Stefanie Westphal: Der Wolfenbütteler Psalter Cod. Guelf. 81.17 Aug. 2°. Eine ornamentgeschichtliche Studie (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 19), Wiesbaden: Harrassowitz 2006, 259 S., ISBN 978-3-447-05473-7, EUR 98,00
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In den letzten Jahren beobachtet man besonders bei den Untersuchungen zur karolingischen Kunst vermehrt eine Rückkehr zu formgeschichtlichen Untersuchungen. Zu den Arbeiten von Katharina Pawelec 1990 [1] oder Götz Denzinger 2001 [2], um nur zwei Beispiele zu nennen, gesellt sich nun diese Kieler Dissertation von 2003, die aus einem Buchmalerei-Seminar von Ulrich Kuder erwuchs. Nun sind in Deutschland Dissertationen zu mittelalterlichen Themen, speziell der Buchmalerei, seit vielen Jahren rückläufig, was auch mit der schwindenden Präsenz des Themenbereichs in der universitären Lehre zusammenhängt. Und unter den wenigen noch entstehenden und publizierten Arbeiten fällt eine Tendenz zu akribisch kompilierten, kleinteiligen Ornamentstudien auf.
Gegenstand der Untersuchung ist eine Gruppe von sechs karolingischen Handschriften: der Wolfenbütteler Psalter in Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 81.17 Aug. 2o, der Ludwigspsalter in Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 58, das Evangeliar in Prag, Knihovna Metropolitni Kapituli B 66, das Evangeliar in Rom, Biblioteca Vaticana, Pal. lat. 47, die Moralia in Iob-Handschrift in Boulogne-sur-Mer, Bibliothèque municipale Ms. 71 sowie die Augustinus-Sammelhandschrift in Saint Omer, Bibliothèque municipale Ms. 254.
Nach einer knappen Einleitung zur Forschungsgeschichte umreißt die Autorin im zweiten Kapitel kurz den historischen Kontext und die Quellenlage. Im dritten beschreibt sie Aufbau und Ornamentik des Wolfenbütteler Psalters, im vierten die der verwandten Handschriften, bevor im fünften Kapitel alle Ornamentdetails einzeln aufgeführt werden. Die größere Struktur von Initialen, Rahmen- und Kanonbogen ist Gegenstand eines kurzen sechsten Kapitels, und im abschließenden siebten Kapitel sind die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst. Die Kapitelzählung setzt sich in dem umfangreichen Anhang zum Teil fort: Literatur und Quellen (Kapitel 8), Aufnahmetabellen aller sechs Handschriften (Kapitel 9), Katalog (Kapitel 10), Abkürzungen, Umzeichnungen und Abbildungen sowie zwei Register (Orts- und Personenregister sowie Verzeichnis der erwähnten Handschriften).
Das erklärte Ziel der Arbeit ist es, "die Zusammengehörigkeit der Handschriften durch stilistische Vergleiche zu verifizieren und durch eine genaue Ornamentanalyse die Regionen zu lokalisieren, aus denen ein künstlerischer Einfluss auf die Ausstattung der Handschriften erfolgte" (12). Erwartungsgemäß bestätigt das Ergebnis die ältere Forschung. In dem kurzen Literaturbericht wird die erste Einordnung zwei verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten zugewiesen: "1931 stellt Carl Nordenfalk [3] erstmalig die Handschriften als Gruppe zusammen und ordnet sie dem Kloster St. Bertin in St. Omer zu" (12) und "Die Lokalisierung der Handschriften in das nordfranzösische Kloster St. Bertin in St. Omer erfolgte das erste Mal durch Georg Swarzenski" (13). [4] Die ältere Forschung habe, so die Verfasserin, keine Begründung für die Zusammengehörigkeit der Handschriften gegeben, die lediglich als Vor- bzw. Untergruppe der frankosächsischen Schule gesehen worden waren. Ferner sei die Bestimmung einer der Handschriften für ein bestimmtes Kloster nicht zugleich ein Indiz, dass sie auch dort entstanden sei - für die Kritik an der kunsthistorischen Vorgehensweise zitiert Westphal die Ausführungen von Tineke Neymann und Sirka Heyne 1998. [5] Die Frage, ob die Formanalyse hier tatsächlich zusätzliche Erkenntnisse bieten kann, bleibt allerdings offen. Zwar können die Ausstattungselemente im "kontinentalen vorkarolingischen, [...] südenglischen oder [...] karolingischen Formenschatz" (119) verortet werden, und die detaillierten Vergleiche der Ornamentik mit anderen karolingischen Handschriften ermöglichen eine genauere Datierung der einzelnen Handschriften in die Zeit von ca. 830 bis 850. Für die Bekräftigung der Lokalisierung werden freilich immer noch die Klosterheiligen im Ludwigspsalter sowie die Nennung des Klosters in der Handschrift aus Saint Omer herangezogen, wenngleich "mit aller gebotenen Vorsicht" (120).
Zweifelsohne bedeutete die Arbeit einen gewaltigen Aufwand. Der Anhang, der zwar in die Kapitelnummerierung des Obertexts teilweise einbezogen ist, macht deutlich mehr als die Hälfte der Arbeit aus. Hinzu kommt, dass ein Großteil des Textes aus - etwas mühsam zu lesenden - rein deskriptiven Passagen sowie weiteren Tabellen besteht. Demgegenüber beschränkt sich die Forschungsgeschichte auf vier Seiten, der historische Kontext kommt noch auf gut sieben, und, von einigen Fußnoten abgesehen, vermisst der Leser völlig eine Erklärung der verwendeten Terminologie. Bei der Lektüre irritieren unverständliche Anführungszeichen (z. B. bei der völlig eindeutigen Wendung Incipit-Seite, 23), eigentümliche Formulierungen ("nicht in den Seitenrahmungen, sondern in den oben und unten befindlichen Abgrenzungen" (25) - gemeint sind senkrechte bzw. waagrechte Rahmenleisten) und Redundanzen (auf Seite 24 gleich zwei Mal die Beschreibung der Rahmen "aus je zwei parallel zueinander verlaufenden Goldbändern").
Mit dieser detailreichen, positivistisch-kompilatorisch angelegten Untersuchung der Ornamentik, vorgelegt als aufwendig ausgestattetes und mit teils sehr guten Abbildungen und Umzeichnungen illustriertes Buch, kann diese Handschriftengruppe als formgeschichtlich untersucht gelten - nicht weniger und nicht mehr.
Anmerkungen:
[1] Katharina Pawelec: Aachener Bronzegitter. Studien zur karolingischen Ornamentik um 800 (= Bonner Beiträge zur Kunstwissenschaft, 12) Köln 1990.
[2] Götz Denzinger: Die Handschriften der Hofschule Karls des Großen. Studien zu ihrer Ornamentik, Langwaden/Grevenbroich 2001.
[3] Carl Nordenfalk: Ein karolingisches Sakramentar aus Echternach und seine Vorläufer, in: Acta Archaeologica 2 (1931), 207-244.
[4] Georg Swarzenski: Die Regensburger Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, Leipzig 1901, 14.
[5] Tineke Neymann / Sirka Heyne: Überlegungen zu Theorie und Methodologie des interdisziplinären Studiums illuminierter Handschriften des Frühmittelalters: Zum Problem der Corpusbildung, in: Scriptorium 52 (1998), 233-254. - Im Wesentlichen werden vier Kritikpunkte am kunsthistorischen Vorgehen vorgetragen: 1. Skriptorium versus Lokalstil?; 2. gleicher Stil ist in benachbarten Skriptorien möglich; 3. falsche Rückschlüsse aus liturgischen Besonderheiten auf den Entstehungsort; 4. subjektive Qualitätsbeurteilung als Grundlage einer Chronologie.
Christine Jakobi-Mirwald