutung. Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes stellen vergleichende Studien zur Staatszerstörung und Staatsbildung dar, die nach den Funktionen der Nation als politischer und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellung sowie den Ursachen für ihre außerordentliche Anziehungskraft und Wirkungsmacht fragen.
Den Auftakt bildet ein Aufsatz, in dem sich Langewiesche kritisch mit dem konstruktivistischen Paradigma der neueren Nationalismusforschung auseinandersetzt. Diese versteht Nationen nicht mehr als objektive oder gar primordiale Entitäten, sondern als variable Deutungsmuster, deren Inhalt und Definition dem historischen Wandel unterliegen. Seinen prägnantesten Ausdruck hat dieser Ansatz in der von Benedict Anderson geprägten Formel von Nationen als "imagined communities" gefunden hat, die mittlerweile zu einem Topos der Forschung geworden ist. Leider ist die deutsche Übersetzung "Erfindung der Nation", ungenau und irreführend, was ihrer Popularität allerdings nicht geschadet hat. Zu Recht kritisiert Langewiesche die inflationäre und häufig unreflektierte Rede von der "Erfindung der Nation" und betont unter Berufung auf Ernest Renan und Elias Canetti, dass Nationen niemals völlige Neuschöpfungen seien, sondern stets auf Konstruktionselemente zurückgreifen, die historisch vorgefunden werden. Dies ist zweifelsohne richtig, jedoch kein Argument gegen den konstruktivistischen Ansatz. Denn entgegen einem nach wie vor verbreiteten und auch von Langewiesche kolportierten Missverständnis behauptet dieser nicht, dass die Nationen "ex nihilo" erfunden werden. Im Gegenteil: Die Konstruktion der Nation knüpft in aller Regel an bestehende historische, sprachliche, religiöse und politische Traditionen an und versucht, diese synkretistisch in das nationalistische Weltbild zu integrieren. Die außerordentliche Wirksamkeit und Verbreitung nationalistischer Deutungsmuster beruht gerade auf dieser synkretistischen Flexibilität.
Zutreffend weist Langewiesche jedoch darauf hin, dass die Einsicht in den Konstruktcharakter der Nation kein Privileg der neueren Forschung ist, sondern bereits von Theoretikern wie den Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner erkannt worden war. Die prinzipielle Erkenntnis, dass die Nation ein von Menschen geschaffenes Artefakt ist, das unter bestimmten Bedingungen entsteht und folglich auch wieder vergehen kann, schärft seinen Blick für die historischen Alternativen zum Nationalstaat. Im europäischen Kleinstaat etwa sieht Langewiesche deshalb nicht nur ein historisches Auslauflaufmodell. Ausgehend vom frühneuzeitlichen Begriff des "zusammengesetzten Staates" ordnet er den Kleinstaat vielmehr in eine Entwicklungslinie, die schließlich zur Organisationsform der föderativen Nation führte. Kennzeichnend für die Föderativnation ist, dass sie nationale Einheit nicht in einem Zentralstaat sucht, sondern in einer - wie auch immer gestalteten - Verbindung von Einzelstaaten, bei der diese ein hohes Maß an Autonomie behalten. Indem Langewiesche die Transformation des Kleinstaates in föderative Vorstellungen von Nation und Nationalstaat herausarbeitet, verdeutlicht er, dass die historische Entwicklung nicht auf den zentralisierten nationalen Machtstaat als dem vermeintlichen Telos der Geschichte verengt werden darf und fördert so die Einsicht in "die Komplexität und Offenheit der Geschichte des 19. Jahrhunderts" (114).
Eine weitere Stärke Langewiesches ist, dass er seine Analyse der historischen Staatsbildungsprozesse mit der aktuellen Diskussion um die Zukunft des Nationalstaats in einem vereinten Europa verbindet. Ohne einer vordergründigen Aktualisierung Vorschub zu leisten, beschreibt er den Prozess der europäischen Integration als eine Entwicklung, "für die es kein Vorbild gibt, ein Experiment, das man eine der bedeutendsten Innovationen in der langen Geschichte von Staatsbildungen nennen darf" (181). Dabei gelingt es ihm, dem europäischen Integrationsprozess eine historische Tiefenschärfe zu verleihen, die "die Größe und die Radikalität des Neuen" ermessen lässt, "dessen Konturen in dem nationalpolitischen Laboratorium Europa zu erkennen sind" (193). Allein aus diesem Grund lohnt die Lektüre des Buches.
Anmerkungen:
[1] Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt 1992, 194.
[2] Vgl. Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.
Peter Walkenhorst